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III

Das Tal war überschaubar wie eine Puppenstube, eingerahmt von jetzt im späten Mai kraftstrotzenden Buchen. Eine Sandpiste stieß in das Rund, endete auf dem breitgefahrenen Vorplatz eines klapprigen Schuppens. Ein paar vergessene Apfel- und Zwetschgenbäume krümmten sich auf dem sanften Hang den Schuppen entlang.

Oberhalb der verschlafenen Szene saß eine kleine, schlanke Frau von Mitte dreißig am Waldrand und sah nachdenklich auf den Schuppen hinab. Ihre Beine steckten in bleichen Jeans, die Füße in ausgetretenen Wanderstiefeln. Sie trug einen viel zu großen grauen Pullover mit aufgekrempelten Ärmeln, darüber einen breiten speckigen Ledergürtel voller Schlaufen und Taschen mit Werkzeug. Sie hatte die Beine aufgestellt und ihre Arme auf den Knien abgelegt. Sie bewegte sich nicht, schwer hingen die von Schwielen bedeckten Hände, in der Rechten hielt sie ein Messer. Der Wind fuhr ihr durchs Haar, sie ließ es mit ihm spielen, ohne darauf zu achten. An ihrer Seite sicherte eine große graue Hündin mit aufmerksamen Ohren die Einöde nach allen Richtungen.

Wäre die Frau ein Vogel gewesen, sie hätte im Flug einen neugierigen kleinen Schlenker gemacht, um in dieses Tal zu blicken, wäre getrudelt von Hang zu Hang. Sie hätte innegehalten über dem Schuppen, der ausgedünnten Obstwiese, rüttelnd den in den Büschen knispernden Mäusen bei ihrem Tagwerk zugesehen, einen übermütigen Pfiff losgeschickt, der den Frühling preist, und wäre weitergeflogen. Aber sie war kein Vogel. Sie hatte einen Auftrag in dem kleinen Tal, im Innern seines Schuppens. Seit zwei Wochen wartete sie nun, sah den Buchen zu, wie sie das Dach des Waldes mit ihrem Grün zu schließen versuchten, und wägte ab. Ließ das Tal auf sich wirken, ihre Entscheidung reifen. Es gab keinen Grund mehr zu warten. Keinen vernünftigen.

Sie kannte die Füchse, die des Nachts in dem Gerümpel auf dem Hof des Schuppens tollten, hörte das Stöhnen der alten Buchen im Schlaf, das Schmatzen aufsteigender Säfte in ihren endlosen Stämmen. Sie hatte den Buschwindröschen zugesehen, wie sie sich am Fuß der mächtigen, noch nicht erwachten Bäume nach der Sonne reckten. Sie wußte, wie die Winde einfielen in das kleine Tal, wußte, in welchem Winkel der Schatten am tiefsten war, auf welchem Stück Hang die Sonne am längsten schien, wo die Feuchtigkeit am Abend zuerst Einzug hielt und wo der Tau des Morgens am längsten verweilte. Sie kannte die Bewohner des kleinen Tals, die Kaninchenfamilie hinter dem gebeugten Zwetschgenbaum, die Drosseln, die das tief in dem alten Rotdornbusch verborgene Nest wieder besetzten. Sogar die Fledermäuse hatte sie des Nachts vorbeizischen sehen und sich gefragt, wo sie sich tagsüber verbargen.

Und sie hörte über all den friedlichen Geräuschen die Schreie aus dem Schuppen dringen. In Wellen wogten sie durch das Tal, schlugen hart an den Waldsaum, prallten zurück und verloren sich wimmernd zwischen den Sandmulden und Schrotthaufen des Vorplatzes. Dieses Tal war ein Bombentrichter aus vormenschlichen Zeiten, in dessen Mitte ein von einer Granate getroffenes Wesen darauf wartete zu verbluten.

Die Frau atmete tief ein. Es war Zeit für eine Entscheidung. Sie spürte die warme Schulter der Hündin an ihrem Bein zucken, streckte die Linke aus und kraulte ihr den Hals. Das Tal war ein sonderbarer Ort für einen Bootsschuppen. Es gab keine Aussicht, nur Begrenzung und vor allem kein Wasser. Das Boot lag wie in einem Erdloch gefangen. Bei Westwind könnte es das Wasser des nahen Sees riechen, aber wann war schon Westwind in Mecklenburg-Strelitz.

Der Vorplatz war angefüllt mit vergeblichen Versuchen, auf die die Frau vom Waldrand herabsehen konnte. Halb reparierte Kutschen, verlorene Fässer, deren Inhalt sie auf ihren Erkundungsgängen lieber nicht überprüft hatte. Anfangs war sie aus Vorsicht nur nachts heruntergestiegen, wenn die Schreie des Bootes zu einem erschöpften Ächzen herabgesunken waren. Aber niemand ließ sich blicken. Das Schloß des Schuppens war verschlossen, aber völlig verrostet. Es war ein Leichtes, zum Boot zu kommen. Ein Tritt und die Metallsplitter zerstoben in alle Richtungen.

Die Frau zog sich den Eimer mit den Maränen, die sie am Morgen gefangen hatte, zu einem großen Stein, um den Fisch zu verarbeiten. Die linke Hand flach auf dem Fisch, mit der rechten ein schneller Schnitt, um den Bauch aufzuschlitzen, der sich mit resonanzlosem Schmatzen öffnete. Sie leerte die Bauchhöhle mit einer geschmeidigen Bewegung des Messers. Formlos glitten die Innereien am Stein hinab in das Gras, wuchs der Haufen aus glänzendem Abfall. Die Hündin verfolgte jede ihrer Bewegungen mit den Augen, den großen Kopf scheinbar entspannt auf den Vorderpfoten gelagert.

Sie hatte ihr den Namen Eiche gegeben, nach dem Baum, bei dem sie sich gefunden hatten. In ihrer Zeit in Irland hatte die Frau ihre Mittagspausen unter seiner Krone verbracht und an einem Tag im August lag dort eine struppige, magere Hündin mit mißtrauischen Augen. Die Frau hatte ohne zu zögern ihre übliche Position eingenommen und an den Baumstamm gelehnt ihr Brot gegessen. Am nächsten Tag hatte sie der Hündin etwas übriggelassen, nach drei Tagen war das Mißtrauen aus den Augen geschwunden und die große Graue hinter ihr her getrottet. Seitdem waren sie ein Paar. Eiche hatte ein paar schillernde Maränenschuppen abbekommen. Wie eine unvollendete Krone blinkte es auf ihrer Stirn zwischen den hoch aufgerichteten, der Frau zugewandten schwarzen Ohren. Sie hatte ihre ungeteilte Aufmerksamkeit.

Die Frau lachte. »Du kannst nicht alles bekommen, sonst mußt Du den ganzen Tag saufen.«

Die Rute der Hündin klopfte sacht auf den Waldboden.

Sie legte den letzten Fisch zu den anderen in den Eimer und ihr Messer dazu. Sie stand auf und bedeutete Eiche, sie könne den Schlachtplatz aufräumen. Die Hündin stürzte sich auf die Innereien. Vierzig Kilo Gier, nur im Hier und Jetzt. Das Tal füllte sich mit ihrem Schmatzen.

Die Frau wartete, bis Eiche mit einem zufriedenen Rülpser ihr Mahl für beendet erklärte, sich umständlich das Maul leckte und sie ansah. Sie nahm den Eimer mit den Maränen und stieg in den Wald auf. Die Hündin folgte ihr trottend. Als sie den See witterte, lief sie voraus. Ein wasserverdrängendes Platschen zerlegte die Stille, sogar die Vögel hielten erschrocken den Atem an.

Als die Frau am Ufer ankam, fand sie ihre Hündin bis zu den Ohren im See liegend. Die Frau wusch ihr Abendessen und reinigte das Messer. Guter Umgang mit dem Werkzeug war alles. Das Messer und sie waren verwachsen nach all den Jahren, ein altes Ehepaar, längst jenseits allen Streits. Sie trocknete es sorgfältig an der Jeans ab und schob es in die Scheide an ihrem Gürtel. Sie ging am See entlang, bog in einen von Zweigen verdeckten Waldweg ab, wo ihr Auto stand. Sie verstaute die Fische im Kofferraum, interessiert beäugt von der struppig nassen Eiche. Die Frau setzte sich auf die Rückbank des Autos, schaltete ihr Handy an und tippte: Auftrag erhalten. Erbitte Wegbeschreibung zum Lagerplatz. Treffen morgen 18 Uhr. Gruß Penta.

Sie stand mitten auf dem Hof in der Sonne und sah die Staubwolke von weitem. Als schließlich das Motorengeräusch zu hören war, begann es in ihren Gliedern zu zucken. Sie atmete ruhig, verlagerte die Konzentration in ihre Mitte und gab den Beinen Schwere. Ihr Blick fiel auf den Waldrand, an dem Eiche auf sie wartete.

Ein koreanischer verstaubter Geländewagen bog auf den Hof ein. Sie rührte sich nicht. Leicht schleudernd kam er in einem Bogen dicht vor ihr zum Stehen. Im gleichen Moment öffnete sich die Fahrertür und ein großer, schwerer Mann sprang aus dem Auto. Ohne die Tür zu schließen wandte er sich zu ihr und kam mit nachlässig-kraftvollen Schritten näher, die Hand ausgestreckt, lange, bevor er sie erreichte. Da kannte jemand keine Hindernisse. Die Welt wartet auf meine Eroberung, Flucht ist was für Weiber.

»Bin ich etwa zu spät?«, fragte die Stimme aus der Masse Mann. Annähernd blond und deutlich ungewaschen stand er, in einem schwarzen T-Shirt mit der ehemals goldenen Aufschrift Urban Cowboy, vor Dreck grauen Jeans und vergammelten halbhohen Gummistiefeln vor Penta. Hinter ihm legte sich der märkische Heiligenschein aus Staub und Sand nur langsam.

»Kein Problem«, antwortete sie und ließ die Hände hängen. »Gehen wir zum Boot? Ich möchte es gleich sehen.«

Seine angebotene Hand fiel haltlos herab. »Sicher, ja, müssen mal sehen, wie wir in den Schuppen kommen, ich konnte den Schlüssel nicht finden, aber im Wagen ist eine Brechstange.«

Beide warteten, daß der andere den Weg zum Schuppen als erster einschlug. Pentas größere Geduld gewann und der Mann stapfte los.

»Es ist ein Zeesenboot, allerdings in schlechtem Zustand. Ich weiß nicht, ob da überhaupt noch was zu machen ist.« Vor der Schuppentür stutzte er. »Da hat uns jemand die Arbeit abgenommen. Das Schloß ist aufgebrochen. Möchte mal wissen, was es hier zu klauen gibt.«

»Vielleicht hat ein Obdachloser einen Platz für die Nacht gesucht.«

Er sah sie belustigt an. »Die Gegend ist ziemlich weitläufig, da muß man gut zu Fuß sein, und wer von denen ist das schon.«

»Vor Regen flüchten mußte wohl auch niemand.«

»Der letzte dürfte schon wieder vier Wochen her sein, aber ich war auch lange nicht hier, um nach dem Rechten zu sehen.« Der Mann öffnete die knarzende Holztür bis zum Anschlag. Im einfallenden Sonnenlicht tanzten die Staubflocken verärgert über die Ruhestörung.

Im vorderen Teil des Schuppens setzte sich die chaotische Versehrtheit des Hofes fort. Altes Werkzeug, ein einarmiger Schaukelstuhl, ein rostiger Heuwender, ein gewaltiger Berg aus Autoreifen, die auf eine zweite Chance zu einem Leben im Kreis warteten. In der Tiefe des Schuppens öffnete sich eine aufgeräumte Freifläche. Irgendjemand hatte dort sogar einmal gefegt. Und da lag es, gestrandet, hilflos, nackt, das Boot. Ein Zeesenboot, oder was davon übrig war. Es nahm die ganze Breite des Schuppens ein, seine ehemals majestätische Kraft grummelte im Untergrund. Penta hörte das Wasser an seinen Bug klatschen und den Wind im schweren Rahsegel tanzen. Sie roch die See, den Tang, sah die Fische vorbeiflitzen.

»Das ist es, ich weiß, es sieht schlimm aus. Was meinen Sie?«

Penta beachtete ihn und seine Frage nicht und umrundete das Boot. Beide Masten waren gebrochen, der Großmast lag zersplittert, geprügelt neben dem Boot im Staub. Von den braunen Segeln war nur noch ein achtlos auf dem Vorderdeck abgelegter Brei übrig. Der Schiffsrumpf war an vielen Stellen zerstört. Mangelnde Pflege, unsachgemäße Reparatur und rücksichtslose Fischer hatten dem Boot das Rückgrat gebrochen. Der Wasserfluß durch den Fischkasten hatte sein übriges getan, seit über hundert Jahren. Dieses Zeesenboot war eine Antiquität, nicht gebaut für den miefigen Sozialismus und nicht für den Irrsinn der Überflußgesellschaft. Sie kannte seine Wunden aus den Nächten, zumindest die oberste Schicht, das Herumstrolchen und Schauen war für den Mann. Das Boot und sie lehnten die Schultern aneinander und atmeten längst gemeinsam.

»Ich mache es«, sagte sie nach einer Zeit, die sie bei diesem märkischen Cowboy für angemessen hielt. »Ich brauche die Papiere des Bootes, wo Sie es gekauft haben und wann. Wie war der Transport, seit wann liegt es hier. Was wissen Sie über den Vorbesitzer, seine Geschichte.« Sie sah ihm ruhig mitten ins Gesicht hinein, in rehbraune, allzu braune Augen.

»Die Papiere können Sie haben.« Er begann ohne jedes erkennbare System, seine Hosentaschen zu durchsuchen. »Was kostet denn der Spaß, das müßte ich schon vorher wissen?«

»Sie bezahlen, was Sie können, so mache ich das immer. Sie bekommen von mir ausgezeichnetes Handwerk, das seinen Preis hat. Angemessen, wir werden uns einig.«

Skeptisch streckte er ihr die gefundenen Papiere entgegen. »Das heißt, ich muß mich einfach darauf einlassen und Ihnen vertrauen?«

»Ich brauche mehr Unterlagen und Informationen über das Boot. Sie bekommen von mir einen Vertrag und ich von Ihnen eine befristete Einzugsermächtigung ...«

»Das ist nicht Ihr Ernst, ich kenne Sie doch gar nicht!«

»Das beruht auf Gegenseitigkeit. Nur, daß Sie an mich auf Empfehlung gekommen sind. Fragen Sie dort nach, ob es Schwierigkeiten mit den Finanzen gab.«

Sie entfaltete die Papiere und stutzte. »Wer ist das? Das Boot gehört Ihnen nicht.«

»Das Boot gehört meinem Sohn. Die Papiere sind auf seinen Namen ausgestellt, er trägt den seiner Mutter. Ist das etwa ein Problem?« Er steckte die Hände in die Hosentaschen.

»Wieso haben Sie das verschwiegen? Wo ist Ihr Sohn?«

»Sie sollen das Boot reparieren. Was geht Sie mein Sohn an?«

»So wird das nichts, ich lehne Ihren Auftrag ab. Bemühen Sie sich nicht, ich finde allein raus.« Penta wendete sich zum Gehen.

Er stellte sich ihr in den Weg. Kein Rehbraun mehr. Schwarz. Tief, dunkel, zornig. »Sie können nicht einfach gehen. Was ist denn das für ein Scheiß? Was stört Sie an meinem Sohn?«

Penta drehte sich langsam zum Boot und legte die Papiere auf das Achterdeck. Ihre Hand zitterte. Ein geschlossener Raum, hinter ihr das Boot, die Schuppenwand. Vor ihr dieser Kerl. Der Ausgang weit, Eiche am Waldrand. Die Stöße begannen in der Mitte ihrer Wirbelsäule. Leise. Auf und nieder. Ruhig bleiben. Konzentrieren und reden.

Sie drehte sich um und sah ihm an den Hals. »Ihr Sohn ist mir völlig gleichgültig«, gurrte sie wie eine schläfrige Taube. »Sie waren nicht aufrichtig, das ist es. Ich mache keine Geschäfte bei unklaren Verhältnissen. Es tut mir leid um das Boot, aber ich verhandle nur mit seinem Besitzer. Und jetzt möchte ich gehen.«

Ihr Fluchtweg führte über die Autoreifen. Sie mußte im Moment des Loslaufens nach Eiche pfeifen. Sie war schnell.

Die Körperhaltung des Mannes entspannte sich, er lächelte fast. »Überhaupt kein Problem, sie können mit meinem Sohn verhandeln. Ich wollte ihn nur überraschen, ihm eine Freude machen. Aber so ist es auch gut. Ich kann ihn holen, warten Sie doch einfach«, schlug er vor und bewegte seinen massigen Körper zwei Schritte auf sie zu.

Wie ein Schaufelbagger, schoß es Penta durch den Kopf, die alle Konzentration brauchte, um nicht zurückzuweichen. Die Messerscheide glühte an ihrer Hüfte. Sie ließ den Stapel Autoreifen in ihrem Augenwinkel ruhen und zwang ihre Wangen zu einem Lächeln. »Na, wenn das so ist, rufen Sie ihn auf seinem Handy an. Lassen Sie uns rausgehen, da ist der Empfang besser.«

Nun grinste er über das ganze Gesicht. »Er hat kein Handy. Ich hole ihn, dann wird sich alles klären.« Das Reh war zurück. »Ist vielleicht gut, daß ihr Euch kennenlernt. Sie haben ihm sicher einiges zu erzählen über sein Boot.« Er beugte sich zu ihr vor, über sie.»Bitte, gehen Sie nicht weg, wir sind schnell zurück.« Eifrig stiefelte er zu seinem offenstehenden Prärieauto. Als er sich noch einmal umdrehte, hatte er tatsächlich rote Wangen. »Nicht weggehen. Sie können sich ja schon mal das Boot genauer ansehen.«

Sie folgte ihm langsam vor den Schuppen. Er knüppelte den Rückwärtsgang rein, wiederholte seinen Ankunftsbogen und schoß, erneut eine Wolke verbreitend, vom Hof. Penta atmete tief durch.

Nicht weglaufen. Warte ruhig. Sie wandte sich zum Waldrand und zeigte Eiche durch eine begütigende Handbewegung an, daß alles in Ordnung war. Die Stößewichen wie in eine überflutende Landschaft aus der Wirbelsäule in Arme und Beine aus. Sie ging zurück zum Schuppen und näherte sich dem Boot. Kaum hatte sie die Hand am Bug, ebbten die Stöße vollständig ab. Sie sprang über die Reling und hockte sich an den Rumpf, berührte das Boot mit so viel Haut wie möglich. In der Nacht würde sie wiederkommen und sich ein Mauseloch graben, für alle Fälle.

Es war kaum Zeit vergangen, als sie in der Ferne den Motor des Geländewagens wieder hörte. Wie eine aufgescheuchte Katze sprang sie auf den Boden des Schuppens und hastete zur Tür. Als der protzige Koreaner auf den Hof bog, stand sie mit überkreuzten Beinen an einen Stapel Paletten gelehnt. Wieder der Cowboyschwung des Wagens, das schwere, breitbeinige Springen, die offenbleibende Fahrertür.

Durch den wirbelnden Sand glaubte sie zunächst an eine Täuschung, als sie etwas langsam hinter der Beifahrertür auf den Boden sinken sah. Klobige Boots, in denen spindeldürre Beine steckten. Den Rest des Wesens verdeckte die Autotür. Der Auftraggeber stapfte auf sie zu. »Darf ich vorstellen, mein Sohn, Ihr Auftraggeber«, griente der rehäugige Bär und deutete zum Auto.

Ein erschreckend schmales Würmchen hatte sich um die Beifahrertür herumgewunden und schob sie nun mit rührender beidhändiger Aufmerksamkeit zu, bevor er sich der nächsten Aufgabe zuwendete, den Hof mit seinen überdimensionierten Pantinen zu überqueren. Verschämt sah er Penta kurz von unten an und ergriff einen Oberschenkel seines Vaters als Mast im Sturm.

»Ist nun alles in Ordnung, oder gibt es noch andere Schwierigkeiten, die ich aus dem Weg räumen muß, damit wir ins Geschäft kommen?«

»Ist das Dein Boot?«, fragte Penta in den braunen Schopf hinein.

Der nickte ohne hochzusehen und rammte Löcher in den Sand.

»Willst Du, daß ich Dein Boot gesund mache? So, daß es wieder in das Wasser kann und Du an seine Segel?«

Jetzt hob er den Kopf, sah Penta erst am linken Ohr vorbei, ließ seine Augen über ihr Haar streifen, bevor er sie, ganz kurz, direkt ansah und schließlich nickte.

»Dann mache ich das, kleiner Mann.« Penta streckte die Hand aus und der Kleine schlug, geschubst von seinem Vater, ein.

IV

Kriminalrat Hans-Dieter Fockemeyers Bürotür stand wie immer weit offen. Niemand, der ihn kannte, würde es wagen, einfach über die Schwelle zu treten. Focke war nur scheinbar Verfechter flacher Hierarchien, die geöffnete Tür fungierte als subtiles Machtmittel und gab Aufschluß über die Charakterstruktur seines Besuches.

Jakob klopfte an den Türrahmen. Sein Chef sah hoch und winkte ihn jovial herein, ohne sein offenbar amüsantes Telefongespräch zu beenden. Als Jakob vor dem Schreibtisch angelangt war, erschallte ein dröhnendes Lachen. Sicher nicht das erste, Schweißperlen glitzerten auf der haarlos hohen Stirn. Jakob wartete geduldig und aktualisierte seine Kenntnisse der mächtigen Buche vor dem geöffneten Fenster. Ihr Grün war von tränentreibender Zartheit, jetzt im Mai. Noch war wenig von der Härte zu sehen, die ihre Blätter im Verlauf des Sommers annehmen würden. Alle fingen flaumig an.

Focke warf das Telefon auf den Tisch. »Hagedorn, mein Lieber, schon wieder beim Tagträumen? Schön, Sie zu sehen, setzen Sie sich.«

Jakob fiel auf den Besuchersessel und sah seinen Chef an.

»Krankgeschrieben sind Sie immer noch, nicht wahr? Gut sehen Sie aber aus. Ist ja wohl auch nix, das einem im Gesicht steht. Dachte mir, vielleicht haben Sie Lust, wieder bißchen reinzuschnuppern in ihr altes Leben.« Er griff sich einen schwankenden Aktenstapel und ließ eine nach der anderen Akte krachend von links nach rechts wandern.

»Da ist sie ja. Gewaltsamer Todesfall. Der noch offene Fall des Kollegen Dings, Sie wissen schon, der mit dem Rücken. Lag flach kurz vor der Aufklärung, wie das so ist. Opfer war eine Professorengattin aus Schlachtensee mit Milieuvergangenheit. Hübscher Beleg für die These, daß man die Frau aus dem Puff, aber nicht den Puff aus der Frau bekommt. Vielleicht erinnern Sie sich sogar, war eine äußerst unappetitliche Schlachteplatte in einer muffigen Anglerhütte an der Havel. Irgendwelche Körperteile sind sogar bis heute abgängig. Gott, wie doppeldeutig, Schlachtensee und Fleischermetaphern, ich sollte das Dichten anfangen. Der Witwer ist nicht nur gescheit, sondern auch noch öffentlich erfolgreich, hoffe, das bekommen sie hin mit Ihren sensiblen Fingerspitzen. Schauen Sie, ob Sie sich das schon wieder zutrauen. Wirklich was Leichtes für Angeschlagene. Schuman heißt er, Heinz, jetzt habe ich’s. Guter Mann eigentlich, aber der Rücken, da kann man nichts machen.« Er schoß Jakob die Akte über den Tisch zu, der sie an der Kante stoppte.

»Wie soll das denn vor sich gehen, wollen Sie, daß ich mich gesund schreiben lasse?«

»Aber nein. Ich dachte mir, Sie schnuppern einfach mal ein bißchen, etwas Reha, Sie verstehen? Bleiben Sie ruhig weiter krankgeschrieben, bis Ihre Sache geklärt ist.«

»Meinen Sie die Gerichtsverhandlung?«

»Die natürlich auch. Und Ihr krankes Hirn«, er wackelte rechts und links der Ohren mit den Händen, »weiß man da schon Genaueres?«

Jakob schüttelte den Kopf.

»Kann auf jeden Fall nicht schaden, Sie auf andere Gedanken zu bringen. Viel vor die Tür müssen Sie nicht, ist alles ermittelt. Sehen Sie sich den Tatort an, Petri heil, lesen Sie die Akte, das wird schon reichen. Dann nur noch die Haftbefehle rausjagen und aus die Maus.«

Jakob runzelte die Stirn.

»Gefällt Ihnen nicht? Keine Geister, keine Medien, die Sie zum Helden machen? Bewegung durch die Stadt ist zur Zeit doch nicht so ratsam, oder? Bleiben Sie mal schön sitzen, da fallen Sie nicht so tief.« Fockes Lachen dröhnte in Jakobs Schädel. »Nix für ungut. Auf den Fluren macht man härtere Witze. Gibt nicht viel zu lachen in der Keithstraße, gönnen Sie den Kollegen ihr kleines Vergnügen.«

»Ich gewöhne mich zur Zeit an so allerlei, das ich mir nie hätte träumen lassen.«

»Wer weiß, wozu es gut ist.« Focke verschränkte die Arme hinter dem Kopf und lehnte sich weit in seinem ledernen Chefsessel zurück. »Kann noch einiges auf Sie zukommen, ungefragt und in Bildern.«

Jakob zog sich die Akte auf den Schoß. »Vielleicht wäre es besser, Sie stellten mir den Kollegen Blum zur Seite. Nur zu Sicherheit, falls ich aus dem Rahmen falle.«

»Ach was, das schaffen Sie doch allein. Was ist schon eine tote Nutte mit angeheiratetem Professorentitel für Sie? Ihr Freund Oskar hat genug mit seinen eigenen Fällen zu tun. Auftragsmorde, bulgarische Mafia. Die sind von anderem Kaliber, weniger Reha.«

»Aber was mache ich, wenn doch nachrecherchiert werden muß? Immerhin bin ich krankgeschrieben.«

»Ich werde es mir überlegen, irgendein unterbeschäftigter Kollege wird sich schon finden, um ein paar Botengänge zu erledigen.«

Focke beugte sich vor und schlug mit beiden Handflächen auf den Tisch. »Also was ist? Ich habe nicht ewig Zeit. Machen Sie es oder lassen Sie es bleiben?«

»Mein Kopf braucht neuerdings etwas länger für Entscheidungen.«

»Vergessen Sie nicht, es ist auch eine Chance für Sie, es allen zu beweisen.«

»Habe ich das nötig?«

»Das wissen Sie selbst am besten. Ich gebe Ihnen bis übermorgen, in Anbetracht Ihrer verfallenen Situation, danach ist ein anderer Kollege dran, vom Raub, würde ich sagen, die haben zur Zeit leichte Überkapazitäten.«

Dr. Johanna von Bredow war eine wirklich große Frau. Geneigt waren der schmale Rücken und ihr Kopf, was kleinere Artgenossen als sympathische Defensive deuteten, tatsächlich aber nur anzeigte, wie unvollständig sie sich ohne ihr Cello im Arm fühlte.

Das Hochaufgeschossene lag in der Familie, auch Hannas fünf ältere Schwestern eroberten die Welt aus lichter Höhe. Nach einer Pause von neun Jahren hatte die Mutter sie geboren und darauf bestanden, jede ihrer weiblichen Orgelpfeifen sei ein Wunschkind.

Einen Vater hatten all die Langen nie gesehen. Hannas Mutter war mit einem meist in familiären Ländereien in Übersee abwesenden Familienvorstand aufgewachsen und hatte wenig vermißt. So suchte sie einen gutdotierten Beruf mit Freiraum, wurde Professorin an der FU und füllte als Beamtin mit beachtlichen Bezügen gelassen ihr Leben mit einer Mädchenstimme nach der anderen.

Das Kosmopolitische des Vaters hatte sich vererbt. Hannas Mutter unternahm, als Biologin mit Hang zur Flora ferner Länder, weite und ausgiebige Forschungsreisen, um Setzlinge für die Wissenschaft und Samen für den adeligen Nachwuchs aufzunehmen und kehrte fünf Mal geschwängert von fremden Kontinenten zurück.

So wuchs, in einer riesigen Altbauwohnung am Rüdesheimer Platz unter drei Meter zehn entfernten Decken, Hanna heran, umrankt von tropischen Pflanzen, die in ihrem explodierenden Wachstum zum Ausdruck brachten, daß auch sie inmitten dieser interkontinentalen Weiberschar nichts vermißten.

Die Anlage der von Bredowschen Familie hatte sich durch Jahrhunderte, Pestilenzen und Kriege geboxt und war in den Mädchen, trotz der aufmüpfigen Erzeugerwahl ihrer Mutter, erstaunlich dominant geblieben. Auf den in Hessisch Sibirien abgehaltenen Familientreffen wurden mandelförmige Augen und undeutscher Teint skeptisch beäugt, bis die Mädchen auf Bredows Schulterhöhe herangewachsen waren. Dann nahm man sie auf, nicht ohne Stolz, sich, genetisch gesehen, mal wieder behauptet zu haben.

Was bleibt dem Etagenadel außer Haltung.

Hanna war als Spätgeborene von gleich zwölf Mutterbrüsten umgeben, wurde geherzt, gefüttert und an die Hand genommen. Nur Grete, Lehrerin und beste Freundin der Mutter, die, wenn aufgeschlagene Knie zu versorgen, Lehrer zu befrieden, Taschentücher zu reichen und Schwangerschaftstests zu überstehen waren, die vielbeschäftigte Professorin vertrat, verschaffte dem Nesthäkchen ab und an Luft.

Aber Hanna schien es selten zu viel zu werden. Sie vertrug kübelweise Liebe und verströmte noch mehr. Im dicken Windelpopo saß sie bei heimischen Kammerkonzerten auf dem Schoß der Klavier spielenden Mutter, streckte die dicken Finger nach der Querflöte der Schwester aus, jauchzte der Viola entgegen und legte mit selig geöffnetem Mund ihre kleine Patschhand auf das Cello der Ältesten.

Endlich auf zwei Beinen, sauste sie durch die Wohnung, stiebitzte Kleidung und Lippenstifte ihrer Schwestern, steckte Finger in Schüsseln und Töpfe, besprühte ernst und konzentriert tropische Rankpflanzen und Rauhfasertapete, verschenkte reihum Steinchen, Kekse, Kartoffeln und Zärtlichkeiten.

Ihre größte Sorge war, sie könnte von all dem Leben, das durch die Zimmer flutete, einen Tropfen verpassen. Und so fand man sie allabendlich auf einer Türschwelle, noch ein Spielzeug in der Hand, in komatösen Kinderschlaf gefallen. Trug sie dann eine ihrer Schwestern ins Bett, tappelte sie wenig später mit kleinen Äuglein aus ihrem Zimmer, suchte Licht und Stimmen und krabbelte auf den erstbesten weiblichen Schoß.

Ihr ganzes Leben war Musik um sie. Jeder verschobene Stuhl, jede Blume, der schaufelnde Gang eines Menschen, der Geschmack reifer Tomaten wurde Hanna zu Musik. Frisch eingeschult, erzählte sie ihrer zweitältesten Schwester, der neue Füller sei nicht harmonisch und schlug nach einigen Fehlversuchen die Dissonanz am Flügel der Mutter an. Ihre Schwester berief den Familienrat ein und Hanna lernte erst Klavier-, dann Cello spielen. Vom Kinderarzt als Synästhetin erkannt, lief sie durch Wohnung und Stadt und sang Schwestern und Mutter Farben und Dinge vor. Und hielt das Nesthäkchen sich die Ohren zu, obwohl weit und breit nur das Grundrauschen Berlins zu vernehmen war, hieß es, soeben gekaufte Orangen dem Nachbarn zu schenken, oder die Zahnpastamarke zu wecheln.

Mit den Jahren zogen die ersten Schwestern in die Welt hinaus. Hanna schlief vor der Wohnungstür und fragte, wo Amerika läge. Grete kaufte ein Kaninchen, das bald, nach Hannas Diagnose, es litte unverkennbar unter Einsamkeit, die kein Mensch zu beenden imstande sei, Gesellschaft bekam und kurz darauf hoppelnden Nachwuchs.

Drei Wochen später zog ein Igel, der Gefahr lief, in einem Berliner Park bei Plusgraden zu erfrieren, in die Wohnung, und nahm das reichhaltige Futter so gut an, daß er erst sieben Monate später, begleitet von Hannas Tränenbächen, kugelrund unter den freien Himmel und die dicken Laubschichten Berlins zurückkehrte. Zum Igel kamen Meisen mit gebrochenen Flügeln, eine blinde Drossel, zwei vom Biergarten gegenüber verscheuchte Streifenmäuse, die alte Schildkröte einer verstorbenen Nachbarin und, inmitten eines ausgeklügelt gebauten Terrariums von beachtlicher Größe mit Badeteich und Mittelgebirgsimitat, eine Hamsterfamilie.

Hanna hegte und pflegte sie alle. Wie die Bewohner der Arche Noah rückten Tiere, die sich sonst nie begegnet wären, um ihre kleine Zoodirektorin zusammen, ließen sich Geschichten vorlesen und hörten dem Cello zu.

Als Hanna elf war und die letzte verbliebene Bredowsche Orgelpfeife, fand ihre Mutter, in Anbetracht der nahenden Möglichkeit, das Kind könne sich demnächst für andere Menschen oder gar das gegenüberliegende Geschlecht interessieren, sie sollte keine neuen Tiere mehr aufnehmen. Hanna schluchzte, nie würde sie die Menschen den Tieren vorziehen.

Als Hanna fünfzehn wurde, eine dunkelhaarig grazile Schönheit von einem Meter siebzig, waren nur noch ein dementes Kaninchen und die stoische Schildkröte übrig geblieben, und sie verliebte sich unsterblich in einen Achtzehnjährigen mit verschwommen glitzernden Augen hinter langen Wimpern und sehr vielen Pickeln.

Dreihundertsiebzehn anstrengende Tage später verließ er sie für eine weiche Blondine von Eins fünfzig. Hanna verfluchte ihn mit Gretes Hilfe, schwor Männern und Liebe ab, erwog ein Klosterleben und verliebte sich unsterblich in einen Referendar. Als der nach einem Jahr erfolglosen Schmachtens Schule und Stadt verließ, konzentrierte sich Hanna sublimierend auf ihre Pflichten, übersprang eine Klasse und machte mit knapp achtzehn das Abitur. Sie nahm, gegen Gretes Rat, ein Medizinstudium auf. Dann, im ersten Semester, verschwand ihre Mutter.

Von einem Tag auf den anderen war sie wie vom Erdboden verschluckt. Hannas Schwestern trudelten aus allen Weltregionen ein, füllten die Wohnung mit Tränen und Hilflosigkeit. Die Polizei beschwichtigte, gab sich vorübergehend Mühe und stellte schließlich die Suche ein. Die Schwestern kehrten zurück in ihre Leben, Hanna saß allein in der riesigen Wohnung auf dem Dielenboden, um die Ecke kroch die alte Schildkröte, Hanna weinte und rief Grete an. Die engagierte einen Privatdetektiv, warf ihn nach vier erfolglosen Wochen hinaus und zog an den Rüdesheimer Platz.

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