KurzLeben

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Lolita Büttner, Ute Bronder

KurzLeben

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Inhaltsverzeichnis

Titel

AUTOBAHN

STICHTAG

RABENTAG

ANNA

DÉJÀ-VU

MITTAGSPAUSE

GROSSSTADT-SCHNEELEOPARD

DEAUVILLE

WAS IST EIN BUCH

KINDER

EUKALYPTUS UND ZIGARETTEN

GESPRÄCH EINES RABBI MIT EINER EVANGELISCHEN PASTORIN

Impressum neobooks

AUTOBAHN

von Lolita Büttner

Autos. Autos. Autos. Überall.

Das ich muss mal dringend Gefühl war kaum noch zu ertragen.

Endlich.

Ein Schild.

Er nahm die Ausfahrt ohne zu bremsen und kam mit quietschenden Reifen direkt neben den Toiletten zum Stehen.

Wie im Film, dachte er.

Übervorsichtig stieg er aus.

Nur eine falsche Bewegung und es könnte eine Sauerei geben. In einer Wolke aus Kloakendunst fand er Erlösung und als er zurückkam, blieb er vor seinem Wagen stehen.

Stumm.

Nachdenklich.

Auf seinem Beifahrersitz saß ein riesiger Elch aus Plüsch.

Er ließ seinen Blick über den Rastplatz schweifen.

Nichts.

Weit und breit keine Menschenseele.

Eigentlich war ihm das schon vorm Pinkeln aufgefallen.

Er ging ein paar Mal um das Auto herum.

Nichts Verdächtiges.

Ist das mein Auto?

Er las das Kennzeichen laut.

Nur um auf Nummer sicher zu gehen.

Eindeutig. Mein Auto.

Gut, dann fährt er eben mit, der Elch aus Plüsch.

Er kramte nach seinem Schlüssel und steckte ihn ins Schloss.

Abgesperrt habe ich auf jeden Fall.

Während er sich auf den Sitz plumpsen ließ und den Motor startete, sah er nicht ein einziges Mal zu dem Elch hinüber.

„Ich hoffe, dir wird beim Autofahren nicht schlecht!“

Er griff nach dem Beifahrergurt und befestigte ihn.

„Nur zu deiner Sicherheit.“

Mechanisch reihte er sich in die endlose Autokolonne ein, die nun eine fast beruhigende Wirkung auf ihn hatte.

„Ich bin Nimo.“

Seine Stimme bohrte sich durch das laute Motorbrummen. Der Blick des Elches war geradeaus auf die Straße gerichtet.

Kein Lebenszeichen.

Es regnete.

„Du bist mein erster Beifahrer. Kannst du das glauben?“

Er fummelte, drückte und drehte an den Radioknöpfen.

Es rauschte, fiepte, quietschte.

„Ich krieg’ leider nur selten Empfang. Muss an der Elektrik liegen.“, kommentierte er ernst und schnappte gleich darauf wie ein Fisch nach Luft, denn die Hand des Elches lag nun vertraut auf seiner. Eine Geste, die er nur von Frauen kannte.

Keine Einbildung. Weniger Tempo.

Er fühlte eine Anspannung in der Brust, ein Pochen im Hals und starrte auf das Profil des Elches, in der Hoffnung, jetzt werde er gleich etwas Beutendes sagen.

Nichts.

Nur das Radiorauschen, welches sich zaghaft in eine Radio-Dolby-Surround-Klangwelt verwandelte.

Dann Musik.

Listen to your heart, when he's calling for you...

In meinem Auto? Ein Wunder!

„Schon kapiert.“, hörte er sich selbst beruhigen.

„Du fährst lieber mit Musik.“

Er gab wieder mehr Gas und lenkte den Wagen auf die linke Spur, um den bedrohlich wackelnden LKW vor sich zu überholen. Der Plüscharm kehrte zurück an seinen Platz. Eine Weile lauschte er konzentriert der Musik bis er nicht mehr aushielt.

„Wie zum Teufel bist du nur in mein Auto gekommen?“, fragte er den Elch, der ihn doch tatsächlich mit seinen leblosen Plastikaugen aus milchigem Weiß und bernsteinfarbigen Kreisen direkt ansah. Eine Antwort, die er nicht erwartet hatte und er bremste.

Heftig.

Wieder quietschende Reifen, wieder filmreifes Parken seines Autos.

Alle Funktionen auf Null. Das Radio tot.

Auf dem Seitenstreifen - Atmen.

Du bist überarbeitet.

Alles wird gut. Alles ist gut.

Er schloss die Augen.

Gedankenblitze zuckten über seine Lieder. Im Kopf versuchte er nun den Lärm der Autobahn in Musik zu verwandeln.

1. Satz: Das Echo eines Hupkonzertes.

Das aber war nicht nur in seinem Kopf sondern draußen auf der Straße. Ein LKW stand quer auf der Fahrbahn. Der Gleiche, den er kurz zuvor überholt hatte. Die Heckklappen waren weit geöffnet und ein Teil der Ladung verstreute sich auf dem nassen Asphalt.

Wann war das passiert?

Plötzlich panisches Autobremsen.

Quietschen.

Schlittern.

Ein Crash.

Und Schreie.

Der Gestank von verbranntem Gummi zwang ihn, zum Handy zu greifen und den Notruf zu wählen. Gefasst und sachlich schilderte er die Situation und als er auflegte, stauten sich die Autos kilometerweit. Erschöpft sah er zu dem Elch hinüber, der wie zu Beginn ihrer Fahrt geradeaus auf die Straße blickte.

„Danke!“, flüsterte er und griff nach seinem Arztkoffer auf dem Rücksitz.

„Ich geh da jetzt raus. Helfen. Du bleibst hier und behältst uns im Auge!“

Er öffnete die Tür und ihm war als würde der Elch nicken.

Hastig zog er sich den zerknitterten Arztkittel über, hing sich sein Stethoskop um und lief auf die Unglücksstelle zu.

Da waren Autos, Autos, Autos. Überall.

STICHTAG

von Ute Bronder

Ich sage mir jedes Mal, das passiert dir nie wieder. Das nächste Mal wirst du die Zeichen erkennen. Aber der Klügere gibt nicht immer nach.

Oktober 2002, zu jeder Zeit.

Ort der Handlung: München, überall.

Ich saß in meiner Küche und rauchte die zehnte Zigarette. Neben mir lag das neue Rasiermesser, das ich Oliver zum Geburtstag geschenkt hatte. Gerade hatte er angerufen und mich gefragt, ob ich ihm nicht die Haare im Nacken schneiden könne, bevor er sich zu einem Geschäftsessen begibt.

„Ich gehe lieber alleine hin, Schatz. Du würdest dich sowieso nur langweilen!“, meinte er zu wissen. Komisch, dass er immer weiß, was mir gut tut, wenn es darum geht, dass er mich nicht dabei haben will. Meine Magensäure weiß schon gar nicht mehr wohin mit ihrem Saft. Die Einspritzlöcher sind überlastet, verstopft und wenn ich nicht aufpasse, platzt eine Röhre und die Flüssigkeit schießt in rasender Geschwindigkeit in meine Gehirnwindungen.

Ich wusste längst, dass da was läuft und normalerweise würde ich mich in meine Ecke zurückziehen und leiden. Lang und ausführlich. Aber etwas war mit mir geschehen. Ich würde meinem Leben einen Sinn geben. Endlich war das, wonach ich so lange gesucht hatte, plötzlich vor mir.

Ich begehe einen Mord, dachte ich fast euphorisch, und damit schlage ich zwei Fliegen mit einer Klappe. Der Person meiner Wahl bräuchte ich nie mehr über den Weg zu laufen und ich hätte mich verwirklicht. Oliver kann stolz auf mich sein. Er sagt doch immer, ich soll endlich mal was aus mir machen. Morden kann überaus kreativ sein.

Seit langer Zeit hatte ich wieder gute Laune.

„Was ist denn mein Kind?“

Meine Mutter stand auf einmal in der Küche. Sie hat einen Riecher dafür, mich in den unmöglichsten Situationen zu stören. Wahrscheinlich ist sie ein gescheitertes Medium oder so was.

„Hat er dich betrogen?“

Und ohne meine Antwort abzuwarten, griff sie nach der Keksschachtel und verschwand wieder im Wohnzimmer. Das macht sie immer so. Der Form halber fragt sie nach, wie es einem so geht und möchte aber um Himmels Willen keine Antwort.

Es gibt zwei Kategorien von Menschen: die einen zerstören und die anderen werden zerstört. Ich war zu diesem Zeitpunkt 35 Jahre alt, habe in den Medien gearbeitet und führte ansonsten ein stinklangweiliges Leben. Nicht zu auffällig, schön angepasst. Eine meiner Haupteigenschaften: Ich funktioniere. In meinem Job, in meiner Beziehung, in meiner Familie. Bloß nicht auffallen, war immer meine Devise.

„Juuudithhh!!!!“

„Jaaa, was ist denn, Mutter!“

„Meine Brille, bring' mir doch schnell mal meine Brille! André Rieu ist im Fernsehen.“

Eigentlich tendiere ich zum Selbstmordtypen. Da bräuchte man wenigstens kein Alibi und die Leichenwegschaffung wird auch für dich erledigt. Laut Statistik bringen sich die meisten sonntagnachmittags zwischen vier und fünf um. Ich würde Samstag bevorzugen, wenn die Kirchenglocken die Abendmesse einläuten. Immer wenn ich sie höre, läuft mir ein Schauer über den Rücken. Ich sehe mich da stehen, acht Jahre alt, in meinem karierten Rock und weißen Kniestrümpfen, die mittels zwei loser Gummis an meinen Knien befestigt sind, damit sie nicht runter rutschen. Ich stehe andächtig in dieser riesigen Kirche. Mit Blick auf die Kanzel. Ein Priester hält seine Predigt und ich überlege mir Sünden, die ich in der nächsten Beichte erzählen könnte, dabei weiß ich gar nicht so genau was Sünde ist.

 

Sünde, alles ist Sünde!

„Möchten sie einen Anwalt, sie wissen, dass alles gegen sie verwendet werden kann?!“

„Nein danke, ich brauche keinen Anwalt!“

„Aber wir könnten auf Totschlag plädieren. Sie sind doch im Rechtsschutz. Ich besorge ihnen einen hervorragenden...“

„Ich bestehe darauf, dass es Mord war!“

Ich hörte mich am Tatort sprechen. Gut, meine Stimme hat sich etwas überschlagen, aber ich lass mir doch nicht meinen ersten Mord versauen. Endlich habe ich’s geschafft, nach 35 Jahren, konsequent und ohne fremde Hilfe. Und ich bin absolut zurechnungsfähig. Ich hoffe, dass Gott mich wenigstens versteht.

„Aber was ist denn um Himmels Willen geschehen?“

Meine Mutter mischte sich wieder ein.

„Dein Vater...“

Sie japste nach Luft und rang nach den richtigen Worten.

„... war immerhin Dein Vater.“

Sie fühlte sich offensichtlich angesprochen. Wenn sie so weiter machte, brachte sie mich noch auf eine Idee. So ein Doppelmord würde mir garantiert niemand zutrauen. Allerdings kann mir eine Leiche schlecht ein Alibi geben.

“... und wenn Du schon jemandem einen Vorwurf machen willst...“, keifte sie aus dem Wohnzimmer weiter. „... dann bitte schön ihm. Ich habe ein Kind nach dem anderen bekommen und hatte gar keine Zeit nachzudenken. Ich weiß überhaupt nicht, was ihr heutzutage für Probleme habt!“

„Das ist ja das Problem, Mutter!!!!“

Meine Mutter schafft es, dich mit der Spitze einer Nadel zu töten. Dazu brauchen andere ein Rasiermesser. Ich weiß nicht, welche Todesart humaner ist, mein sauberer Schnitt oder ihre lebenslange Folter.

Ich lief im Zimmer auf und ab und hatte gar nicht richtig bemerkt, wie meine Gedanken laut geworden waren.

„Sag mir doch, wann du endlich wieder im Fernsehen zu sehen bist, Judith, damit ich meinen Freundinnen Bescheid geben kann.“

Sie hatte ihre Füße bequem auf dem Sofa übereinander geschlagen und ihr Stickzeug in die Hand genommen. Erst auf den zweiten Blick konnte ich erkennen, dass das Hakenkreuz in ihrem Stickrahmen offensichtlich eine Windmühle darstellen sollte. Stickend stopfte sie schmatzend vertrocknete Kekse in sich hinein.

Ich bekam denselben Krampf in der Magengegend, wie damals, als eine Fischvergiftung den Sender lahm legte. Es war wieder einmal eine von diesen spendablen Gesten der Produktion. Ich hasse Paella. Ich weiß nicht, was an diesem stinkenden Kriechzeug so gut sein soll, also zog ich es vor, meinen Hunger mit Chips zu stillen. Meinen ersten und einzigen Auftritt vor der Kamera verdanke ich der kotzenden Belegschaft. Mir wurde nur schlecht vom Lampenfieber und ich kotzte nach der Anmoderation.

Meine Mutter wäre gerne die große Dame von Welt geworden. In einer Machtposition mit vielen Untergebenen, einem großen Haus, einem Auto mit Chauffeur. Dann würde sie vielleicht auch nicht schmatzen oder dürfte es nicht, weil es die Etikette nicht zuließe.

Ich hatte den Kanal voll. Mein Entschluss stand fest.

Ich hatte anfangs nicht darüber nachgedacht, weshalb Oliver sich vor Geschäftsessen mehrmals umgezogen hatte und mich nachdrücklich um meine Meinung bat. Dieses Klischee, es kann nur eine andere Frau dahinter stecken, wenn Männer auf einmal ihr Äußeres verändern, sich eingeengt fühlen, nur noch allein irgendwo hingehen wollen und immer ein Tick zu gereizt reagieren, wenn man sie darauf anspricht, war mir immer zuwider. Zu plump, zu einfach.

Aber das Leben ist einfach.

Um 17 Uhr kommt Oliver nach Hause und um 17 Uhr 30 beginne ich, ihm die Haare zu schneiden. Meine Mutter wird sich in ihr Zimmer zurückziehen, um Lindenstraße nicht zu verpassen. Es geht doch nichts über ihren Zeitplan. Auf das Fernsehprogramm ist Verlass.

Ich erinnere mich an meinen ersten Mordgedanken, während ich das Rasiermesser liebevoll auf das rote Handtuch neben den Kamm lege. Damals konnte ich ihn noch nicht in die Tat umsetzen. Ich war noch jung und unerfahren. Heute habe ich diverse Therapien hinter mir. Die Auswirkungen machen sich bemerkbar. Endlich kann ich meiner Wut freien Lauf lassen.

Mein Herz schlägt höher und ich muss zugeben, ich bin ziemlich aufgeregt. Ich betrachte eingehend das Rasiermesser in meiner rechten Hand. Wenn ich es nur ganz leicht drehe, fällt die Sonne auf die spiegelglatte Chromklinge und überträgt seinen Strahl auf Olivers Hinterkopf. Seine strohblonden Haare wirken fast Silber. Mit seinem stahlblauen T-Shirt sieht er aus, wie ein Besatzungsmitglied von Raumschiff Orion.

Ich bin dir ganz nah. In fünf Minuten ist alles vorbei.

„Im Nacken bitte ganz kurz und pass auf, dass die Haare nicht wieder in den Kra...“

Einen Moment lang scheint die Welt die Luft anzuhalten.

Dann gehe ich ins Wohnzimmer.

„Mutter, soll ich dir auch noch die Haare schneiden?“

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