Zwei Freunde

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Liselotte Welskopf-Henrich

Zwei Freunde

Roman

Mit einem Nachwort von Gerd Noglik

Palisander

eBook-Ausgabe

© 2015 by Palisander Verlag, Chemnitz

Erstmals erschienen 1956 im Verlag Tribüne, Berlin

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Covergestaltung: Anja Elstner unter Verwendung des Bildes »Großstadtwinkel« von Hans Baluschek

Lektorat: Palisander Verlag

Redaktion & Layout: Palisander Verlag

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2015

ISBN 978 - 3-957840 - 12-7 (e-pub)

www.palisander-verlag.de

Liselotte Welskopf-Henrich (1901 - 1979) war eine deutsche Schriftstellerin und Wissenschaftlerin. In den Jahren der Naziherrschaft war sie am antifaschistischen Widerstandskampf beteiligt. Ihre Erfahrungen aus der Weimarer Republik und dem »tausendjährigen Reich« verarbeitete sie in ihren Romanen »Zwei Freunde« und »Jan und Jutta«. 1951 erschien die Urfassung ihres Indianerromans »Die Söhne der Großen Bärin«, den sie später zu einem sechsteiligen Werk erweiterte. 1966 erschien »Nacht über der Prärie«, der weltweit erste Gesellschaftsroman über die Reservationsindianer im 20. Jahrhundert. In den folgenden Jahren, bis zu ihrem Tod, entwickelte sie diese Thematik in vier weiteren Bänden weiter. Darüber hinaus war sie seit 1960 Professorin für Alte Geschichte an der Berliner Humboldt-Universität und seit 1962 Mitglied der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Sowohl als Wissenschaftlerin als auch als Schriftstellerin fand sie internationale Anerkennung. Die Stammesgruppe der Oglala verlieh ihr für ihre tatkräftige Unterstützung des Freiheitskampfes der nordamerikanischen Indianer den Ehren-Stammesnamen Lakota-Tashina, »Schutzdecke der Lakota«.

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

Über die Autorin

Teil I – Ein Anfang und das Ende

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Teil II – Das Ende und ein Anfang

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Nachwort

Weitere Bücher

Teil I

Ein Anfang und das Ende

1

Der junge Mensch löste sich aus dem Schlaf. Aus dem Mutterschoß des Unbewußten gelangte er wie das Neugeborene in Träume und Ahnungen; durch noch geschlossene Lider grüßten ihn rote und grüne Sonnen des werdenden Lichts. Er öffnete die Augen, und die bunten Sonnen erloschen. Im Dämmer zerfloß noch gnädig die Härte begrenzter Gegenstände. Das Bewußtsein schied den Erwachenden nur langsam aus dem Eins, in das die Arme des Kosmos ihn geschlungen hatten.

Das Schrillen des Weckers vernichtete die harmonischen Schwingungen von Leib und Seele. Dieses hassenswerte künstliche Werk, in dem Oskar Wichmann am Abend seinen Willen mechanisiert hatte, um zur festgelegten Stunde in die bürgerlichen Einteilungen zurückzukehren, schrillte mit unaufhörlichem Schreien. Der Fünfundzwanzigjährige hörte ohnmächtig dem Rufen seiner eigenen Entschlüsse zu. Er schlug die seidenbezogenen Daunendecken zurück, erhob sich von der Couch und lief bloßfüßig über den Teppich zu dem Kalender, auf dem nach dem Lösen des obersten Blattes der »1. Oktober 1928« in schwarzen Lettern erschien.

Die Wandlung war vollzogen. Der Regierungsassessor, Doktor der Rechte, begriff, daß ihn das hohe Ministerium, Erzeugnis desselben menschlichen Geistes, der Uhr und Kalender erfunden hatte, ab heute zum Dienst berief. Er begab sich durch die weiträumige Wohnung in das Badezimmer, dessen Benutzung in dem Mietpreis eingeschlossen war. Durch die grüne Fensterscheibe fiel schwindsüchtig das Herbstlicht. Die Wanne war gestrichen und an den Stellen, die der Wasserstrahl traf, verfärbt. Aus dem kalten Wasser stieg für den Badenden noch einmal ein Phantasiebild von nachtkühlem See und ersten Sonnenstrahlen auf. Die gesunden, kräftigen Glieder fröstelten. Dann verflog das Bild, und es blieben Seife, Frottierhandtuch und Rasierapparat.

Nach der Rückkehr in sein Zimmer hielt sich der Regierungsassessor vor dem Standspiegel auf, den die verwitwete Geheimrätin ihm abgetreten hatte. Er streckte das Kinn vor und strich über die glatte Haut, an der kein dunkler Schimmer mehr zu sehen war. Hemd, Socken, Krawatte, die zu dem gewählten Anzug paßten, lagen schon bereit, aber er verwarf die Entscheidung des vergangenen Abends wieder und kramte das noch bessere Hemd mit den feinen Streifen, die noch diskreter gemusterte Krawatte aus den Tiefen der Schublade hervor. Als der Scheitel durch das braune Haar gezogen, die Nägel geschnitten waren, rief die Klingel nach dem Frühstück.

Der Wartende trat an das rechte der beiden altmodisch hohen Fenster. Vor dem Haus tanzte die Sonne in den Nebelschleiern, die die Nymphen des nahen Parks nächtlicherweile in die Kreuderstraße hinübergeworfen hatten. Der Zuschauer verfolgte das Spiel, während sich seine Fingerspitzen im eindringenden Sonnenlicht wärmten. Die Straße unten lag morgendlich still. Die glatte Ruhe des Asphalts war nicht von Schienen durchfurcht, und nur wenige Spuren bremsender Autoreifen deuteten auf das Ausundeingehen der Familien und Gäste in den anliegenden Häusern. In der Mitte der Fahrbahn lagen drei welke Ahornblätter, die den Bemühungen des täglich und sorgsam reinigenden Besens entgangen waren. Der Wind hatte ihr sterbendes Leben von jenen Zweigen gepflückt, die das Gartentor der gegenüberliegenden Villa verschatteten. Die gilbenden Blattfächer der noch lebendigen Schwestern und Brüder fraßen tausendfältig Lichtstrahlen in ihre Zellen und Adern und ließen den sandbestreuten Gartenweg mit den Rasenrändern unter sich im Moderduft. Weit hinter dem Ahornbaum, der die Neugier ausschloß, schimmerte das undurchsichtige Glasauge eines Fensters.

 

Es klopfte und Martha trat ein. Ihre Augen blinkten munter. Sie brachte den duftenden Kaffee, Brötchen, Butter und das Ei, das Oskar Wichmann sich zur Stärkung seiner Willenskraft an einem bedeutenden Tag gestatten wollte.

Nein, der Herr Doktor hatte sonst keine Wünsche.

Der junge Mann schaute noch immer durch das geöffnete Fenster, während er schon am Frühstückstisch saß und seine Zunge Butter und Dotter langsam zergehen ließ. Das versteckte Haus drüben lockte die Phantasie. Eine kühle Frau oder ein morgenfrisches Mädchen hätten aus diesem Hause heraustreten können. Aber der sandbestreute Weg blieb leer, und die schmiedeeiserne Rose des Torgriffs wurde nicht bewegt.

Die Uhr, deren Schreien sich vor einer halben Stunde überschlagen hatte, wollte nicht mehr vorrücken. Der Assessor hatte den Wecker zu früh gestellt. Wenn er sich diese Tatsache eingestand, mußte er auch zugeben, daß sein Unterbewußtsein wieder einmal mit mehr Achtung vor einem gewissen Ministerium gearbeitet hatte, als sein wacher Wille wahrhaben wollte. Mochte das Ministerium einem kleinen Regierungsassessor gegenüber von seiner Größe sehr überzeugt sein; Oskar Wichmann, von Bad und Frühstück gekräftigt, sah die Welt in anderen Dimensionen. Man hatte ihn berufen, und er wollte eine Probe machen, ob ihm die neue Dienststelle zusagte. Einem jungen Mann standen heute, da es der Wirtschaft nicht schlecht ging, viele Türen offen. Die Herren Ministerialräte würden sich ein wenig bemühen müssen, wenn sie Oskar Wichmann festhalten wollten. Es war ein bedeutsames Zeichen für ihre Einsicht in dieser Richtung, daß sie sich entschlossen hatten, einen sehr jungen Assessor in die Reihen ihrer Unnahbarkeit aufzunehmen. Es handelte sich allerdings um einen Assessor mit vorzüglichen Zeugnissen, aus guter Familie, von guter Erscheinung.

Die Eierschale war ausgegessen. Wichmann sah die »Frankfurter Zeitung« und die »Deutsche Allgemeine Zeitung«, die er sich selbst bestellt hatte, zerstreut durch und warf einen Blick auf den »Lokalanzeiger«, den die Geheimrätin ihm hatte dazulegen lassen. Die allgemeinen Verhältnisse interessierten ihn heute wenig. Sein Inneres war angefüllt mit persönlichen Erwartungen wie eine Flasche mit Wein; er mußte sich selbst kalt stellen, um für sich und seine Umgebung genießbar zu bleiben. Mit vorgetäuschter Gelassenheit ordnete er nochmals an seiner Kleidung und den wenigen persönlichen Gegenständen in dem großen Renaissance-Herrenzimmer des verstorbenen Herrn Geheimrats.

Es blieb nichts mehr zu tun. Draußen verflog schon der Nebel in der Sonne.

Noch einmal rückte die Hand an dem Hut – eine Aktenmappe war heute noch nicht nötig –, und der Doktor der Rechte ging auf die Tür zu. Die barocke Holzfigur des alten Heiligen in der Zimmerecke streckte ihm aus dem faltenreichen Gewand mahnend die drei übriggebliebenen Finger entgegen.

Das Zimmer war verlassen, und die Schritte des Anwärters einer steilen Laufbahn hallten über das Pflaster.

Vor dem in maßvollem Schritt Gehenden verließ ein dunkles Kabriolett die Straße in gleicher Richtung. Er hatte nicht darauf geachtet, woher es gekommen war. Glücklicherweise wurden weder hierüber noch über seine Wege durch den Park eidliche Zeugenaussagen von dem Assessor verlangt. Er hatte nichts wahrgenommen als lockererdige Reitwege, grüngelbes Licht und moorige Teiche, auf denen die Enten quakten.

Der Park entließ ihn in die breite Residenzstraße, noch immer ein Bereich feudaler Vornehmheit, überdacht von alten Bäumen, geschändet von hupenden Autos. Wichmann bog zur Seite ab, und seine Nerven spannten sich schärfer. Der Platz tat sich auf, an dem neben dem alten Palais das mächtige Eckgebäude des Ministeriums stand.

Die Masse des Sandsteins war von den Urgroßvätern mit Simsen und Friesen in zierlich-schlichte Gliederungen gezwungen worden. Verschobene Steine teilten die großen Wände. Zwischen Greifen und attischen Kriegern glänzten die Fensterscheiben. Das Schwebendverschleierte des Herbstlichts band jedoch alles wieder zu einer verschwimmenden, scheinbar schwerelosen Einheit, die in stiller Helle vor dem Beschauer stand, mehr eine Vision als Wirklichkeit.

Über die gestrafften Nerven des Näherkommenden lief ein leichtes Prickeln und Zittern. Er wußte von den Entscheidungen, die bei ersten Begegnungen unwiderruflich fallen konnten, und seine Phantasie schuf sich Bilder unsichtbarer Mächte, die, dauernd und doch nicht ewig, schwer zerreißbare Garne um den einzelnen werfen. Es mochte sein, daß sich Hürden, die er im Sprunge nehmen wollte, auf einmal wie lebend erhoben und daß irgendein Schritt endgültig würde, ehe er es ahnte.

Mit einer durch festen Entschluß verneinten Beklemmung trat Oskar Wichmann in das große Portal ein.

Von den mehrfarbigen Steinfliesen hob sich die breite Freitreppe mit dem Purpurteppich vor seinen Augen ab, und wenn nicht die Gestalt des Pförtners Halt gebietend an seiner Seite aufgetaucht wäre, er hätte vielleicht selbst einen Augenblick gezögert, diese Stufen zu betreten.

Der blaue Dienstrock und die weißen Schläfen verlangten Rechenschaft.

Regierungsassessor Dr. Wichmann war für heute einberufen. Ministerialrat Dr. Grevenhagen erwartete ihn um neun Uhr.

Die Augenbrauen, die auffallend dunkel in dem alten Pförtnergesicht standen, verzogen sich in einer Mischung von Achtung und Kritik. Herr Ministerialrat Dr. Grevenhagen war schon im Dienst, jawohl. Die jüngeren Herren seiner Abteilung pflegten aber den Nebeneingang in der Ottostraße zu benutzen. Wenn Herr Assessor Dr. Wichmann durchaus wünschte, so stand ihm der Fahrstuhl zur Verfügung. Links bitte zweiter Stock, Westflügel Abteilung III, Meldezimmer Nr. 436.

Die Kräfte waren ausgeglichen. Der Mann im blauen Tuchrock hatte sein Heiligtum, die Marmortreppe, mit Würde verteidigt. Oskar Wichmann aber benutzte nicht den empfohlenen Eingang in der Ottostraße, sondern jene elektrifizierte Einrichtung, die sich neben den prunkenden Stufen bescheiden in die linke Ecke drückte.

Der vornehme Fahrstuhlführer war für die Zigarette, die seine Bekanntschaft mit dem neuen Mitglied des Ministeriums enger gestaltete, durchaus dankbar. Er verließ im zweiten Stock sein erleuchtetes Gehäuse und geleitete den Novizen über graue Läufer an den Treppen vorbei in den Flügel des Hauses, der sich zur Ottostraße hin erstreckte. An jeder der Türen, die man passierte, standen Namen und Rang des Zimmerinsassen verzeichnet:

Nr. 411, rechter Hand, mit der Front noch gegen den Königsplatz: eine Tür ohne Schild; Nr. 412, das folgende Zimmer: Dr. Grevenhagen, Ministerialrat.

Der Führer ging noch einige Schritte weiter bis zu dem Meldezimmer Nr. 436. Im Hintergrund ordneten zwei Amtsgehilfen Briefe und Aktenlaufmappen. Der Fahrstuhlführer erklärte das Anliegen seines Schützlings.

Die beiden Amtsgehilfen unterstrichen durch Fortsetzung ihrer ordnenden Tätigkeit zunächst deren Bedeutung. Als diesem Erfordernis Genüge getan war, begab sich der jüngere über den grauen Läufer zu jener hohen, hell gestrichenen Tür, an der Wichmann den Namen seines künftigen Vorgesetzten gelesen hatte. Wichmann beobachtete, wie der Bote nach kurzem Klopfen öffnete und in der halbgeöffneten Tür, die Klinke in der Hand, stehenblieb, um in das Zimmer hineinzusprechen. Dieses Verhalten ließ untrüglich darauf schließen, daß die mit dem Namen »Grevenhagen« versehene Tür Nr. 412 nur in das Vorzimmer leitete, während der Gewaltige selbst hinter der Tür ohne Namen für unerbetene Besucher unerreichbar blieb. Die Worte des Boten konnte der Wartende im Meldezimmer nicht verstehen, die Antwort, die er erhielt, nicht hören. Er geduldete sich, bis der Mann zurückkehrte.

Ministerialrat Grevenhagen war zu einer Besprechung bei Boschhofer gerufen worden und ließ Herrn Assessor Dr. Wichmann bitten zu warten. Vielleicht zog der Herr Assessor es vor, in dem Zimmer Nr. 412 bei Fräulein du Prel Platz zu nehmen.

Das Vorzimmer, in das Dr. Wichmann sich begab, war hell möbliert. Am Fenster stand ein Strauß bunter Zinnien in einer weißen Porzellanvase. Vor der Sekretärin Grevenhagens, Fräulein du Prel, machte Oskar Wichmann unwillkürlich eine tiefere Verbeugung, als er beabsichtigt hatte. Durch das Dunkel ihres schlichten Kleides und des glatt gescheitelten Haares schied sie sich auffallend von der lichten Umgebung. Der Unbeschäftigte sah ihren Händen zu, die über die Tasten der Schreibmaschine gingen. Das Klappern der Tasten unter dem leichten Anschlag und das Ticken der Wanduhr waren die einzigen Geräusche. Durch das halbgeöffnete Fenster kamen von draußen nur Licht und Stille; der große Platz vor dem amtlichen Gebäude lag leer.

Die weißen Blätter raschelten kaum beim Auswechseln. Der Uhrzeiger rückte auf fünf Minuten nach neun.

Am Kleiderständer hing nichts als der Hut des Regierungsassessors. Da Wichmann keine Aktenmappe bei sich trug, fiel es ihm schwer, seine Hände zweckmäßig zu gruppieren. Das schweigende Warten entnervte auch in kurzer Zeit.

Der Assessor versuchte, seine Gedanken auf ein Ziel zu richten. Boschhofer … Ministerialrat Grevenhagen war »Zu Boschhofer gerufen« worden. Warum nicht zu Ministerialdirigent oder Ministerialdirektor oder Staatssekretär Boschhofer? Wenn der Mann dieses volltönenden Namens befugt war, Grevenhagen »rufen zu lassen«, so stand er höher im Rang als der Ministerialrat. Warum hatte der Amtsgehilfe, dem die Titel »Ministerialrat« und »Assessor Dr.« so flink von den Lippen schlüpften, den Titel des anderen nicht genannt? Einfache Leute machten sichere und begründete Unterscheidungen. Was war das für ein Mann, »Boschhofer?« Wirkte er sogar bei einem Amtsgehilfen durch seinen Namen schlechthin? Oder aberkannte ihm der Bote einen Rang, den er nicht berechtigt fand?

Die Zinnien am Fenster waren mit viel Geschmack in einer Fülle der zarten Abschattierungen von dunklem Rot und Blau geordnet. Fräulein du Prel arbeitete, ohne aufzusehen. Wichmann hatte das Gefühl, daß ihre flinken, ringlosen Finger nie eine falsche Taste trafen. Sie hatte schmale Hände und ein zartes ernstes Gesicht. Trotz oder gerade durch Schlichtheit wirkte ihr Äußeres elegant.

War der Arbeitseifer in dem hohen Ministerium so groß, daß Besprechungen zwischen Ministerialräten und Ministerialdirektoren üblicherweise morgens um neun Uhr angesetzt wurden? Kaum. Grevenhagen selbst war überrascht worden; er hatte Wichmann für neun Uhr bestellt, in der Annahme, anwesend zu sein. Ein neuer und wichtiger Vorgang mußte die Besprechung veranlaßt haben.

Das Telefon schnarrte.

Fräulein du Prel nahm den Hörer auf und meldete sich, leise, zurückhaltend, aber nicht ohne Klang in der Stimme. Die Stimme paßte zu der Erscheinung dieses Mädchens. Wie alt mochte die Sekretärin sein? Zwanzig Jahre?

»Jawohl, Herr Ministerialrat.«

Fräulein du Prel verließ die Maschine, holte ein Aktenstück aus den wohlgeordneten Fächern des Aktenschrankes und eilte hinaus.

Bei der Besprechung der hohen Herren wurde offenbar noch Material gebraucht.

Wichmann legte ein Bein über das andere und stützte den Arm auf den runden Tisch. Die zurückkehrende Sekretärin stockte, sah sich um und brachte dem Wartenden dann den gehefteten Geschäftsverteilungsplan des Ministeriums.

Wichmann begann die Geschäftsordnung der Abteilung, in die er berufen war, zu studieren. Abteilung III, Leiter: Ministerialdirektor Josef Boschhofer. Referat 1: Ministerialrat Dr. jur. Grevenhagen; ihm untergeordnet: Regierungsrat Dr. Korts. Referat 2: Ministerialrat Dr. Nischan; ihm unterstellt: Oberregierungsrat Dr. Meier-Schulze, Regierungsräte Dr. Borowski, Dr. Nathan, Dr. Loeb, Regierungsassessor Dr. Casparius. Ach noch ein Assessor! War es in diesem Ministerium Gewohnheit, Assessoren einzuberufen? Wichmann fühlte sich in seinem Selbstbewußtsein beeinträchtigt. Es gefiel ihm jedoch, daß er dem »Referat 1« zugeteilt werden sollte, in dem die Mitarbeiter nicht zahlreich waren. Drüben im Referat 2 schienen sie in größerer Menge und daher vermutlich geringerem Werte vorhanden. Die Namen brauchte man sich vorläufig nicht zu merken.

 

Im Korridor ging ein dienstlich schneller Schritt vorbei. Wichmann glaubte zu hören, daß er vor der mit keinem Namen bezeichneten Nebentür endete. Ein Geräusch wie das Umdrehen eines Schlüssels entstand, und ein leises Auf- und Zugehen in den Angeln war zu vernehmen.

Wieder herrschte Stille, aber Fräulein du Prel hatte den Kopf etwas gehoben.

Ein nicht sichtbarer Apparat rasselte leise. Die Sekretärin wurde zum Chef gerufen.

Ministerialrat Grevenhagen ließ bitten.

Oskar Wichmann hatte keine Zeit, darüber nachzudenken, daß sein Herz einen schnelleren Gang einschaltete. Er schloß die gepolsterte Doppeltür hinter sich, seine Füße fühlten durch die Schuhsohlen einen weichen Teppich. Er verbeugte sich und nahm auf einem einfachen Stuhl, dem Diplomatenschreibtisch gegenüber, Platz. Seine Hände waren noch immer unnütz.

Ministerialrat Grevenhagen fragte sehr sachlich und kühl, und der Kandidat empfand den Ehrgeiz, ebenso farblos und korrekt zu antworten.

Nein, er hatte sich für diese spezielle Materie noch nie interessiert, hoffte aber, sich bald einzuarbeiten.

Er würde nicht versäumen, sich bei Ministerialdirektor Boschhofer zur Vorstellung anzumelden.

Mit Regierungsrat Korts und Inspektor Baier war er noch nicht bekannt geworden.

Das Telefon vermittelte Fräulein du Prel den Auftrag, die beiden Mitarbeiter des Referats in einigen Minuten zu rufen. Ministerialrat Grevenhagen hatte eine Mappe mit schwerem Deckel aufgeschlagen und leistete unterdessen Unterschriften. Die Feder ging glatt über das Papier. Der Name war in steilen Buchstaben ausgeführt und ohne Irrtum zu lesen, auch als er an diesem Morgen zum zwölften und, wenn man einige Jahre rechnete, vielleicht zum mehrtausendsten Male geschrieben wurde. Ein einziger versteckter Schnörkel des beginnenden »G« gab Rätsel auf.

Die Nägel der schreibenden Hand waren kurz, mit einer nur andeutenden Spitze geschnitten und erinnerten in ihrer peinlichen Sauberkeit an sandgescheuerte Friesenhäuser. Die Hand war schlank und weißhäutig, etwas welker, als dem Alter dieses Mannes angepaßt sein mochte, und doch in Übereinstimmung mit dem hellgrauen Haar, das der Scheitel in geradliniger Ordnung teilte. Ministerialrat Grevenhagen gehörte zu den Menschen, die auch im Sitzen schlank und groß wirken. Der Siegelring zeigte ein eigentümliches Wappen.

Als das letzte Blatt unterzeichnet und die Mappe an den zum Abtragen bestimmten Platz gelegt worden war, hob sich der schmale Kopf hinter dem Schreibtisch, und Oskar Wichmann wurde von dem Blick, der ihn traf, so gefesselt, daß ihn nur das anerzogene Verhalten in bestimmten gesellschaftlichen Lagen davor behütete, den Vorgesetzten länger als eine Sekunde anzustarren. Aber auch als er sich zwang, die Lider hin und wieder zu senken und sein Gegenüber nur im ganzen in den Gesichtskreis zu nehmen, hatte er in Wahrheit nichts als den Blick vor sich, der ihn gemustert hatte. Grevenhagens Augen waren von einem hellen Blau, das sich mit dem nördlichen Himmel am Morgen vergleichen ließ; sie schienen in die Tiefe zu fassen und wieder über alles hinwegzugleiten wie die Augen der Seeleute oder der Hirten, in die das Wesen einer weiten Landschaft eingegangen ist.

Auch der Ministerialrat mochte in der kurzen Spanne, in der sich sein Blick mit dem Oskar Wichmanns fester getroffen hatte, einen ersten Eindruck von dem Charakter des ihm noch Unbekannten gewonnen haben. Seine linke Hand holte eine dunkelblaue Mappe, die er auf dem großen Schreibtisch etwas abseits geschoben hatte, wieder herbei und stellte den Deckel auf, während die rechte, noch nicht ganz schlüssig, ein paar zusammengeheftete, mit Schreibmaschine beschriebene Blätter in der Mappe hin- und herzog.

»Sie haben sich auch mit wirtschaftlichen Dingen befaßt?«

»Ja.«

»Vielleicht lesen Sie nebenbei die kleine Ausarbeitung hier, die Vorgänge am Rande unseres Arbeitsgebietes behandelt. Vertraulich. Wenn Sie sich zu angestrichenen Fällen irgendwelche Gedanken machen oder Kritik erlauben wollen … um so besser.«

Stumme Verbeugung.

Oskar Wichmann erhielt die Blätter im schützenden blauen Aktendeckel. Er faßte ihn vorsichtig, in dem Gefühl der noch nicht durchschauten Bedeutung des Inhalts, und beobachtete die Art, in der sich die Mundwinkel des Ministerialrats leicht herunterzogen.

Es klopfte an der Polstertür. Die beiden Mitarbeiter traten ein, und Wichmann, der ihnen vorgestellt wurde, merkte sich nicht viel mehr als die Namen und den auffallenden Unterschied der Erscheinung zwischen dem stämmigen, mit körperlicher Energie geladenen Regierungsrat Korts und dem blassen Inspektor Baier, der im Hinausgehen seine Brille putzte.

Die drei Herren waren gemeinsam wieder verabschiedet worden. Wichmann folgte dem Inspektor, um alles das zu hören und entgegenzunehmen, was zu den äußerlichen Bedürfnissen, Beschränkungen und Aufgaben eines Assessors der Abteilung III im Ministerium gehörte.

Als Wichmann endlich, sich selbst überlassen, in seinem neuen Dienstzimmer stand, öffnete er einen Spalt des Fensters. Schattigkühle Herbstluft wehte aus dem Hof herein, den das Gebäude in einem großen Viereck umschloß. Zwei Ulmen, die ihre Blätter verloren, reichten mit der Spitze der Zweige in den Morgensonnenschein, der über das Dach weg in schräger Richtung nur die oberen Stockwerke des Hauses traf. Oskar Wichmann setzte sich zum erstenmal auf seinen Schreibtischstuhl, der nun tagaus, tagein sein Platz sein sollte. Noch einmal rückte er an den Bleistiften, bis sie in ganz genauer Reihe lagen. Inspektor Baier hatte ihm schüchtern und dennoch bestimmt erklärt, daß ein Assessor und ein Regierungsrat mit Tintenstift oder Tinte zeichne, beziehungsweise anmerke, ein Ministerialrat mit Blaustift, der Ministerialdirektor mit Rotstift, der Staatssekretär grün und der Minister gelb. In eben dieser Reihenfolge der Amtsstufen lagen die Stifte jetzt auf dem Tisch des Anfängers und bezeichneten die Möglichkeiten seiner Zukunft – schwarz, blau, rot, grün – bis zum Staatssekretär. Wenn es ihm beliebte, in diesem Hause alt zu werden! Nein, vermutlich beliebte ihm dies nicht. Hier wollte er nur einige erste Schritte tun, um dann – was dann? Er wußte es selbst noch nicht.

Ehe der Assessor begann, die Aufträge seines unmittelbaren Vorgesetzten auszuführen, konnte er sich im Vorzimmer von Boschhofer telefonisch zur Vorstellung anmelden. Das Verzeichnis der Ruf- und Zimmernummern der im Hause Diensttuenden verriet, daß der Ministerialdirektor im ersten Stock hauste. Boschhofer, Josef Boschhofer; Vorzimmer-Ruf Nr. 269. Als Wichmann die Hand nach dem Hörer ausstreckte, der schwarz, gekrümmt auf der Gabel lag, durchflutete ihn eine eigentümliche Ahnung, und er zögerte etwas, ehe er zugriff. Was denn, fürchtete er sich? Er war ja wohl verrückt!

Die Zentrale hatte eine schnippische weibliche Stimme.

»Nr. 269 bitte.«

»Vorzimmer von Ministerialdirektor Boschhofer.«

Wichmann brachte sein Anliegen vor.

Die Antwort der Sekretärin klang nach einem längst volljährigen Mädchen mit dickem Hals und starkem Busen. Ministerialdirektor Boschhofer sei durch Sitzungen sehr in Anspruch genommen – Dr. Wichmann werde vorgemerkt. Anruf gegebenenfalls auch in der Handbücherei, ja. So schnell werde er jedoch kaum empfangen werden.

»Danke.«

Der Hörer knackte wieder auf die Gabel. Boschhofer … Boschhofer. Wichmann summte den Namen vor sich hin. Namen hatten schon als Kind seine Neugier geweckt. Er liebte die farbigen, vorstellungskräftigen Bezeichnungen, die er in seinen Indianerbüchern gefunden hatte: Langspeer, Nachtwandler, brennendes Wasser, flinker Hirsch – Stern, der über dem Berge aufsteigt, und »ihre Füße singen, wenn sie geht«. Boschhofer … Boschhofer … Es gab Märchen, in denen man Namen wissen mußte, um zu zaubern, in denen der Name eine eigene Bannkraft hatte. Alle diese Beziehungen waren jetzt verschüttet von Straßenstaub und Wissenschaft. Nur ein letztes war noch geblieben, der Zusammenhang von Name, Geschichte und Landschaft. Boschhofer … starker dicker Mann, etwas ganz anderes als das Nordlicht Grevenhagen. Eine Beziehung von Acker, Bier, Mastochsen, Barockkirchen und goldenen Engeln, Fett, Schlauheit, Selbstbewußtsein. Die Vorzimmerdame mußte bunter gekleidet sein als Fräulein du Prel, die Unnahbare. Grevenhagen – Grevenhagen – Patrizierahnen, Marschen und tangbehangene Deiche, Schiffsmasten, salziger Geruch der weither rollenden Wogen, Kühle und ein wenig müde gewordener Hochmut und ihm vorgesetzt: Boschhofer – Boschhofer … Da kreuzten sich Ströme, und vielleicht strudelten Wirbel. Der Assessor bildete sich plötzlich mit Gewißheit ein, daß Grevenhagen den Namen Boschhofer auf eine gezwungene Art ausgesprochen habe. Wichmann hatte sich vor dem Hörer gescheut wie ein Mann, der in unbekannte Linien eines Kraftfeldes hineinspringen soll.

Nun war es geschehen.

Wenn der einsame Assessor an seinem Schreibtisch den Kopf hob, sah er die kahle, gelblich gestrichene Wand vor sich, links lag das Fenster. Sein Dienstzimmer war nicht groß; er hockte auf beschränktem Raum zwischen Tisch, Schrank, Regal, Aktenbock und verdecktem Waschtisch. Sitzgelegenheiten waren nur für zwei Besucher vorgesehen. Assessoren hielten noch keine Konferenzen ab.

Die Handbücherei lag nach der anderen Seite der Ottostraße zu. Er wollte später hinübergehen. Erst reizten ihn die Blätter in der blauen Mappe.

Als er den Deckel aufschlug, fand er vier Seiten Schreibmaschinenschrift im Original, auf festem weißem Papier, wie es schien, ganz ohne Fehler geschrieben, von Fräulein du Prel natürlich; er kannte schon den Typ der Adlermaschine. Gleich die ersten Sätze verrieten, daß es sich um ein Exposé über die zu erwartende Konjunkturentwicklunghandelte. Das Ganze war nicht so optimistisch gestimmt, wie Wichmann gefühlsmäßig für richtig gehalten hätte, doch waren die weniger günstigen Prognosen einleuchtend begründet. Auf der vierten Seite, rechts unten in der Ecke, stand das in Blaustift ausgeführte »G« mit dem versteckten Schnörkel. Eine Ausarbeitung des Ministerialrats persönlich.

Wichmann suchte angestrichene Stellen, aber er konnte nicht mehr als die eine auf der zweiten Seite entdecken, die ihm schon beim ersten Blick aufgefallen war. Der Satz: »Die Zahl der Hauptunterstützungsempfänger in der Arbeitslosenversicherung hielt sich im August 1928 noch auf dem jahreszeitlich bedingten niedrigen Stand« war mit Bleistift dick unterstrichen, und am Rande dieser Zeile stand ein grünes Fragezeichen.

Ein grünes Fragezeichen.

Vorrecht des Staatssekretärs!

Wichmann klappte die Mappe zu, griff sich zwanzig linienlose Bogen, untersuchte, ob der Füllhalter ordnungsgemäß in der linken Brusttasche hing, und machte sich auf den Weg. In der Handbücherei wollte er die Unterlagen suchen, um den beanstandeten Satz nachzuprüfen.

Der langgestreckte Raum der Abteilungsbücherei mit den großen Fenstern war ohne Aufsicht und Besucher. Das Licht lag hell auf den abgewetzten Stellen der grünen Tischbespannung; es roch nach dem Staub der Bücherborde, die schwer belastet die Wände säumten. Die Ärmlichkeit des Raumes, die hilflose Pedanterie, mit der ein Handbesen die Wolle der Tischbespannung abgekehrt zu haben schien, um den Staub in die Ecken zu treiben, in denen er die papiernen Mumien juristischer Geister fraß, die alten ausgebleichten Tintenkleckse, Zeugen vergangenen Fleißes, erinnerten – Wichmann wußte nicht, warum – an den Inspektor Baier und seine Brille in der billigen Stahlfassung. Während Wichmann die Aufschriften auf den Rücken der Gesetzblätter, der Kompendien und Kommentare zu entziffern suchte, fiel ihm ein, daß Herr Baier wirklich als der für die Ordnung dieser Bibliothek Verantwortliche genannt worden war.