Suzanne

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9

Roy stand wohl nun schon eine halbe Stunde vor dem Badezimmerspiegel, die Hand am Rasierapparat, mit dem er gerade einmal die Hälfte der linken Wange bearbeitet hatte, und blickte sich selbst in die Augen wie ein Fremder. Die letzten Sätze, die er eben geschrieben hatte, waren in der Tiefe seiner fremdartig wirkenden Pupillen abgetaucht. Wenn er nochmals so lieben könnte wie dieser Levi! Plötzlich hörte er vertraute Stimmen. Die laut streitenden Kinder waren zurückgekommen, übertönt noch von den Schimpfkanonaden ihrer Mutter. Er lächelte. Gut, dass er sich das hatte ersparen können. Die Stimmen seiner Kinder ließen ihn aus seiner Agonie erwachen. Er schaltete den Rasierapparat wieder ein und wollte seine Rasur vollenden, als die Badezimmertür von seiner älteren Tochter aufgerissen wurde.

»Hast du bist jetzt geschlafen?«, wunderte sie sich.

»Nein, natürlich...«

»Mami, Papi hat bis jetzt geschlafen!«, rief sie in den Wohnraum, ohne dass er seinen Satz vollenden konnte. Die Jüngere drängelte sich zur Tür herein, um das Wunder zu bestaunen. Mit großen Augen sah sie Roy an, als habe sie ihn jetzt erst zu ersten Mal gesehen! »Papi rasiert sich gerade!«, rief sie ins Wohnzimmer. »Mach mal hinne, ich muss mal!«, kommandierte sie dann.

»Ich zuerst«, kam ihr die Größere zuvor und schon hatten sie sich wieder lautstark in den Haaren. Er zog die Augenbrauen hoch und überließ das Bad den beiden Streithennen. Seine Frau, damit beschäftigt, die Jacken und Taschen, die die beiden Geschwister achtlos fallengelassen hatten, aufzuheben, würdigte ihn keines Blickes. Sie schaute so demonstrativ an ihm vorbei, dass es schwer fiel, dies nicht zu bemerken.

»Ich..«, begann er nach einer Weile unschlüssigen Herumstehens.

»Spar dir deine Worte!«, fauchte sie ihn an.

»Hör zu...«, versuchte er es aufs Neue. Sie wandte sich demonstrativ von ihm ab.

»Warum kannst du nicht einmal vernünftig mit mir reden?«, rief er.

»Schrei mich nicht an!«, schrie sie zurück.

»Ich schrei doch gar nicht, du schreist!«, gab er verärgert zurück.

»Das nennst du nicht schreien? Du kannst gar nicht anders als schreien!«, schrie sie noch lauter und knallte eine Tasche auf das Bett.

»Du hast angefangen zu schreien!«, verteidigte er sich. »Ich wollte...«

»Du wolltest, du wolltest... Wenn du gewollt hättest, dann wärst du wohl mitgefahren. Wir interessieren dich überhaupt nicht!«

»Stimmt doch gar nicht. Ich...«

»Das einzige, was dich interessiert, ist dein scheiß Buch!« »Nun hör aber auf«, gab er empört zurück.

»Du schreist schon wieder!«, zeterte sie weiter.

»Weil ich sonst überhaupt nicht zu Wort komme.« »Vor allem kommst du nicht zu Wort! Du hast schon viel zu viel Mist geredet! Ich hatte mich auf einen entspannten Urlaub gefreut, aber du legst offenbar keinen Wert darauf! Aber mach nur so weiter. Du wirst schon sehen, wohin das führt!« Ihm lag eine Erwiderung auf der Zunge, doch er schluckte sie herunter, da er wusste, dass mit ihr kein vernünftiges Wort zu reden wäre. Sie konnte niemals, niemals auf das letzte Wort verzichten, gleich wie stichhaltig seine Argumente auch waren. Das hätte ein Eingeständnis ihres Irrtums bedeutet und ein Wort, dass er nach einem unnötigen Streit noch nie von ihr gehört hatte, war das kleine Wort »Entschuldigung.« Es kam nicht über ihre Lippen.

»Brötchen liegen auf dem Tisch«, sagte er nur und ging aus dem Haus, um sich in den kleinen Vorgarten zu setzen.

Sonja kam heraus, ihr Touchpad in der Hand. »Seid ihr endlich fertig mit Streiten?«

»Ich schon«, murmelte er. »Wie wars denn?«

»Cool, aber auch ein bisschen langweilig. Wir haben uns total verfahren, einmal.« Das freute ihn irgendwie.

»Schlimm?«

»Nö, ging so. Mama hat geweint. Sie hatte das Navi vergessen. Aber jemand hat uns geholfen.«

»Jemand?«

»Ja, so'n Typ.«

»Was für 'nen Typ?«

Sie zuckte nur mit den Schultern und war schon so mit Scrollen und Antippen beschäftigt, dass sie es für unnötig hielt, nähere Ausführungen darüber zu machen.

Er seufzte. Wieso eigentlich glaubte er immer noch, Familienurlaube müssten erbaulich sein?

Marie kam an einem Brötchen kauend aus dem Haus.

»Warum bist du nicht mitgekommen?« »Wollte ich ja. Ich bin zum Bäcker gegangen und hab mich etwas verschätzt mit dem Weg.« »Brötchen sind echt lecker!«, mampfte Marie.

»Hier werden noch richtige Brötchen gebacken«, bestätigte er, obwohl er selber noch nichts gegessen hatte.

»Kriegen wir bald was zu essen?«, fragte Marie, die immer Hunger hatte. »Mama will was grillen heute!«

»Haben wir denn was im Haus zum Grillen?« Marie zuckte mit den Schultern und kickte gegen den Ball, den sie ins Gras geworfen hatte. Der bummerte gegen die Hauswand. Bum, bum, bum.

»Marie, hör sofort mit dem Krach auf«, kam Iris Stimme von drinnen.

Er beschloss die Taktik, »Es ist nichts gewesen«, anzuwenden. Sie bestand darin, dass man nach einem Streit wie diesem einfach zur Tagesordnung überging.

»Willst du heute grillen?«, rief er ins Haus.

Keine Antwort.

Er erhob sich, ging ins Haus und schaute in den Kühlschrank. Dort stapelte sich zwar allerlei Essbares, allerdings konnte er zum Grillen nichts Geeignetes finden.

»Haben wir denn was da zum Grillen?«, rief er einer unsichtbaren Iris zu.

»Siehst du etwa etwas?«, kam es schrill zurück.

Genau, das war eigentlich eines der Dinge, die ihn an seiner Frau noch mehr störten als die Tatsache, dass sie nicht konstruktiv miteinander streiten konnten, ihre schrille Stimme. Es fehlten ihrer Stimme die tieferen Untertöne. Nicht einmal in normaler Lautstärke konnte ihre Stimme sanft klingen. War sie angespannt, dann wurde ihre Stimme noch unangenehmer. Er hatte einmal eine Bluessängerin mit einer so angenehm vollen dunklen Stimme gehört, dass er ihr ewig hätte lauschen können. Damals fiel ihm erstmals auf, dass er die Stimme seiner Frau nicht mehr mochte. Er stellte sich Suzannes vor. Ihre Stimme wäre angenehm voll und weich. Suzanne. Er seufzte, während ihm das Bild seiner Romanfigur vor Augen trat. »Ich geh was kaufen. Ich hab ihm nächsten Dorf einen Supermarkt gesehen, heute Morgen.« Schweigen. Er erwartete nun die Frage, was er im nächsten Dorf gemacht habe, doch die vibrierte nur klanglos im Raum wie ein Negativbild der tonalen Stimmung, die sie verursacht hatte. Er hörte nur, dass Iris kurz mit ihrer Tätigkeit aufhörte, genauso lange, wie es dauert, diese Frage zu denken, jedoch nicht auszusprechen, um dann um so lauter mit ihrem Ordnen weiter zu machen. »Was wollt ihr denn?«, rief er in den Raum. »Keinen fettigen Schweinebauch!«, ließ sie sich nun etwas sachlicher vernehmen. Er nickte grinsend mit dem Kopf. Ging also noch, dachte er. Diese Frau ist wie ein Automat. Drück den richtigen Knopf und sie funktioniert vorhersehbar. Im Rausgehen fragte er die Kinder, ob sie mit zum Einkaufen kommen wollten. Marie war sofort einverstanden, da sie wegen des Fußballverbots schmollte und sich langweilte. Sonja hörte ihn nicht aufgrund ihrer Kopfhörer, die sie übergezogen hatte. Auf dem Weg zum Wagen, der auf dem Parkplatz am Eingang des Ferienparks stand, fragte ihn Marie aus. »Warum bist du denn nicht mitgekommen zum Fahrrad fahren?« »Na, sagte ich doch schon. Ich war zu Fuß Brötchen holen und hab mich ein wenig verlaufen.« »Du auch? Wir haben uns auch total verfahren.« »Sagte Sonja schon.« »Dann hat Mama einen Mann gefragt, der dort mit dem Auto vorbeikam. Das war vielleicht ein fieser Typ. Der hat Mama immer so angeglotzt. Aber Mama hat trotzdem lange mit ihm geredet. Aber er hat uns in die richtige Richtung geschickt.« »Mmmhm«, murmelte Roy, während er überlegte, was er nun einkaufen würde. »Der ist sogar noch ein bisschen hinter uns hergefahren«, fuhr Marie munter fort. »So?«, machte Roy geistesabwesend. Vielleicht würde er lieber Rinderhacksteaks kaufen. Die Kinder aßen nicht gerne richtige Steaks. »Als wir in den Waldweg eingebogen sind, ist er sogar mit seinem Auto noch stehen geblieben. Mama hat ihm noch zugewinkt, dann ist er endlich verschwunden. Gruselig.« Vielleicht doch lieber Hühnerschenkel, überlegte Roy. Das ging immer. Er beschloss Hühnerschenkel zu kaufen. »So, ja, ja, das kommt vor«, gab er unzusammenhängend zurück. Marie plapperte weiter, bis sie zum Auto kamen, und weiter, während sie fuhren, denselben Weg, den er heute Morgen zu Fuß genommen hatte. Erst als sie an der Stelle vorbeikamen, an der er heute Morgen den Fremden getroffen hatte, bremste er leicht ab und schaute unwillkürlich in den Waldweg hinein. »Was is'n?«, fragte Marie. »Ach, nichts«, antwortete er ausweichend und gab wieder Gas. Wenn er alleine gewesen wäre, hätte er wohl gehalten und sich ein wenig umgeschaut, was der Typ dort zu suchen gehabt hatte. Vielleicht musste er nur mal austreten? Ein merkwürdiges Gefühl überkam ihn beim Weiterfahren, als müsse er nochmals umdrehen und zurückfahren. Unmöglich. Er verbot sich diesen Gedanken. Sollte der Supermarkt geschlossen haben, wenn sie dort ankämen, wäre der Abend ebenfalls gelaufen. Es war schon kurz vor achtzehn Uhr. Der Markt hatte noch geöffnet, als sie endlich einparkten. Einkaufen mit Kindern ist regelmäßig eine schwere Erziehungsaufgabe, fand Roy. So auch jetzt wieder, wenn Marie nicht zu überzeugen war, Süßigkeiten, Schnickschnack oder andere Sachen, die ihrer Meinung nach dringend zu einem gelungenen Grillabend gehören, wieder aus dem Einkaufswagen zu entfernen. So war denn die Stimmung der beiden schon nach wenigen Minuten auf dem Tiefpunkt angelangt. Maries Versuche, Roy davon zu überzeugen, dass saure Gummibärchen unbedingt auf jeden Grill gehören, oder nichts besser schmeckt als angekohlte Klöße aus rot und blau gefärbtem Schaumzucker scheiterten ebenso wie Roys verzweifelte Versuche, ihr eben das gerade auszureden. Schließlich einigten sie sich darauf, dass Gummibärchen zwar nicht auf den Grill gehören, aber vielleicht dazu dienen könnten, die Stimmung zu heben, und Schaumzucker durch Chips ersetzt werden könnte, als geschmackliche Alternative zu fettigem Fleisch. Dass es dann unbedingt die Chips von dieser einen Marke sein mussten und nicht die wahrscheinlich von derselben Firma hergestellten, nur halb so teuer angebotenen Alternativ-No-name-Produkte, nahm Roy schließlich entnervt hin. Eine kleines Aufflackern seines Unmutes erlebte er noch an der Kasse, als der Einkaufswagen, neben reichlichen Mengen Grillgut dann doch plötzlich eine Tüte Marshmallows enthielt. Da hatte er es schon aufgegeben zu protestieren, auch weil Marie so schelmisch lachte, dass er ihr nicht wirklich böse sein konnte. Also machte er gute Miene zum bösen Spiel und formulierte den pädagogisch wenig wertvollen Satz: »Aber nur dieses eine Mal als große Ausnahme!« Sie nickte mit leuchtenden Augen, wohl weil sie insgeheim befürchtet hatte, er könne diese kleine Frechheit letztendlich doch noch ahnden, und in dem Wissen, ihn mal wieder um den Finger gewickelt zu haben, riss sie die Tüte, kaum dass sie die Kassiererin passiert hatte, auf und stopfte sich gleich zwei dieser merkwürdigen Auswüchse der Esskultur in den Mund. Er schaute demonstrativ weg. Der Rückweg verlief dann auch einigermaßen schweigend, wenn man vom demonstrativen Schmatzen Maries absah, die Mühe hatte, die zuckersüße klebrige Masse wieder aus dem Mund zu bekommen und in Richtung Magen zu befördern. Ihre Fahrt endete jedoch abrupt an einer Straßensperre, die mitten auf der Landstraße errichtet worden war. Ein Polizist mit Motorradhelm und Haltekelle verhinderte die Weiterfahrt. Quer über der Straße war ein rotweißes Absperrband gespannt. Dahinter versperrte ein quergestelltes Polizeimotorrad mit blauem Blinklicht die Straße. Auch in dem seitlichen Waldstück standen mehrere Polizeiwagen sowie ein Notfallwagen der Feuerwehr. »Schau mal!«, rief Marie interessiert. »Da ist bestimmt was passiert!« »Vielleicht ein Unfall!«, sinnierte er, wobei er auf den zweiten Blick erkannte, dass ein Polizeiwagen gerade an dem Waldweg geparkt war, auf dem er heute Morgen den unheimlichen Typen begegnet war. Ihn fröstelte. Er fuhr langsam bis zum Polizisten vor, der einem anderem Fahrzeug bereits anwies, zu wenden. »Hier geht es nicht weiter, sie müssen zurückfahren«, winkte dieser ungeduldig. »Entschuldigung, wir sind nicht von hier. Wie kommt man denn weiter?« »Sie müssen wieder zurückfahren bis kurz vor den Ort und dann die Umgehungsstraße benutzen. Es wird gerade ausgeschildert!«, erwiderte der Polizist nicht unfreundlich. »Was ist denn hier passiert?«, fragte Marie. »Nichts, was kleine Kinder wissen müssten!«, antwortete der Polizist bestimmt. »Fahren Sie bitte weiter«, forderte er, »Sie blockieren die Straße, mein Herr!« Auch wenn Roy eigentlich dasselbe wie Marie interessierte, so verkniff er sich eine Nachfrage und wendete umständlich, was ein unmutiges Hupen eines hinter ihm stehenden PKW zur Folge hatte. Auf dem Rückweg, kurz vor der Stelle, auf der ein Arbeitstrupp ein Umleitungsschild montierte, kam ihnen ein Leichenwagen entgegen. »Cool!«, kommentierte Marie, »da ist bestimmt jemand überfahren worden!« Roy verstand nicht, was daran cool sein könnte, wenn jemand überfahren wird, aber Marie hatte da wohl eine ganz andere Sichtweise. Ganz im Gegenteil ließ ihn das unbestimmte Gefühl nicht los, dass die polizeiliche Aktion irgendwie mit dem Vorfall am Morgen zu tun haben könnte. Da aber diesbezüglich keine Aufklärung zu erwarten war, gab er Gas, in der Hoffnung, sich nicht allzu sehr zu verfahren. Wieder erwarten verlief der weitere Heimweg reibungslos. Die Straßenwacht war wohl ziemlich auf Zack gewesen, so dass die Umleitungsschilder bereits aufgestellt waren und den richtigen Weg auswiesen. Sie kamen also, wenn auch etwas verspätet, so doch noch mit akzeptabler Toleranz an. Fand er. Fand jedoch nicht sie, Iris. Doch bevor sie ihren Unmut gänzlich an ihm auslassen konnte, berichtete Marie bereits von dem ungeheuren Erlebnis, wobei sie das Ganze ein wenig aufbauschte, wohl weil sie ihren Vater in Schutz nehmen wollte. »Du kannst froh sein, dass wir überhaupt heute noch zurückgekommen sind!«, berichtete sie aufgeregt. »Da war ein riesen Unfall genau vor uns auf der Straße mit hundert Polizeifahrzeugen, zwanzig Krankenwagen und einem Hubschrauber...«, log sie. »Naja, Hubschrauber nun gerade wieder nicht!«, versuchte er die ganze Angelegenheit etwas ins rechte Licht zu rücken. »Glaub mir«, setzte Marie im Brustton der Überzeugung fort, »bei so was kommt eigentlich immer ein Hubschrauber, um die Schwerverletzten abzutransportieren. Das hab ich im Fernsehen gesehen!« »Mensch, nie nehmt ihr mich mit, immer nur Marie«, maulte Sonja, die feststellte, dass sie wohl ein kolossal aufregendes Ereignis versäumt hatte. »Du wolltest doch nicht«, protestierte Roy. Marie freute sich, dass sie etwas ihrer großen Schwester voraus hatte und trug noch dicker auf. »Wir mussten durch eine Polizeikontrolle und wären beinahe verhaftet worden!«, schwärmte sie. »Aber ich habe den Polizisten überzeugt, dass Papa unschuldig ist und wir niemanden überfahren haben!« »Du spinnst«, rief Sonja außer sich, die es auf den Tod nicht leiden konnte, wenn ihrer jüngeren Schwester die Fantasie durchging. Schon hatten sich die Geschwister in einen handfesten Krach verwickelt, mit dem Ergebnis, dass Marie Sonja gegen das Bein trat, Sonja zurückschlug, unglücklicherweise Maries Nase traf, die sofort heftig blutete und Iris eine Schreiorgie vom Stapel ließ und beide ins Haus schickte. Er warf sich müde in einen Gartenstuhl und verfluchte, jemals dem Wunsch nach Frau und Kindern nachgegeben zu haben.

 

10

Er dachte an Suzanne, schaute durch das schmale Badezimmerfenster in den Himmel, den wenige weiße Abendwolken zierten, die bereits eine leicht rötliche Färbung angenommen hatten. Als er den Blick vom Fenster wieder zu seinem Spiegelbild zurückwandern ließ, beschloss er, dass der nächste Tag für beide ein Erlebnis werden sollte. Er würde eine schöne Rundtour vorschlagen, da er auch einmal das Inland und den Süden Korsikas erforschen wollte. Vielleicht würde ihm Suzanne einige interessante Orte nennen können, die es lohnte, anzusteuern. In freudiger Erwartung des morgigen Zusammentreffens ging er nochmals in die kleine Hotelvorhalle zurück, in der er einige Werbeflayer über touristische Attraktionen gesehen hatte und griff sich wahllos den einen oder anderen. Dann zog er sich auf sein Zimmer zurück, studierte die Korsikakarte, die er auf seinem Bett ausgebreitet hatte und ging daran, einen »Schlachtplan« für den morgigen Tag zu entwerfen. Am nächsten Morgen fand sich Levi in voller Bekleidung auf dem Bett liegend vor, die Landkarte war etwas zerknittert auf den Boden gerutscht, unter sich die verknautschten Werbeprospekte. Er erwachte aus einem erotischen Traum, bei dem jedoch nicht Suzanne, sondern irgendeine andere Frau in einem mehrstöckigen mit Menschen überfüllten Haus seine Gespielin war. Erschrocken blickte er sich um, er war offensichtlich gestern Abend ermüdet über der Karte eingeschlafen, ohne sich nochmals. Mit einem Satz war er aus dem Bett. Ein schneller Blick auf die Uhr zeigte ihm, dass er sich beeilen musste, wollte er pünktlich zum vereinbarten Zeitpunkt an besagter Kreuzung sein. Im Schnelldurchgang holte er nach, was er gestern versäumt hatte, warf in aller Eile einige Badesachen in eine große Strandtasche, packte Geldbörse, Ausweis und Führerschein zusammen, verzweifelte bei der Auswahl der Kleidung, die er mitnehmen wollte. Lieber Wandersachen oder etwas Feineres für das Restaurant? Da er sich nicht entscheiden konnte, warf er einfach von jedem etwas in die Tasche, nahm zwei Paar Schuhe in die Hände und stürmte die Treppe des Hotels hinunter zum Wagen, ohne gefrühstückt zu haben. Wenige Minuten später war er bereits am verabredeten Kreisverkehr, etwas zu früh, wie er feststellte. Also parkte er seinen Wagen im Schatten einiger Bäume am Straßenrand, stellte das Radio an und wartete auf sie, auf Suzanne. Der Tag versprach, heiß zu werden, die Sonne brannte von einem wolkenlosen, strahlend blauen Himmel herunter und die Luft über der dunklen Fahrbahn begann trotz der frühen Stunde schon zu flimmern. Weil es trotz des Schattens im Wagen zunehmend unerträglich heiß wurde, öffnete er die Fenster und atmete die meersalzgeschwängerte, würzige Luft ein. Er überlegte, dass es möglicherweise am besten sein könnte, einfach an irgendeinen Strand zu fahren, anstatt den Tag im Auto zu verbringen. Zwar hasste er das müßige Herumliegen in der Sonne inmitten bunter Sonnenschirme, schreiender Kinder, fluchender Eltern, bereitwillig dargebotener Fettleibigkeit, aber die Aussicht einen lüsternen Blick auf Suzannes wunderbaren Körper werfen zu können, erfüllte ihn mit erwartungsvoller Erregung. Wenn sie nur überhaupt käme! Wenn er sich nur ein etwas repräsentativeres Auto genommen hätte als bloß einen durchschnittlichen Kleinwagen! Vielleicht wäre sie enttäuscht, in so einer Nuckelpinne zu fahren? Er schalt sich selbst einen Dummkopf, auf der anderen Seite ermahnte er sich, nicht den jugendlichen Casanova zu spielen, der er einfach nicht war. Er war er und das musste sie letztlich genauso akzeptieren, wie er sich selbst zu akzeptieren gezwungen war. Nervös trommelte er auf das Lenkrad. Wieso wollte sie nicht vor ihrer Wohnung abgeholt werden? Er hätte sich gerne noch einmal den genauen Weg dorthin erklären lassen. Auch in einer Bar oder vor einem Restaurant wäre ein guter Treffpunkt gewesen, aber an einer Straßenkreuzung, an der weit und breit außer einem Campingplatz und einem Ferienressort nichts weiter zum Verweilen einlud? Frauen sind merkwürdige Wesen, dachte er. Die Zeiger seiner Uhr schritten unaufhaltsam auf 10 Uhr zu. Er blickte sich um. Weit und breit war niemand zu sehen. Ab und zu kam ein Wagen aus der Ferne angerollt, bremste vor dem Kreisverkehr ab und verschwand wieder in die ein oder andere Abfahrt. Vielleicht kam sie sogar mit dem Auto oder wurde gebracht? Schade, dass er nicht rauchte, dachte er. Mit einer Zigarette im Mundwinkel hinter dem Steuer zu hängen würde eine gute und lässige Pose abgeben und seine Nervosität überspielen. Er stellte das Radio an. Ein wehmütiger Tango erfüllte das Wageninnere. ‚Volver‘ hieß er, soweit er sich entsann. Er beschloss, sich die Zigarette vorzustellen, legte den Sitz ein wenig zurück, ließ den Ellenbogen aus dem Fenster hängen und schloss halb die Augen. Der rosafarbene Orleander auf der gegenüber liegenden Straßenseite erglühte im Licht der Sonne zu einer Farbexplosion. Er sog langsam den Duft der Macchie ein, den die etwas kühlere Meeresluft herantrug. Der Süden sollte eigentlich seine Heimat sein, dachte er. Nirgends waren die Farben lebhafter, die Gerüche intensiver als im mediterranen Süden Europas. »Bon jour!«Er fuhr herum. Neben der Fahrertür stand eine weiß gekleidete Frau mit großer Sonnenbrille, die fast das ganze Gesicht verdeckte, weißem großrandigen Sonnenhut und einer kleinen bunten Strandtasche. »Suzanne?«Sie nahm die Sonnenbrille ab und lächelte ihn fröhlich an. »Oui. Überrascht? Wir waren doch verabredet.« »Wo kommst...?«, im Aussteigen beendete er seinen Satz jedoch nicht, sondern nahm ihre Hände in die seinen, hob ihre Arme ein wenig hoch und betrachtete sie erfreut. »Ist etwas nicht in Ordnung?«, fragte sie neckisch. »Du bist wunderschön. Ich hatte dich gar nicht kommen hören«, und mit Blick auf die Sonnenbrille, »und dich beinahe gar nicht erkannt.«Er umarmte sie heftig und drückte sie herzlich an sich, was sie geschehen ließ. »Surprise!«, lachte sie. »Das ist dir gelungen!«, lächelte er erleichtert, sie nun leibhaftig vor sich zu sehen. »Doch nun, subitu, mein Lieber, ich möchte so schnell wie möglich hier weg!« Er führte sie zur Beifahrerseite, öffnete galant die Tür, um ihr beim Einsteigen behilflich zu sein. Sie warf die Strandtasche schwungvoll auf den Rücksitz, ließ sich auf den Beifahrersitz gleiten und schlug ihre schlanken, makellosen Beine übereinander. Dabei rutschte ihr eine ihrer zierlichen Sandaletten mit dünnen weißen Riemchen und funkelndem Strassbesatz vom Fuß und fiel vor dem Auto auf den Boden. Er beeilte sich, ihn ihr zu reichen. Aber anstatt ihn entgegenzunehmen, streckte sie ihm nur mit einer neckischen Geste ihren nun bloßen Fuß entgegen und spielte mit breitem Grinsen mit den Zehen. Er bückte sich zu ihr hinunter, um ihr die Sandalette wieder anzuziehen, strich dabei übertrieben lange über ihren Fußrücken, bevor er sich wiederaufrichtete. Sie quittierte es mit einem wohlwollenden angedeuteten Lächeln und leichtem Nicken ihres Kopfes und zog den Fuß balletös zurück. »Nun, können wir los?« »Bitte sofort, bitte gleich!«, verneigte er sich in der Geste eines Chauffeurs, eilte übertrieben manieriert um das Auto, ließ sich steif am Steuer nieder und fragte: »Wo darf ich die Dame hin chauffieren?« Dann brachen beide in prustendes Lachen aus. »Du kannst ja auch komisch sein!«, freute sie sich. »Na, schönen Dank!«, protestierte er gespielt. Sie schauten sich eine Weile abwartend in die Augen, bevor sie ihre Sonnenbrille wieder aufsetzte. »Möglichst schnell, möglichst weit von hier weg!«, schlug sie vor.Er ließ den Motor an, froh, dass sie über den Wagen, den er gemietet hatte, kein abfälliges Wort verloren hatte. »Wollen wir an einen Strand fahren?«Sie überlegte. »Lass uns nach Canella fahren. Da kenne ich einige nette Stellen.«Der Strand bei Canella war, soweit er wusste, genau am gegenüberliegenden südlicheren Teil Korsikas gelegen. Sie müssten also die Insel einmal durchqueren. Das würde eine längere Fahrt bedeuten. »Ehrlich gesagt, würde ich gerne vorher ein kleines Frühstück zu mir nehmen, ich habe mich sehr beeilt«, gestand er. »Oui, bien, lass uns in Corte halten, das liegt ziemlich in der Mitte.«, war sie einverstanden. Er gab also Gas, etwas zu heftig, so dass die Vorderräder auf dem sandigen Untergrund geräuschvoll durchdrehten und der Wagen beim Anfahren leicht schlingerte. »Muss mich noch dran gewöhnen!«, entschuldigte er sich mit einem vorsichtigen Seitenblick. Sie hielt nur ihren Sonnenhut fest, der ihr fast vom Kopf gerutscht wäre. »Du hast ein Rennauto gemietet!«, stellte sie mit gespieltem Erstaunen fest. Er räusperte sich. »Ja, scheint so!« Er fädelte sich auf der Hauptstraße in den spärlichen Verkehr ein, froh darüber, dass die Stimmung von Anfang an so gut war und sich ihre Verabredung so amüsant anließ. »Wie gut kennst du dich in Korsika aus?«, fragte er. »Oh, ein wenig. Ich bin einige Male zu Verwandten zu Besuch gefahren. Die leben allerdings überwiegend in der Gegend von Bastia oder aber in von Bonifaciu.« »Und wie lange lebst du denn schon hier in Korsika?«Sie legte ihm den Zeigefinger zart auf den Mund. »Keine Fragen zur Vergangenheit, Cheri, wie vereinbart. Das war versprochen.«Er zuckte mit den Schultern. »Fällt mir schwer, ich möchte alles über dich wissen.« »Das, was du wissen musst, ist nicht die Vergangenheit, sondern die Gegenwart. Was nützt es dir, etwas über mich zu erfahren, was ich mal war, anstatt zu erleben, was ich jetzt bin?« »Da hast du recht.«, stimmte er etwas unwillig zu. »Der Weg ist das Ziel. Leben im Hier und Jetzt, oder so.« »Si!«, bestätigte sie bestimmt und wandte den Kopf zur Seite, um stumm die Landschaft an ihnen vorbeigleiten zu sehen, die sie nun passierten. Die Straße, N197, eine der Hauptverkehrsadern, führte einige Zeit am Steilhang, nahe dem Meeresufer, vorbei, um sich dann wie eine Schlange langsam ins Hochland zu winden. Als die Straße schließlich nahezu rechtwinklig die Richtung nach Bastia änderte, um das Inland zu durchqueren, ließen sie das Meer hinter sich.Sie seufzte, ließ sich auf ihrem Sitz zurückgleiten, nahm Sonnenbrille und Hut ab und dehnte zufrieden ihre Arme. »Erzähl von dir!«, brach sie das Schweigen.Er zuckte mit den Schultern. »Was soll ich erzählen?« »Irgendwas. Magst du Korsika?«Er zögerte. »Ja, im Moment mag ich Korsika sehr.« »Wie, sonst nicht?« »Doch, doch, ich finde Korsika sehr schön, sehr interessant.« »Ich nicht!«, gab sie zurück. »Nicht?« »Nein, nicht mehr.« »Weshalb? Du bist doch Korsin?« »Eben drum.« »Das verstehe ich nicht.« »Es gibt zu viele Mauern.« »Mauern? Wo?« »Überall. Du siehst sie nicht, weil sie dich wie unsichtbare Wände einschließen.«Er schaute sie verständnislos an. »Korsika ist ein riesiges Gefängnis, mehr nicht.« »Na, hör mal«, fragte er vorsichtig nach. »Wovon sprichst du? Von den Einheimischen?«Sie nickte. »Ich finde sie alle ganz nett. Sehr freundlich.« »Tja, solange du als Tourist dein Geld da lässt!«, erläuterte sie. »Und sonst?« »Mauern, überall Mauern, hinter denen Missgunst und Gewalt herrschen.« »Hat, glaube ich, Napoleon schon über die Korsen gesagt. Er soll in Paris gefragt haben, ob die Korsen immer noch damit beschäftigt seien, sich gegenseitig umzubringen«, dozierte er. Sie grunzte abfällig. »Napoleon. Alle verehren ihn, dabei hat er uns gehasst. Alle hassen sich gegenseitig.« »Inselkoller?«Sie nickte nachdenklich. »Vielleicht!« »Napoleon ist Geschichte!«, lenkte er ein, um das Thema zu wechseln. »Tanzt du gerne?« Sie schaute ihn mit großen strahlenden Augen an. »Oh, ja! Würdest du mit mir tanzen gehen?« Sie klatschte wie ein kleines Mädchen in die Hände, dass ihren Vater um einen Gefallen bittet. Er lachte zufrieden. »Natürlich! Vielleicht gibt es eine Möglichkeit dort unten am Strand.« »Ja, vielleicht!«, freute sie sich und legte ihm ihre Hand auf den Arm. Sie ist wie ein großes Kind, dachte er und schaute zu ihr hinüber, wie sie zufrieden in ihrem Sitz saß. Das wütende Hupen eines entgegenkommenden Autos ließ ihn zurückzucken. Gerade noch rechtzeitig konnte er den Wagen wieder zurück auf die Fahrbahn lenken, von der er ein wenig abgekommen war. »Puh, das war knapp...«Sie lachte nur. »Du fährst schon wie ein Korse.« »Fahren die auch so?« »Schlimmer!« »Jetzt weiß ich auch, weshalb die Versicherungen hier so teuer sind.« »Besonders schlimm ist es im Bergland.«, bestätigte sie. »Da musst du ständig auf der Hut sein.« Das hatte er schon gehört. Er hoffte, dass sie dieses Schicksal nicht heute ereilen würde. Er bemühte sich, nun etwas besser auf die Straße zu achten, obwohl er immer wieder einen Blick zu ihr hinüberwarf, um festzustellen, in welcher Stimmung sie war. Sie schien es nicht zu bemerken, sondern schien die Fahrt und die vorbeiziehende Landschaft zu genießen. So schwiegen sie eine Weile. Wenn es stimmte, wie er einmal gelesen hatte, dass zwei Menschen nicht länger als 31 Sekunden schweigend nebeneinander sitzen können, ohne dass es peinlich wird, dann kannte sie diese verhaltenspsychologische Studie nicht. Es schien ihr nichts auszumachen, nicht zu reden, ganz im Gegensatz zum letzten Treffen, als sie fröhlich über alle möglichen Belanglosigkeiten geschwatzt hatten. Und dann war da ja auch noch ihre Hand, die sie auf seinen Unterarm gelegt hatte, als sei dies ganz selbstverständlich. Um dieses Kontaktes willen wagte er nicht, die Kupplung öfters als notwendig zu treten und die Gangschaltung zu betätigen, denn diese kleine Geste war es, die ihm mehr als jedes Wort ihre Verbundenheit auszudrücken schien. Die Sonne war nun deutlich höher gestiegen und brannte unbarmherzig auf die Scheiben. Die Klimaanlage, im Preis inbegriffen, schien jedoch nichts mit ihrem Einschalter im Armaturenbrett zu tun haben zu wollen. Er drückte den Knopf versuchsweise mehrmals, ohne dass sich irgendeine Reaktion, geschweige denn Kühlung feststellen ließ.Sie schien es ebenfalls bemerkt zu haben. »Mach doch einfach die Fenster auf, die meisten Leihautos sind hier kaputt!«, bemerkte sie lakonisch. Der warme Fahrtwind, der durch die geöffneten Fenster hineinströmte, blies ihnen ins Gesicht. Ihre langen braunen Haare wehten heftig im Wind. Sie lachte und hielt den Kopf noch näher an die Fensteröffnung. Er lächelte ihr zu, froh, sie so glücklich zu sehen. Ich bin verliebt, stellte er ganz sachlich fest. Ich bin derartig verliebt, dass ich tanzen könnte.

 
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