Der große Absturz

Text
Read preview
Mark as finished
How to read the book after purchase
Der große Absturz
Font:Smaller АаLarger Aa

Louis-Karl Picard-Sioui

Stories aus Kitchike

Der große Absturz

Aus dem Französischen (Québec)

von Sonja Finck und Frank Heibert

und mit einem Nachwort aus

der Übersetzerwerkstatt

Louis-Karl

Picard-Sioui

Der große Absturz

Stories aus Kitchike

Nous remercions la SODEC pour son soutien.

Wir bedanken uns bei der SODEC für die Förderung der Übersetzung.


Sonja Finck und Frank Heibert bedanken sich beim

Deutschen Übersetzerfonds für die Förderung

ihrer Arbeit.


Die Originalausgabe erschien unter dem Titel

»Chroniques de Kitchike. La grande débarque. Nouvelles«.

© 2017 Éditions Hannenorak, Louis-Karl Picard-Sioui,

WENDAKE (QUÉBEC)

Erste Auflage

© 2020 by Secession Verlag für Literatur, Zürich

Alle Rechte vorbehalten

Übersetzung: Sonja Finck und Frank Heibert

Lektorat: Alexander Weidel

Korrektorat: Peter Natter

www.secession-verlag.com

Typografische Gestaltung: Julie Heumüller, Berlin

ISBN 978-3-906910-94-9

eISBN 978-3-906910-95-6

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Jean-Paul Paul Jean-Pierre

Omen

Powwow

Währenddessen, in der Stadt nebenan

»Chez Alphonse Gaz Bar«

Der Käfig

Zombie

Der Mann, der die Sterne zum Tanzen bringt

Der große Absturz

Epilog(e)

Die Kraft der Namen. Nachwort aus der Übersetzerwerkstatt

Jedes Volk lässt Schnee fallen über die dunklen Flecken seiner Geschichte

Wird es frostig zwischen uns bedeckt beim Scheiden Schweigen unsre Lügen

Jean Sioui, Die Zukunft sieht rot

Das Lied von Kitchike

Ein Traumfänger am Rückspiegel, der schadet nicht,

wenn du in deiner Karre pennst, hackedicht,

und die Sterne zählst bis zum Morgenlicht.

Wer pleite ist, fällt hier nicht ins Gewicht,

nicht mal in die Tanke lässt man dich.

Egal, denn unser Chef ist Onkel Jack,

hält schützend seine Hand auch über dich:

»Zieh Federn an und Fransen, das ist Pflicht,

qualm den Minister ein, blas ihm Rauch ins Gesicht,

ein Schrittchen nach rechts, ein Schrittchen nach links,

mach ihm ne Show, dann stimmt der Cashflow,

So schnell, mein Joe, ist für dich noch nicht Schicht.«

Kapitel 1

Dong! Ding, dong!

AAAHHHHH. Saint-Gabriel-de-Kitchike weckt mich mit lauten Glockenschlägen. Mein Kopf will explodieren. Halb in der Matratze versackt, in ein feuchtes Bettlaken verheddert, pelziges Gefühl im Mund. Als hätt ich n Aschenbecher ausgeleckt. Zähne zusammenbeißen, krieg ich ein Auge auf? Na ja, halb. Über mir ein Ventilator, ein Bohrer in der Decke. Fuck, ich bin nicht zu Hause. So viel ist schon mal klar. Auge wieder zu, von dem Karussell an der Decke wird mir kotzübel. Pierre Wabush, du Idiot, du solltest wirklich weniger saufen. Das würde dir Matschbirne und Blackout ersparen.

Dong! Ding, dong! Dong!

Mann, wie soll man denn da wieder einpennen, wenn die Kirchenglocke so einen Radau macht.

Arm ausstrecken, vortasten, weiter, noch ein Stück, okay, Matratzenkante. Uff. Du bist hier das einzige Wrack. Brauchst deinen Mundgeruch mit keinem teilen. Aber wo bist du eigentlich gestrandet? Wüsste man schon gern.

Mal sehen, gestern Abend zurückspulen.

Frühlingsfeuerchen bei Jakob, gab ja was zu feiern: die Rückkehr des verlorenen Sohns. Unser Nationalheld Teandishru’ nimmt sich in letzter Zeit verdammt wichtig, aber was solls. Freund ist Freund, und an der Gitarrre isser echt gut. Deshalb war auch ein Haufen Neugierige und Groupies da, nicht nur die üblichen Verdächtigen, die sich immer die Kante geben wollen. Und weil wir massenhaft Paletten ins Feuer geschmissen haben.

Wer war noch mal alles da? Die Jungs aus der Werkstatt, klar. Der alte Noé, wie immer der Brüller mit seinen absurden Geschichten. Max Yaskawish, der Besitzer der Tanke, natürlich, der Tooktoo-Klan muss vertreten sein. Der junge Cœur-Brisé ist schließlich der Stolz des ganzen Reservats. Das muss man erst mal hinkriegen. Sogar der alte Roméo, unser Haus-und-Hof-Schamane, war da, um die Tournee seines Neffen zu feiern. Seltener Besuch, lässt sich sonst nicht blicken, wenn die Trauergestalten abends aus ihren Löchern gekrochen kommen.

Dong! Ding, dong! Dong!

Konzentrier dich, Wabush. Im Bett vom alten Méo liegst du jedenfalls nicht.

Also, wer von den Ladies war da? Jean-Pauls Schnalle, das weiß ich noch. Sie hat die ganze Zeit wie ein Schießhund aufgepasst, dass er nix trinkt. Unwahrscheinlich, dass die mich abgeschleppt hat. Die kleine Beth von der Basse-Côte, die voll einen auf Groupie gemacht hat. Die würde sich nie dazu herablassen, mit mir in die Kiste zu steigen. Dann noch die Mädels von der Tanke: Stéphanie, die Ex von Charles – von der lass ich schön die Finger –, Sophie Tooktoo und Lydia.

Lydia. Lydia Yaskawish, na klar.

»LYDIA?«

Dong! Ding, dong! Dong!

Schweigen im Walde.

Ich schrei noch lauter, um der Kirche Konkurrenz zu machen, aber ich bin hundertpro sicher, dass ich allein in der Bude bin.

Ich reib mir den Schlaf kiloweise aus den Augen und setz mich mit letzter Kraft auf. Die blutroten Wände, die Sperrholzmöbel, die Poster, Justin Timberlake neben Sitting Bull. Ich bin bei Lydia, so sicher wie das Amen in der Kirche. Schon wieder. Das wolltest du doch bleiben lassen, jetzt merks dir mal, Alter. Aber da denkste halt eher dran, wenn du verkatert flachliegst, als wenn du hacke bist. Und geil. Trotzdem, das wird ja langsam zur Gewohnheit.

Ich hieve meinen Hintern aus dem Bett und mache mich auf die Suche nach den Shorts und was ich sonst so anhatte. Schnitzeljagd war nie meine Stärke, und weil mein Kopf immer noch explodieren will, starte ich die Expedition erst mal aufm Klo.

Ach nee, sie hat mir ein Post-it an den Spiegelschrank geklebt.

Finger weg von den Blauen.

Oha! Da hat mich jemand durchschaut! Ich will mal nich so sein und geb mich mit den Weißen und den Roten zufrieden.

Sind ja schließlich keine Smarties.

Endlich hält die Kirche das Maul, also könnt ich auch auf die Pillen verzichten, aber sicher ist sicher.

Nach drei Runden durch die Wohnung hab ich alles eingesammelt. Die Shorts lagen im Bett, das T-Shirt im Flur, die Unterhose im Wohnzimmer.

Muss ganz schön abgegangen sein. Respekt, Wabush.

Ich heb einen Fuß, steig in die Unterhose, und als ich ihn wieder abstellen will, ist da was Kaltes, Metallisches, Bewegliches drunter, und ich knall voll auf den Hintern. Shit! Meine Kopfschmerzen schießen ins Steißbein.

Fuck, Lydia, jetzt schmeiß ich doch ein paar Blaue ein. Du hättest deinem kleinen Scarface ja sagen können, er soll seine Matchbox-Autos nicht überall rumfliegen lassen.

Ich rapple mich auf und halte dabei die Luft an, weil ich mir einrede, dass es dann weniger weh tut. Da seh ich das zweite Post-it auf dem Wohnzimmertisch.

Augen auf im Straßenverkehr!

Ich muss lachen.

Höchste Zeit fürn Abgang.

In dem Moment vibriert mein Telefon.

Nix da! Wabush, du gehst da nicht ran. Du kennst die Regeln. Am Morgen danach ist Funkstille. Okay, sie ist jung und sexy, okay, sie bringt dich sogar in ihrer Abwesenheit zum Lachen. Hab aber trotzdem keinen Bock, meinen Pick-up jeden Abend in derselben Garage zu parken. Vor allem nicht, wenn das heißt, für den kleinen Waso Ersatzpapa zu spielen. Hätt ich Kinder gewollt, hätt ich welche in die Welt gesetzt, und zwar vor meinem Vierzigsten. Kitchike ist tote Hose, mausetot, das ist keinem Nachwuchs zumutbar. So ein Erbe willst du keinem mitgeben: zerrissen zwischen der Stadt und dem Reservat, der glorreichen Vergangenheit und der kolonialen Gegenwart, keine Träume, keine Hoffnungen, gefangen in bescheuerten Kleinkriegen, umzingelt von rassistischen Frenchies, regiert von Möchtegernmafiosi von Kanadas Gnaden. Doppelt gearscht ins Leben starten, das wünsche ich keinem.

 

Ich schnapp mir den Pulli vom Fernseher. Zieh die Socke an, die im Flur rumliegt. Aber wo ist ihre Zwillingsschwester? Ich such in der Wohnung rum wie ein Blöder und find sie nicht. Dabei bin ich mir ziemlich sicher, dass ich gestern beim Rausgehen nicht nur eine anhatte.

Shit, ich will hier nicht den ganzen Tag rumhängen. Außerdem krieg ich langsam Hunger.

Ich schleich zum Kühlschrank, hab den Griff schon in der Hand, da schreckt mich der Klingelton von meinem Handy auf. Scheiße, Mann. Sie hat mir auf die Mailbox gesprochen. Das hat mir grad noch gefehlt. Jetzt klingelt mich auch noch mein Magen an, also raff ich mich auf und öffne den Kühlschrank. Kann mir ein Grinsen nicht verkneifen. Ganz oben, unter einem Päckchen mit geräuchertem Elchfleisch in Scheiben, liegt die fehlende Socke. Und, klar, ein gelbes Post-it.

Überraschung!

Bekloppt, diese Lydia. Wird Zeit, dass ich mich vom Acker mache. Ich zieh die Socke an, viel zu kalt, nicht schön, und schling ein paar Scheiben Elch runter. Ich glaub, das sollte ein Geschenk sein, und falls nicht: Rache ist süß.

Dann hab ich zugegebenermaßen einen kleinen Moment der Schwäche. Oder der Erkenntnis. Oder ist es Neugier? Egal. Auf einmal will ichs wissen, entsperr mein Handy und hör mir die Nachricht an. Ist gar nicht von Lydia, falls sie nicht über Nacht mutiert ist. Nee, von einem Typen, den ich ziemlich sicher nicht kenne:

»Geronimo, der Alte sagt, du bist im Boot.

Treffen im Halloway am 17. um Mitternacht.

Erkennungszeichen lila Halstuch.

Sei diskret.«

Mir läufts kalt den Rücken runter. Und das hat nix mit der Kühlschranksocke zu tun. Dann war das also nicht nur Gerede …

Jetzt ist es so weit. Der Regimewechsel kommt. Die Gerechtigkeit Gottes wird unser Reservat treffen, und wies aussieht, wirst du derjenige sein, der das Schwert führt. Handeln, Pierre, nicht immer nur quatschen. Jetzt oder nie.

Ich steck das Handy ein und geh zur Haustür. Aber bevor ich sie öffne, muss ich noch kurz vor dem Foto Halt machen, das neben der Tür hängt. Lydia posiert strahlend mit dem kleinen Waso auf dem Arm. Auf dem Bild ist er noch keine zwei. Hatte seine Narbe noch nicht. Schön war er da, vollkommen.

Kitchike hats drauf, alles kaputtzumachen, was gut und schön ist. Dir den Bauch aufzuschlitzen, dass du durch deine eigenen Eingeweide watest. Mann, Wabush, auch wenn du dich nie fortpflanzen wolltest: Das liegt halt in der Natur des Menschen. Wir sind weiter da. Und es gibt kleine Scheißerchen wie Waso, die hier großwerden müssen, die hier überleben müssen.

Keine Ahnung, ob es an den Post-its liegt, dem geschenkten Elchfleisch, dem Matchbox-Ausrutscher oder einfach am Kater, aber auf einmal hab ich Tränen in den Augen. Bitterböse Tränen der Wut. Wenn ich in meinem Scheißleben irgendwas tun kann, damit unsere Kids in diesem Niemandsland von Reservat eine Chance kriegen – den Zug werd ich nicht verpassen, das schwör ich.

Die Uhr tickt.

Ich knalle die Tür zu.

Pass bloß auf, Kitchike.

Kapitel 2

Eines schönen Morgens stellte Jean-Paul Paul Jean-Pierre gleich nach dem Aufstehen fest, dass sich ein klaffendes Loch bei ihm häuslich eingerichtet hatte. Er hatte keine Zeit für einen Kaffee oder einen Toast, nicht mal für eine Zigarette. Das schwarze Loch hatte sich in aller Frühe selbst eingeladen und das Sofa mit Beschlag belegt, dieses Sofa, das Jean-Paul Paul Jean-Pierre nie so ganz in den Griff bekommen hatte, ganz gleich, wie viele Stunden oder Tage oder Wochen er ihm widmete.

Jean-Paul Paul Jean-Pierre war arbeitslos. Er hatte durchaus schon gearbeitet, unzählige Berufe durchprobiert, aber nichts hatte ihm zugesagt. Jean-Paul Paul Jean-Pierre machte gern etwas mit den Händen, er war ein echter Handwerker, übte sein Handwerk aber nicht mehr aus. Jean-Paul Paul Jean-Pierre war nicht besonders gebildet. Vom Schulunterricht, den Zahlen und Buchstaben in den Büchern, dem ganzen »Stoff ohne Stoff«, wie er es nannte, war nichts in seinem Kopf hängen geblieben. Er erklärte sich das gern so, dass diese »Intellektuellereien« – davon war er überzeugt – nichts für Indianer waren.

Jean-Paul Paul Jean-Pierre war nämlich ein Indianer. Das Wort hatten die Weißen sich ausgedacht, als sie kapierten, dass Kolumbus nicht in Indien gelandet war, dass die Ureinwohner also keine Inder waren. Jean-Paul Paul Jean-Pierre war ein Indianer aus Nordamerika. Ein eingeborener autochthoner indigener nordamerikanischer Indianer, Angehöriger der Ersten Nationen der nordamerikanischen Großen Schildkröte. Gebürtig aus Kitchike. Er stammte von hier, wohnte hier und hatte hier geheiratet wie seine Eltern, sich dann scheiden lassen und was mit der Freundin des Nachbarn angefangen.

Anders als Jean-Paul Paul Jean-Pierres Eltern war die Freundin des Nachbarn nicht aus Kitchike. Natürlich war auch sie eine eingeborene autochthone indigene nordamerikanische Indianerin, Angehörige der Ersten Nationen der nordamerikanischen Großen Schildkröte, aber sie war eine Algonquin, besser gesagt, eine Anishnaabe. Vor allem kam sie aus der Stadt. Der echten, der wahren, der Großstadt. Nicht aus dem Provinznest nebenan, das die Leute von Kitchike für eine Stadt hielten. Die Freundin des Nachbarn kannte nur wenige Leute in Kitchike. Und als der charmante Nachbar sich immer mehr als ständig ausrastender Aggro-Alki entpuppt hatte, war sie eben zu Jean-Paul Paul Jean-Pierre weitergezogen. Und wie sie so auf seinem Sofa saß und keine Anstalten machte, es wieder zu verlassen, beschloss er, sich ihren Kummer und ihr Leid anzuhören und sie zu trösten. Und dann blieb sie einfach da, ein paar Stunden, eine Nacht, ein Jahr. Ließ sich in seinem Heim, Hirn und Handeln häuslich nieder.

Je länger er darüber nachdachte, umso klarer wurde ihm jetzt alles. Die Freundin des Nachbarn – Julie-Frédérique – hatte sich eines schönen Morgens, als er gerade aufgestanden war, bei ihm eingerichtet und auf demselben Sofa Wurzeln geschlagen, wo nun das schwarze Loch klaffte. Jean-Paul Paul Jean-Pierre fragte sich, ob er die Sitzgelegenheit dafür loben sollte, dass sie Julie-Frédérique eingefangen hatte, oder dafür tadeln, dass sie jetzt das schwarze Loch in die Falle gelockt hatte. Dieses Möbel entwickelte wirklich schlimme Angewohnheiten. Es musste endlich gezähmt werden, um klarzustellen, wer hier der Herr im Haus war. Er musste sich Respekt verschaffen, doch Jean-Paul Paul Jean-Pierre hatte von der Psyche eines Sofas keine Ahnung. Er hatte von Psychologie insgesamt keine Ahnung. In Kitchike war das kein besonders weit verbreitetes Fachgebiet.

Wollte man psychologische Hilfe in Anspruch nehmen, musste man die Linie überqueren, die unsichtbare Grenze, die das Reservat von der benachbarten Ortschaft trennte. Diesen Graben hatte Jean-Paul Paul Jean-Pierre lange gesucht, nachdem er ihn als roten Strich auf der Landkarte des Ministeriums gesehen hatte. Und wenn einer die staubigen Straßen der Old Town in- und auswendig kannte, dann er. Die rote Linie hatte er konkret allerdings nie finden können. Nachdem er Landvermessern einmal live bei der Arbeit zugesehen hatte, lautete seine Schlussfolgerung, dass solche Linien offenbar nur mit den Spezialteleskopen dieses Berufsstandes sichtbar waren. Und auf diesem Instrument konnte Jean-Paul Paul Jean-Pierre nicht spielen.

Auch ohne genau zu wissen, wo die Linie verlief, überquerte Jean-Paul Paul Jean-Pierre sie ab und zu, wie alle Einwohner von Kitchike, um das bisschen Geld, das er im Reservat verdiente, bei seinen weißen Nachbarn auszugeben. Er verdiente selten mal was, und wenn, dann nur wenig, aber wie alle Einwohner von Kitchike gab er das, was er verdiente, bei seinen weißen Nachbarn aus. Früher hätte er gesagt »in der Stadt«, wie alle Einwohner von Kitchike. Aber dann hätte Julie-Frédérique wieder geschimpft. Sie hatte ihm beigebracht, dass eine Stadt etwas ganz anderes war, was aber offenbar die Einwohner von Kitchike, die nicht das Glück hatten, Zeit mit Julie-Frédérique zu verbringen, nicht wussten.

Wäre sie nur dagewesen.

Wäre sie dagewesen, hätte Julie-Frédérique bestimmt gewusst, wie man das schwarze Loch wieder loswurde, das auf einmal noch ein bisschen dicker aussah, noch ein bisschen auffälliger, noch ein bisschen … schwärzer. Aber Julie-Frédérique war nicht da. Sie war am Morgen etwas früher aufgestanden, um ihren üblichen Schminkzirkus zu veranstalten – Frauen mussten immer alles furchtbar demonstrativ machen, davon war er überzeugt –, und war dann wortlos aus dem Haus gegangen, wie jeden Morgen seit fast einer Woche, um sich Beschäftigungen zu widmen, über die sie keine nähere Auskunft gab. Jean-Paul Paul Jean-Pierre wusste nicht, womit er es verdient hatte, dass sie ihn mit Schweigen strafte, aber – davon war er überzeugt – dieses schwarze Loch sollte vor ihrer Rückkehr besser verschwunden sein, wenn er wollte, dass sie ihm gnädigerweise wieder etwas Aufmerksamkeit zukommen ließ.

Jean-Paul Paul Jean-Pierre suchte verzweifelt nach einer Lösung für sein Problem. Er durchforstete sämtliche Winkel seines Hirns, ohne das schwarze Loch aus den Augen zu lassen, damit er auch ja nicht vergaß, wonach er suchte. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht, verblasste aber gleich wieder, als ihm einfiel, dass er gar nicht nach dem schwarzen Loch suchte, das war ja direkt vor seiner Nase, sondern nach einer Möglichkeit, es verschwinden zu lassen, bevor Julie-Frédérique zurückkam. Da Jean-Paul Paul Jean-Pierre in seinem Kopf keine Lösung fand, beschloss er, seine Wohnung zu durchsuchen. Vielleicht brachten ihn Julie-Frédériques Bücher auf eine Idee.

Da das Problem ein schwarzes Loch war, musste die Lösung, das wusste Jean-Paul Paul Jean-Pierre genau, im buntesten, leuchtendsten ihrer Bücher zu finden sein. Nach einigen Runden durchs Wohnzimmer sah er, dass das bunteste, leuchtendste Buch nicht in Julie-Frédériques Regal stand, sondern direkt vor seiner Nase lag, nicht weit von dem schwarzen Loch, auf dem kleinen Glastisch, den man Julie-Frédérique zufolge keinesfalls mit einer Ablage für die Füße verwechseln durfte. Jean-Paul Paul Jean-Pierre beugte sich vor, griff nach dem Buch und wollte sich schon auf dem Sofa niederlassen, als ihm gerade noch rechtzeitig einfiel, dass der Platz bereits von dem schwarzen Loch besetzt war. Jean-Paul Paul Jean-Pierre hockte sich also auf den Boden, um das Buch zu befragen, dessen farbige Seiten – weiß, gelb, blau und rosa – zahlreiche Buchstaben und ungefähr ebenso viele siebenstellige Zahlen enthielten, nur leider absolut nichts über schwarze Löcher. Allerdings brachten die Zahlen ihn auf eine Idee. Wenn er nun einen Spezialisten aus der Stadt nebenan anriefe – mit anderen Worten, einen seiner weißen Nachbarn –, könnte ihm der vielleicht bei der Lösung des Problems helfen? Er verdiente selten was und wenn, dann nur wenig, aber das, was er verdiente, gab er bei seinen weißen Nachbarn aus, und dort konnte man diese Art von Dienstleistung bestimmt finden. Jean-Paul Paul Jean-Pierre zögerte wieder. Rief man in so einem Fall den Hundefänger oder den Kammerjäger? Und was war eigentlich der Unterschied zwischen beiden? Er hatte keine Ahnung, welche Strategie die bessere war. Jean-Paul Paul Jean-Pierre beschloss, lieber erst mal einen Freund anzurufen und um Rat zu fragen.

Jean-Paul Paul Jean-Pierre hatte nur wenige Freunde. Als Jugendlicher hatte er schon welche gehabt, natürlich. Unmengen Bekannte, noch mehr Cousins und andere Verwandte, mehr, als sich an den Zehen und Fingern der Hände und Füße abzählen ließ. In seinem kleinen, messerscharf umrissenen Kosmos kannte er alle, und alle kannten ihn. Sein Ruf als einer, der immer gute Laune hatte, eilte ihm voraus, und – davon war er überzeugt – alle schätzten ihn. Früher, als er noch sein Handwerk ausgeübt hatte, waren die Leute aus dem Reservat regelmäßig in seiner Werkstatt vorbeigekommen und hatten sein Talent bewundert. Manchmal fragte sich Jean-Paul Paul Jean-Pierre, warum ihn eigentlich niemand mehr an der Werkbank besuchen kam, und dann fiel ihm ein, dass er ja selbst nicht mehr hinging. An manchen Tagen fragte sich Jean-Paul Paul Jean-Pierre, warum ihn eigentlich niemand mehr anrief, und dann fiel ihm ein, dass er kein Telefon mehr hatte. An anderen Tagen fragte sich Jean-Paul Paul Jean-Pierre, warum er eigentlich kein Telefon mehr hatte, und dann erinnerte ihn sein Anbieter freundlich daran, dass er die Rechnungen, die ihm Monat für Monat geschickt wurden, nie bezahlte. Hin und wieder fiel Jean-Paul Paul Jean-Pierre ein, dass er den Telefonanbieter gewechselt hatte, aber der neue schickte ihm seltsamerweise Monat für Monat dieselbe Art von Rechnungen! Und üblicherweise erinnerte er sich in diesem Moment daran, dass er Rechnungen nicht mochte. Nicht weil ihm das Geld dafür fehlte, sondern weil man sich um so was kümmern musste. Und damit hatte Jean-Paul Paul Jean-Pierre es nicht so, nicht nur, was Rechnungen betraf. Er hasste es, sich um die Befüllung des Vorratsschranks zu kümmern, um den Haushalt, um die Schlichtung eines Streits oder um die Kinder.

 

Ab und zu fragte sich Jean-Paul Paul Jean-Pierre, warum er seine Kinder nicht mehr sah. Warum sie ihn nicht öfter besuchen kamen. Er hatte vier oder fünf davon, und früher waren sie mit dem Wechsel der Jahreszeiten umhergezogen, schliefen bei ihm oder seiner Ex oder seiner Mutter oder seinem Bruder oder seiner Cousine. Irgendwann hatten sie mit dem Umherziehen aufgehört und sich endgültig irgendwo niedergelassen. Irgendwo, aber nicht bei ihm. Jean-Paul Paul Jean-Pierre fand das Leben so einfacher. So musste er sich um viele Dinge, die mit den Kindern zu tun hatten, nicht mehr kümmern: um Streitigkeiten zwischen Julie-Frédérique und den Kindern über den Haushalt, Streitigkeiten zwischen Julie-Frédérique und den Kindern über den Zugang zu Fernseher oder Computer, Streitigkeiten zwischen Julie-Frédérique und den Kindern über Höflichkeit und Gemecker und Tischmanieren und um wie viel Uhr sie wieder zu Hause sein sollten. Bei dem neuen Türschloss, das Julie-Frédérique verlangt hatte, noch bevor die Kinder mit dem Umherziehen aufhörten, waren nur zwei Schlüssel mitgeliefert worden, und das hatte Jean-Paul Paul Jean-Pierre als eindeutiges Zeichen eines göttlichen Willens aufgefasst. Er war davon überzeugt: Hier hatte das Schicksal seine Finger im Spiel gehabt.

Doch in diesem Moment hätte sich Jean-Paul Paul Jean-Pierre gern von seinen Sprösslingen helfen lassen. Mit ihrer kindlichen Fantasie hätten sie bestimmt eine gute Lösung für sein fieses Problem mit dem schwarzen Loch gefunden. Aber wo waren die Kinder? Bestimmt bei seiner Mutter oder seiner Schwester oder seinem Bruder oder einem seiner zahlreichen Cousins oder bei jemand anderem aus seiner weitläufigen Verwandtschaft, an dessen Namen er sich wahrscheinlich erinnern würde, falls er ihm jemals auf einem Kongress begegnen und eine Visitenkarte von ihm erhalten sollte. Nur dass Jean-Paul Paul Jean-Pierre nie auf Kongresse ging. Aber das Wort »Visitenkarte« gefiel ihm. Jean-Paul Paul Jean-Pierre griff zum Telefon. Und lange bevor ihm klar wurde, dass er gar nicht wusste, wen er anrufen wollte, merkte er, dass er kein Freizeichen hörte. Dabei dachte er, Julie-Frédérique hätte endlich eine Telefongesellschaft gefunden, die bereit war, ihnen einen Anschluss bereitzustellen. Offenbar hatte er schon wieder eine Rechnung vergessen.

Plötzlich holte ihn ein Geräusch, als ob ein nasser Lederriemen durch die Luft peitschte, ins Wohnzimmer zurück, und Jean-Paul Paul Jean-Pierre stellte fest, dass er nicht der Einzige war, der Kinder hatte. O nein! Nein, nein, nein, nein! Das schwarze Loch, oder vielmehr – das war jetzt sonnenklar – die schwarze Löchin hatte gerade geworfen. Einen Wurf unzähliger kleiner schwarzer Löcher, die hie und da durch seine Wohnung schwebten, lauter Probleme, um die er sich kümmern musste. Und all diese Probleme wimmelten und wirbelten durch die Gegend, huschten in alle Zimmer seiner Wohnung und machten es sich kurzerhand auf der Kühlschranktür, in der Kloschüssel und an den Glaswänden der Dusche gemütlich …

O nein! Nicht auf der Computertastatur! Falls das schwarze Loch jetzt auf einer Website mit vollbusigen Japanerinnen herumstöberte, würde Julie-Frédérique es sofort mitkriegen und das Passwort ändern, und dann hätte er wieder monatelang keinen Zugang zum Internet.

Nein, nein, nein, nein!

Jean-Paul Paul Jean-Pierre warf sich vor den Computer, versperrte dem kleinen schwarzen Loch den Weg, und es stoppte ein paar Zentimeter vor seinem Gesicht.

»Finger weg vom PC!«, schrie Jean-Paul Paul Jean-Pierre und baute sich vor dem schwarzen Loch auf wie Julie-Frédérique vor ihm, wenn sie ihm eine Standpauke hielt.

»Kschsch!«

Aber das kleine schwarze Loch war fieser, als er gedacht hatte; so fies, seine Wampe aufzublähen und eine Vielzahl kleiner Nadeln auszufahren, ebenso schwarz wie seine Außenhaut, die Außenhaut eines dicken kleinen schwarzen Lochs.

Jean-Paul Paul Jean-Pierre hatte eigentlich nicht so schnell die Hosen voll, aber jetzt spürte er plötzlich, wie ihm ein Luftzug zwischen die Beine fuhr und den Rücken hochkroch.

Der kleine nachtschwarze Seeigel stieß einen schrillen Schrei aus und beschoss ihn mit Pfeilen.

Jean-Paul Paul Jean-Pierre wich im letzten Moment aus, einmal, zweimal, dann hechtete er unter den Küchentisch, um kurz zu verschnaufen. Und erblickte ein weiteres schwarzes Loch – größer als der kleine Seeigel, aber nicht so dick wie die Mutter –, das gerade die Tür zum Schlafzimmer eindrückte.

»Nein!«

Jean-Paul Paul Jean-Pierre nahm seinen ganzen Mut zusammen und verließ sein Versteck. Sogleich ging ein Hagel aus Tellern auf ihn nieder. Einige kleine schwarze Löcher hatten beschlossen, in den Schränken aufzuräumen und alles zu zerschlagen. Jean-Paul Paul Jean-Pierre rannte ins Schlafzimmer und fand dort das mittelgroße schwarze Loch in sein Bett gekuschelt vor, natürlich auf Julie-Frédériques Seite. Erneut peitschte ein Geräusch durch die Luft wie von einem nassen Lederriemen, und Jean-Paul Paul Jean-Pierre sah voller Entsetzen, dass das mittelgroße schwarze Loch seinerseits einen neuen Wurf zur Welt brachte. Jetzt waren sie schon zu Hunderten, ja, Tausenden, schwirrten um ihn herum und stürzten sein Leben ins Chaos.

O nein! Nein, nein und doppelt nein!

Was würde Julie-Frédérique nur sagen? Um so viele Probleme könnte er sich niemals kümmern.

In Panik hielt sich Jean-Paul Paul Jean-Pierre schützend eine Hand vors Gesicht und drosch die Haustür ein.

Er rannte, so schnell er konnte, einen Schwarm kleiner schwarzer Löcher auf den Fersen, und flüchtete sich in die Werkstatt. So, hier war er in Sicherheit. Geschützt vor den schwarzen Löchern mit ihren Pfeilen.

Jean-Paul Paul Jean-Pierre lehnte sich an die Tür und schloss die Augen, um eine Verschnaufpause zu machen, aber dann fiel ihm ein, dass es mit geschlossenen Augen gar nicht so leicht war, überhaupt etwas zu machen, da ging nicht mal eine Verschnaufpause. Also schlug er die Augen wieder auf, stellte fest, dass er nicht viel mehr sah als vorher, und tastete sich bis zur Werkbank vor, die er seit ewig und drei Tagen nicht angerührt hatte. Natürlich wusste er nicht, wie man die Länge von »ewig« maß und was es mit den drei Tagen Nachschlag auf sich hatte – das musste mit der merkwürdigen Zeitrechnung seiner weißen Nachbarn zusammenhängen –, aber eins wusste er aus tiefstem Herzen, nämlich dass er sich hier, an seiner Werkbank, die ihm von allen Bänken die liebste war, sehr wohl fühlte. Er verbrachte eine ganze Weile damit, im Halbdunkel die hie und da herumliegenden Werkzeuge zur Herstellung von Schneeschuhen zu betrachten, die Kanthölzer aus Esche, die Holzformen zum Flechten der Lederriemen für die Bespannung, die Querhölzer, die nach Größe sortiert auf den Regalen lagen.

Die ganze Werkstatt war von einer dicken Staubschicht bedeckt. Wie lange war er schon nicht mehr hier gewesen? Eine Woche? Einen Monat? Ein Jahr? Am meisten liebte Jean-Paul Paul Jean-Pierre seine Kinder, seine Verwandten und seine Freunde, aber gleich danach kam in seinem kleinen, messerscharf umrissenen Kosmos die Arbeit mit den Händen. Er liebte es, hier in seiner Werkstatt die gleichen jahrtausendealten Bewegungen auszuführen wie seine Ahnen.

Aber Jean-Paul Paul Jean-Pierre übte sein Handwerk nicht mehr aus. Wie war es nur so weit gekommen? Es fehlte ihm doch an nichts. Weder an Zeit noch an Talent. Außerdem brauchte er Geld, um es in der Stadt nebenan ausgeben zu können. Warum also hatte er seine Berufung fahren lassen?

Jean-Paul Paul Jean-Pierre erinnerte sich, dass sich das Handwerkerleben nicht besonders gut mit dem Beziehungsleben vereinbaren ließ. Dass der Staub der Lunge schadete, dass sich das Handwerk nicht lohnte, dass er sich doch besser einen richtigen Beruf suchen sollte. Er wusste noch genau, wie sehr er immer nach den gegerbten Riemen gestunken hatte und dass Julie-Frédérique deshalb der Appetit vergangen war – auf Essen und erst recht auf Sex. In diesem Moment fiel Jean-Paul Paul Jean-Pierre wieder ein, dass er schlicht kapituliert hatte, weil etwas aufzugeben leichter war, als sich um die Konsequenzen der eigenen Entscheidungen zu kümmern.

Eine Welle der Übelkeit stieg in Jean-Paul Paul Jean-Pierre auf.

Er versuchte, tief durchzuatmen, aber der Staub reizte ihn in der Kehle, und er musste heftig husten. Er stand auf, ging zu dem Regal mit den Querhölzern, schob den Arm in sein Versteck und zog ein Bier heraus. Er rieb den staubigen Flaschenhals an seinem Pulloverärmel sauber und schlug den Kronkorken mit einem Hieb gegen die Werkbankplatte ab.