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Levi Krongold
Der Anarchist
Die Anklage! - Das Modell- Kleine destruktive Textsammlung
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Der Anarchist
Schmährede am offenen Grabe
Die Anklage!
Das Modell
Käfig
Julie
Silvia
Herr Maus, sein Arzt und der Weltuntergang
Traktat wider die Gottes-Wort-Verkünder
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Der Anarchist
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1. Auflage 2020
© Levi Krongold
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Das Urheberrecht für Bilder und Text liegt bei Levi Krongold.
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
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Der Anarchist
Durch eine schicksalhafte Begegnung im Zug von Moskau nach Leningrad, anlässlich einer Reise zum internationalen Psychiatrischen Kongress der Gesellschaft für Psychohygiene, gelangte mir folgendes Manuskript in die Hände, welches ein Mitreisender im Abteil des Speisewagens liegen gelassen hatte. Obwohl ich dem psychiatrischen Kollegen, um den es sich wohl gehandelt haben musste, einem energischen Gentleman stattlicher Figur und vornehmer Kleidung, sofort nacheilte, konnte ich ihn im gesamten Zugabteil der ersten Klasse nicht mehr wiederfinden. Ich bemühte sogar den Schaffner mit einer genauen Beschreibung des Betreffenden, doch vergeblich. Er war und blieb auch bei Ankunft in Leningrad wie vom Erdboden verschluckt.
So entschied ich mich, das fleckige und unansehnliche Schriftstück vorsichtig gefaltet in meine innerste Manteltasche zu verbringen, um es vielleicht später auf dem Kongress seinem Besitzer zurück geben zu können, den ich dort gewisslich anzutreffen glaubte. Doch auch diese Hoffnung trog.
In der Folge wurde ich durch die anregenden Gespräche mit dem renommierten internationalen Publikum von dem Schreiben derart abgelenkt, dass ich es vollkommen vergaß. Den berstenden Kopfschmerz, welcher mich stets nach Überstreifen des Mantels peinigte, führte ich auf den Klimawechsel und die allgemeine Aufregung, zuviel genossenen Alkohol und endlose nächtliche Gespräche zurück. Allein die Tatsache, dass er sofort nachließ, wenn ich mich des Mantels entledigte, hätte mich früher stutzig werden lassen können. So begleitete mich das Geständnis, denn um nichts anderes handelte es sich bei besagtem ominösen Schreiben, unter Kopfschmerzen zuerst in meine Heimatstadt Heidelberg und von dort eine lange und ermüdende Bahnfahrt nach Wien, wo ich an einem weiteren psychiatrischen Kongress der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung teilzunehmen gedachte. Während der Fahrt nach Wien sinnierte ich über den Leningrader Kongress, doch hatte ich durch das gleichmäßige Rattern der Räder und die Strapazen der letzten Tage Mühe, meine Augen offen zu halten und wach zu bleiben.
In Wien hatte ich mich für einige Tage in eine kleine Pension eingemietet. Dort erst entdeckte meine Wirtin, die auch die Reinigung meiner Kleidung übernommen hatte, das Schriftstück mit einem Aufschrei des Entsetzens bei der Untersuchung des Mantels, worauf sie es sofort zu Boden fallen ließ, ohne sich bewegen zu lassen, es wieder anzurühren und mir auszuhändigen. Da mich gleich nach der Ankunft im Hause ein stechender Ischiasschmerz bewegungslos verharren ließ, sah ich mich gezwungen, es mit dem Spazierstecken heranzuziehen und unter Stöhnen wieder an mich zu nehmen. Ich hatte hernach, immobilisiert im Bette liegend, um dem lästigen Schmerz den Stachel zu nehmen, ausreichend Gelegenheit, das Schriftstück zu studieren.
Ich muss zugeben, dass ich schon nach den ersten Seiten drauf und dran war, dieselben in kleinste Stücke zu zerreißen, doch aus Respekt vor dem Alter und der Originalität des Dokuments entschied ich mich letztlich dagegen. Auch nahm ich schon deshalb davon Abstand es zu zerstören, das muss ich gestehen, selbst wenn mich der Leser dieser Zeilen deshalb mit Verachtung strafen möge, da es sich um ein einmaliges Zeitdokument der Revolutionszeit handelt, welches in seiner Bestialität und Perversität seinesgleichen sucht.
Aber möge der Leser es selbst zur Kenntnis nehmen und darüber ein Urteil fällen.
Der Verfasser nachfolgender Aufzeichnungen, der polnische Anarchist Marek Krawczyk, wurde in den ersten Monaten des Jahres 1906 in Warschau verhaftet. Er sollte — wie jeder, der sich um diese Zeit dort als dieser Partei angehörig entpuppte — sofort, ohne Urteil, kriegsrechtlich erschossen werden. Sein Verhalten bei der Füsilierung seiner vor ihm verhafteten Genossen, sowie im Verhöre, wies jedoch auf ein so hochgradiges Absurdum seiner seelischen Individualität hin, dass der Oberst — dem der Richterspruch oblag — einen Psychopathen in ihm vermutete und ihn bis zur Feststellung dessen in der Zitadelle internierte. — Hierselbst verfasste Krawczyk seine Aufzeichnungen, die im nachstehenden wortgetreu wiedergegeben sind.
Meine Eltern waren entgegengesetzte Elemente: Der Vater: Stark, grob, brutal, egoistisch; materiell bis zum Exzess; — die Mutter: Leidend, zart, gefühlvoll, ätherisch. Aus einer solchen Kreuzung musste ein masochistischer Charakter entstehen.
Mein Vater erzog mich mit Gebrüll, Prügel und Schrecken; meine Mutter entgalt mir das alles wieder mit Streicheln, Küssen und Weinen.
— Ich zitterte vor geheimer Angst und frohlockte innerlich zugleich, wenn mich mein Vater übers Knie legte. Denn kaum war die Exekution vorbei, so rannte er, irgend jemanden — einen Knecht, eine Magd, einen Diener usw. — zu ohrfeigen. Ich lief mit brennendem Hintern zu meiner Mutter. Da wurden zuerst die Striemen inspiziert und dann geweint, umarmt, geküsst — und zum Schluss gelacht. — Das wiederholte sich in unregelmäßigen Intervallen.
In diese Kinderjahre fällt auch schon meine erste Erkenntnis des masochistischen Prinzips im Leben. Dieselbe gründete sich auf folgende Beobachtungen:
Alle meine Gespielen und Gespielinnen hatten die Sucht, sich gegenseitig Possen zu spielen; einander bei den Eltern zu verklatschen und zu verleumden; in jeder Weise zu quälen — um dann durch doppelte Liebe alles wieder gut zu machen. Andererseits bemerkte ich, daß kein Kind ein anderes liebte, von dem es nicht gequält wurde. Solche standen sich gleichgültig gegenüber.
In dieser gegenseitigen Qual und dem Gequält werden musste also von Natur aus ein gewisser Reiz, eine Lust liegen. Diese war das: Sich vertiefen, Sichhineindenken, Mitfühlen des Schmerzes anderer. Das ist kein Sadismus — den gibt‘s überhaupt nicht — sondern nur verfeinerter Masochismus; denn man bereitet Schmerzen, um sie mitfühlen, also selbst empfinden zu können.
Ich hatte es besonders auf die Mädchen abgesehen, vernichtete ihr Spielzeug, zerriss ihre Puppen, beschmutzte ihre Kleider u.s.f. Wenn sie dann so recht bitterlich weinten, kämpfte und kämpfte ich mit den Tränen, bis sie endlich doch nicht mehr zurückzuhalten waren, dann schlich ich hin, umarmte, streichelte und küsste die Zürnende und weinte mit ihr. Welchen Schmerz und welche Lust empfand ich, wenn sie mich wegstieß, mich schlug und mir ins Gesicht spie!!! Ich brachte ihr wieder schöneres Spielzeug und war so glücklich, wenn sich ihr Weinen wieder in Lachen verwandelte!!
Wie oft verleumdete ich andere Kinder bei ihren Eltern, um den seelischen Schmerz einer unverdienten Züchtigung mitempfinden zu können!!! Doch bildete ich keine Ausnahme; die meisten meiner Gespielen waren auch so. Ich erinnere mich, daß ein elfjähriges Mädchen einen zwölfjährigen Jungen verleumdete: er hätte sie am Schamteile berührt, während sie im Freien schlief! Der unglückliche, arme Junge wurde in der Schule und zu Hause schrecklich geschlagen. Alle Kinder hetzten, höhnten und flohen ihn wie die Pest. — Er wurde ganz menschenscheu.
Was erlebte ich da einmal?
Mürrisch und verdrossen lag er unter einem Baume. Das oben erwähnte Mädchen schlich sachte auf ihn zu, blieb bei ihm stehen und rief bittend seinen Namen. Wild fuhr er auf und wollte die Flucht ergreifen. Sie aber umklammerte seine Hand, fiel auf die Knie und bat ihn um Vergebung. — Es nützte nichts, daß er sie beschimpfte, sie schlug und mit den Füßen trat. Sie umschlang ihn, weinte so herzzerbrechend und schmeichelte ihm so lange, bis er sich neben sie setzte und sich liebkosen ließ. So saßen sie lange und weinten und lachten, und weinten.
Plötzlich ergriff sie seine Hand und presste sie heftig zwischen ihre Schenkel. — — — — — —
Dieser Kontakt bildete das Schlussglied einer langen logischen Kette. — — —
Das waren die Fakta, welche mich zuerst instinktiv fühlen ließen, daß, — wie jedes grundlegende Ding, alles was mit der Vorsilbe ,,Ur“ beginnt — Urkraft, Urstoff, Urtrieb usw. — die Vereinigung zweier Extreme darstellt: der Urtrieb ,,Liebe“ ebenfalls erst die Verschmelzung zweier Entgegengesetzter sein kann. Letztere sind hier Lust und Schmerz, wie sie sich bei der Elektrizität positive und negative Elektrizität, beim Magnetismus positiver und negativer Magnetismus, beim Atom positives und negatives Ion, beim Geschlecht Mann und Weib usw. nennen.
II
Meine Gymnasial- und Universitätsjahre verbrachte ich in Petersburg.
Mit Ungestüm warf ich mich der rein physischen „Liebe“ , der Orgie, in all ihren Abarten in die Arme. Den körperlich-geschlechtlichen Masochismus mit seinen raffinierten Sinnesreizen durchkostete ich bis zur Neige, konnte mir aber nie erklären, daß die Menschheit mit einer so rohen Definition des Begriffes „Masochismus“ sich zufrieden gab. Der geschlechtliche Masochismus ist zwar der „in die Augen springendste“. Das ist aber bei der geschlechtlichen Liebe auch der Fall; und trotzdem wird man nicht behaupten: Liebe ist nur Geschlechtstrieb.
Ich schritt über diesen körperlichen Masochismus hinweg; er war für mich nur eine notwendige Evolutionsphase. Es begann der seelische sich meiner zu bemächtigen. Um diese Zeit lernte ich ein Mädchen lieben, von wunderbarem Charakter. Sie liebte mich ebenfalls wahnsinnig.
Wäre ich Bettler und Strolch gewesen — sie würde mit mir auf der Landstraße herumgezogen sein. — Sie hätte mich zur Zwangsarbeit nach Kara, Kamtschatka und Sachalin begleitet und für mich ebenso das Schafott bestiegen, wäre, um mich zu erhalten, sogar Prostituierte geworden. Es war eine Seligkeit, sie zu lieben und so geliebt zu werden.
War es zu verwundern, daß konform mit dieser unendlichen Liebe die begleitenden Leiden auch ins Endlose gehen und schließlich zur Katastrophe führen mussten?!
Jede Nacht schliefen wir zusammen, obwohl wir monatelang nicht geschlechtlich verkehrten. Wir hielten uns nur eng umschlungen und schliefen so sanft!! — — — — —
Uns auch nur auf Stunden zu trennen, war qualvoll. Wenn ich allein fortging, musste ich genau die Zeit angeben, wann ich wiederkomme. Blieb ich eine Viertelstunde länger fort, so malte sich Mascha schon aus, daß ich vom Tram überfahren wurde, einen Blutsturz bekommen habe, plötzlich wahnsinnig geworden und in die Newa gesprungen oder mir sonst irgend etwas passiert sei. Dann stand sie beständig am Fenster, die Straße zu inspizieren. Ging jemand im Hausflur, lief sie schnell, nachzusehen. War ich es nicht, dann erfasste sie eine schreckliche Bangigkeit. Kam ich endlich, dann wartete sie schon in der Türe meiner, unter Tränen lächelnd. Dann gab‘s Umarmungen und Küsse, als wenn ich eben von einer Nordpolfahrt zurückgekehrt wäre; aber auch Vorwürfe, wie: ,,Du liebst mich gar nicht. Sonst könntest du mich nicht so quälen! (?) Du weißt, wie ich unruhig bin um dich!“
Allmählich erst begann ich diesen Zustand zu verstehen, als unabwendbare Konsequenz des masochistischen Prinzips in der Liebe.
Diese Seelen-Marter, die sich die Liebenden bereiten in der beständigen Furcht, den Geliebten zu verlieren, oder seiner Liebe verlustig zu gehen, ist innig mit der Liebe selbst verknüpft. Ohne diese Angst wäre Liebe überhaupt undenkbar. Wer liebt, muss sich beständig mit dieser Angst quälen und je stärker man liebt, desto stärker wird auch diese Qual sein. Wenn die letztere durch den andern Beteiligten noch verstärkt wird, so steigert das wieder unsere Liebe.
Diese Notwendigkeit fühlten wir auch und entschlossen uns, unverehelicht ein Kind zu zeugen.
Was dieser Schritt für uns — als Sprösslinge vornehmer Häuser bedeutete, lässt sich leicht abschätzen!
Aber mutig wollten wir der ganzen Gesellschaft trotzen, um durch die damit verbundenen Leiden die Liebe zu heiligen!
Θ
An dieser Stelle ließ ich das Manuskript mit einem Seufzer sinken. Oh, selige Jugendzeit! Oh, jugendliche Unvernunft!
Und doch, waren diese Zeilen nicht bereits Ausdruck einer bourgeoisen Dekadenz höherer Kreise, deren ganzes Denken und Fühlen lediglich der Minderung der inneren Leere, der Überwindung der Langeweile galten? Ausdruck einer affektierten Lebenshaltung, die jene befällt, denen das Leben nie größere Anstrengungen abgerungen hatte? Zu sehr erinnerte mich diese Schilderung, deren abartige Veranlagung bereits aus den wenigen Worten klar hervor trat, an die mir nur zu gut bekannten Eskapaden meiner betuchteren Klientel, deren psychiatrischen Beichtvater ich mitunter hergeben musste.
Und dennoch sprach auch eine gewisse Wahrheit aus den Worten. So verwunderte es nicht nur mich, sondern auch meine psychiatrischen Kollegen aufs Höchste, mit welcher Raffinesse Menschen ihr Leben und das ihrer Mitmenschen zur Hölle machen. Sollte dies tatsächlich ein Ausdruck sado/masochistischer Neigung sein, die unser gesamtes Menschengeschlecht befallen hatte?
So ganz anders meine Zimmerwirtin, eine Witwe von nicht einmal geschätzten 50 Jahren, bei der ich mich in Wien eingemietet hatte, deren freundliches und dienstbeflissenes Wesen eine wohltuende Gleichmut ausstrahlte. Das einzige was diese einfache Gemüt bekümmern konnte war ein übersehener Fleck auf meinem Rock, den sie gereinigt hatte, das Fehlen einer Kleinigkeit beim Frühstückstische, mittags und abends pflegte ich auswärts zu essen, oder eine Störung im sonst straff geregelten Ablauf ihrer kleinen Pension, in der ich lange Zeit der einzige Gast war. Erst vor kurzem hatte sich allerdings ein weiterer Gast eingestellt, dessen Schritte ich zwar mitunter des Nachts auf dem Dielenboden vernehmen konnte, der mir aber ansonsten noch nie begegnet war. Die Witwe ließ kein weiteres Wort darüber verlauten, so drang ich nicht weiter in sie.
Doch ich komme vom Gegenstand meiner Ausführungen ab. So will ich dem geneigten Leser das dritte Kapitel dieses unseligen Schreibens zur Kenntnis geben.
Kaum ward Mascha schwanger, so fühlte ich einen unwiderstehlichen Zwang, unsere beiderseitige Qual zu steigern! Zu steigern!! Zu steigern!!! Denn unsere Liebe schien mir noch nicht groß genug, noch nicht würdig, nicht heilig genug, um in einem neuen Lebewesen uns selbst zu kristallisieren!
Dieser eine Gedanke folterte mich unausgesetzt. Vergebens suchte ich mir einzureden, daß unsere Liebe die alltägliche doch millionenfach überrage; daß sie überhaupt ihresgleichen nicht habe! — — Immer wieder flüsterte mein Gewissen mir zu: „Wie kannst du an dich nur den Maßstab gewöhnlicher Menschen, wenn sie auch die hervorragendsten Charaktere sind, legen?! Du bist doch der bewusste Masochist! Dem müssen doch deine Ideale angepasst sein! Ist es etwas Außergewöhnliches, ein uneheliches Kind zu haben?! Ihr müsst also eure Leiden verschärfen! Verschärfen!!“
Ich begann ihr Vorwürfe wegen jeder Kleinigkeit zu machen. So fand ich einmal ein unregelmäßig gestopftes Loch in einem meiner Socken, den ich mir an einem rauen Leder durchgescheuert hatte. Wutentbrannt schmiss ich ihr den Socken und das Flickwerk vor die Füße, und schalt sie zu nichts nutze. Ich begann mich regelmäßig zu verspäten, wenn wir eine Verabredung hatten, wohl wissend, wie sehr sie um mich zitterte. Auf ihr Weinen stieß ich sie von mir und warf ihr vor, mich kontrollieren und demütigen zu wollen. Und überhaupt begann ich eine Abneigung gegen ihren Körper zu empfinden. Die schwellenden Brüste erzeugten in mir Ekel anstatt Wollust, ihre schwankenden Stimmungen beantwortete ich mit Unwillen und stieß sie von mir, wenn sie sich an mich schmiegen wollte. Ich verspottete sie wegen jeder Ungeschicklichkeit und hielt ihr lange Vorträge, wegen der kleinsten Verfehlung. Dann wieder warf ich mich, sie um Vergebung bittend weinend vor die Füße. Je nervöser sie wurde, desto schlimmer trieb ich meinen Spott. Hatte ich mich nach meiner Raserei beruhigt und begann mich das Gewissen zu quälen, so hielt dies nicht lange vor. Im Gegenteil, ich suchte den nächsten Anlass, um sie um so heftiger zu demütigen.
Mascha wurde durch meine Schikanen schließlich so nervös wie ich. — Nun begann sie wirklich alles verkehrt zu machen.
„Lass‘ mich in Ruh‘!! Du bist schuld! Du machst mich noch ganz verrückt!“
Wegen der harmlosesten Dinge gerieten wir in Wut, uns dadurch gegenseitig immer mehr reizend und verbitternd.
Zehn, zwanzigmal des Tages standen wir uns gegenüber mit vorgebeugtem Oberkörper, vor Zorn zitternd, mit vor Wut verzerrtem. Munde, funkelnden Augen und gespreizten Fingern, wie sprungbereite Tiger. Manchmal schlug sie mich ins Gesicht oder spie nach mir.
„0, du Ekel! Wie ich dich hasse!! Ich möchte dich — — ich möchte dich — — — — —.“
Dann sagten wir einander ruhig und kühl, daß wir nicht zusammenpassen; daß wir uns getäuscht haben; daß es nun aus sei, für immer; baten einander um Vergebung und trennten uns.
Bald kamen die Gewissensbisse; die Frage: „Wer ist schuld?“ Nun brach der Schmerz hervor: „Aus, aus! Für immer! Was hab‘ ich getan!?! Was hab‘ ich getan?!? — — — Es kann nicht sein! Es kann nicht sein!! Ich werde auf den Knien um Vergebung flehen! — — Mein muss sie wieder werden — und wenn sie mit Ketten an den Himmel gebunden ist!!!“ — —
„0, Liebe, Liebe! Wie unendlich ist dein Schmerz!!“ — —
Jetzt begann ich mit nervöser Hast zu überlegen: „Wo wird sie sein? Bei Katja?! Auf! Zu ihr!!“
„War Mascha hier?“
„Ja — nicht lange ist sie weg!“
„Sagte sie nicht, wo sie zu treffen ist?
„Nein! — Habt ihr euch wieder gezankt?“
„Hm! — Bißchen — aber schuld bin ich! — Ich muss sie treffen! — Adieu!‘
Bei A und B und C und D war sie nicht. Sollte sie vielleicht gar in ihrem Schmerz — — —?! Nein, nein! Nur das nicht! Nur das nicht! So hämmert es fort in den Schläfen, während man Trepp‘ auf, Trepp‘ ab springt!
Sechs Uhr! Jetzt geht sie am Newsky-Prospekt spazieren!! —
Endlich hier! Rasch vorwärts und nicht verpaßt! Ist sie das? Nein! Aber dort? Auch nicht! Das ist sie jetzt?! Nein — doch — nein — ja doch, ja! — — Jetzt etwas langsamer. — — Nun sieht sie mich. — Sie macht eine Wendung, auf die andere Seite zu gehen. — — Sie überlegt sich‘s und bleibt auf dieser. — — —
„Gehst du schon lange spazieren?“ — — — — —
Mascha liegt in meinen Armen. Wir weinen und lachen, weinen und lachen. — — Nie, nie, nie wieder!! Vergib, vergib!! — — Wir umschlingen, pressen und küssen uns, als ob es gälte, ineinander aufzugehen. — — — Wir beschimpfen, zausen uns an den Haaren und ohrfeigen einander wollüstig. — — — Dann reiben wir Wange an Wange und flüstern uns die verrücktesten Kosenamen zu. — — — — —
0 Paradies der Liebe!! Warum haderte ich mit meinem Schicksal, daß es mir so unerhörte Qualen auferlegte?! — Nur sie allein können eine Seligkeit wie diese gebären!!
O Schicksal! Mehr, mehr, noch mehr Marter! — Damit meine Liebe wachse!
Θ
Der Wahnsinnige! Wieder ließ ich das Manuskript sinken. Welch grausamer Wahn, welch egoistischer Charakter, der sich seiner Untaten noch rühmt! Hätte er doch vor der Welt geschwiegen! Musste er sie noch im Tod verfolgen?
Still lehnte ich mich zurück in meinen Lesesessel. Der unbekannte Mitbewohner der Pension schien wieder in erhöhte Erregung geraten, seinem unruhigen Schritten über mir zu urteilen. Hin und her, hin und her. Rastlose schwere Tritte, nur unterbrochen, wenn er an der einen Seite des Zimmers angekommen verharrte, um sich zu drehen und zurück zu schreiten. Tapp, tapp, tapp. Sieben Schritte hin, sieben Schritte zurück. Zwischendurch glaubte ich dumpfes Gemurmel vernehmen zu können. Welch unruhiger Geist! Ich nahm kopfschüttelnd das Schreiben wieder auf. Hatte ich eigentlich seine Schritte vernommen, als ich las? Ich konnte mich nicht erinnern. Doch versuchte mich von neuem auf die Zeilen dieses Unholds zu konzentrieren.
IV
Unser Zusammenleben wurde immer unerträglicher. Und doch konnten wir auch nicht eine Stunde ohne einander aushalten. Ein furchtbares Verhängnis kettete uns zusammen und warf uns in den Strudel dieses zwitterhaften, in seiner elementaren Gewalt unübEgondlichen Triebes. Sich demselben zu entreißen, das verhinderten die gemeinsamen Fesseln.
Immer furchtbarer, immer wahnwitziger gestalteten sich unsere Auftritte und die sie von Zeit zu Zeit unterbrechenden Liebes-Eruptionen.
So krallten wir uns verzweifelt aneinander, uns immerfort um Verzeihung und Gnade bittend, nur um hernach umso heftiger zu toben. Geschirr wurde geworfen, geschrien und geflucht. Ja, ich verstieg mich sogar dazu, sie in meiner Tobsucht zu packen und mit Gewalt zu Boden zu werfen, während sie mich anspuckte und ohrfeigte. Dann wieder jammerte sie um ihr Kind in ihrem Leib. „Ach ich liebe dich doch“, flehte ich um Erbarmen, mich sie an mich drückend.— — —
Doch das Wesen in ihr, unser Kind wurde mir zuwider. „Es ist Schuld an unserem Elend“, schrie ich sie an. „Siehst du das nicht?“ — — —
Sie erbleichte, wich mit angstgeweiteten Augen vor mir zurück, schützend die Hände vor den schwellenden Leib haltend. „Ich kann ihm nicht gerecht werden“, beschwor ich sie. „Siehst du nicht, wie es mich quält, mich von dir reißt?“
Vor Entsetzend sank sie blass danieder, die Hand vor den im stummen Schrei geöffneten Mund haltend, zitternd, bebend vor Kummer und Schmerz. So ging das Tag um Tag, bis ich erschöpft vom Streite sie schließlich auf Knien bat, das Kind wegmachen zu lassen.
Sie ward ganz still, senkte den Kopf. Dann schaute sie mich mit großen traurigen Augen an. Sie weinte still. — Dann küsste sie mich — und ging.
Der Schlüssel knarrte im Schloss. — — — „Mascha! Mascha! Um Gottes willen! Mascha! Was willst du tun?!?“ Ich rüttelte an der Türe wie wahnsinnig; — sie gab nicht nach. — Ich riss das Fenster auf. — — „Hilfe! Hilfe!“ – Die Türe wird erbrochen. — Fort zu Maschas Türe! — Rasch ist sie gesprengt.
Sie liegt da. — — Tot! — — — Gift! — — —
Θ
Nun war ich mir sicher! Der merkwürdige Gast über mir stellte sein unruhiges Gehen ein sobald ich las. Kaum hatte ich geendet, so vernahm ich seinen polternden Gang aufs Neue. Auch war ich mir nun sicher, abfälliges Gemurmel zu hören. Ich beschloss der Sache auf den Grund zu gehen.
Mühsam erhob ich mich, gegen den bösartigen Schmerz in meinem Rücken ankämpfend und hinkte zur Tür. Ganz gegen meine Gewohnheit hatte ich heute die Pension nicht zum Abendessen verlassen, sondern beschlossen, die Wirtin zu bitten, mir eine Abendfesper zu bereiten. Sie musste wohl vernommen haben, wie ich die Treppe hinab gehinkt kam, denn sie erwartete mich schon vor dem kleinen Salon, der auch als Speisesaal diente.
„Gehen Sie heute nicht aus?“, erkundigte sie sich verwundert.
Ich verneinte mit Hinweis auf mein Leiden und bat sie um die Gefälligkeit, mir ein kleines Abendmahl zu richten. Täuschte ich mich oder fiel ganz flüchtig ein Schatten von Unwillen in ihr Gesicht? Doch im nächsten Moment gab sie sich bemüht, richtete mir meinen gewohnten Tisch am Fenster und verschwand in der Küche, die sich direkt neben dem Salon befand, nur durch eine Schwingtür getrennt, versehen mit zwei kleinen herrlichem Jugendstilfenstern. Offenbar nachträglich eingebaut, denn sie passte so gar nicht zur sonstigen eher barocken Ausstattung der Pension.
Ich blickte von meinem Platz auf die Straße hinaus. Es dunkelte bereits. Eine einsame Gasleuchte beschien eine kleine Strecke des Weges vor dem Hause, kaum dass das Licht die gegenüberliegende Straßenseite erreicht hätte. So verblassten die Konturen der jenseitigen Bürgerhäuser im zunehmenden Dunkel der Abenddämmerung. Nur die Dächer spiegelten schwach das verglühende Rot der Abendsonne wider. Es schien niemand auf der Straße zu gehen. Nur einige wenige kleine Fenster der gegenüber liegenden Häuser gaben einen Hinweis auf Leben. Diese Stille schien mir unnatürlich, jedenfalls hatte ich sie nie vorher wahrgenommen, wenn ich mit der Droschke spät nach Hause kam.
„Es ist ruhig heute“, bemerkte ich zur Wirtin, die mir eine üppige Brotzeit reichte.
„Es hat wieder angefangen“, gab sie kopfschüttelnd zur Antwort.
„Angefangen?“, fragte ich verwundert. „Was meinen Sie?“
„Es geht wohl niemand vor die Tür heute, haben Sie denn nicht gehört?“, entgegnete sie verwundert.
„Nein! Ist etwas vorgefallen?“, erkundigte ich mich beunruhigt.
„Man ist seines Lebens nicht mehr sicher, seit diese...“, sie verstummte, während sie sich bereits abwandte, um mir ein Glas Bier zu reichen, welches sie auf der Anrichte bereits abgestellt hatte.
„Ach...“, gab ich zurück, als sie offenbar ihren Satz nicht weiter auszuführen gedachte.
Sie nickte nur stumm, drehte sich zur Wand, wo sie am Kalender ein Blatt abriss, was sie offenbar zuvor vergessen hatte.
„10. August 1932“.
Ich verspeiste stumm mein Mahl, trank einen guten Schluck des kräftigen dunklen Biers, welches dazu beitrug mein Gemüt zu beruhigen. Plötzlich schrak ich auf. 1932? Aber das konnte doch nicht sein! Wir hatten doch nicht 1932. Ich grübelte nach dem jetzigen Jahr, welches wir nun hätten, doch es wollte mir partu nicht einfallen. Ich war zweifellos übermüdet. So beschloss ich zu Bett zu gehen.
Im Hinausgehen schien mir die Gelegenheit günstig, nach dem anderen Gast zu fragen, welcher über mir wohnen musste.
„Ach, sagen Sie“, rief ich „dieser andere Gast, über mir. Bleibt er lange?“
Verwundert kam die Wirtin aus der Küche. „Gast? Wir haben keinen weiteren Gast!“
„Aber ich bitte Sie!“, gab ich zurück. „Der Herr, der das Zimmer über mir hat. Ich höre ihn hin und her gehen.“
„Über Ihnen? Es gibt kein Zimmer über Ihnen. Sie müssen sich täuschen. Nein, zur Zeit sind Sie der einzige Gast bei mir. Um diese Jahreszeit...“ Wieder brach sie mitten im Satz ab.
„Aber ich höre immer wieder Schritte über mir, wenn ich es Ihnen sage!“
„Das ist ganz und gar unmöglich. Über Ihnen ist nur das Dach, da wohnt niemand.“ Damit wandte sie sich schnell ab.
„Ach!“, wunderte ich mich wieder. Sollte ich mich so getäuscht haben? Kopfschüttelnd wandte ich mich wieder der Treppe zur oberen Etage zu, den Schmerz in meinem Bein verfluchend, der wieder unerträglich geworden war.
„Hätten Sie vielleicht die Güte mir ein Schmerzmittel zu besorgen?“, rief ich auf halber Strecke, da ich bemerkte, dass die Witwe mir besorgt nachschaute. Sie wolle es mir sogleich bringen, ich solle mich nur erst auf mein Zimmer begeben. Das war mir nur recht, so konnte ich sie zum Zeugen werden lassen, mich nicht verhört zu haben.
Die Wirtin erschien auch unmittelbar, nachdem ich mich wieder in meinem Lehnstuhl niedergelassen hatte und reichte mir ein Tablett mit einem Glas Wasser und einer kleinen Schachtel eines Schmerzmittels, welches ich dankend entgegennahm. Ich lauschte in die Stille des Raumes, doch diesmal blieb alles ruhig. Täuschte ich mich oder beobachtete mich die gute Frau misstrauisch? Ich lächelte sie verlegen an, als sie sich, mir eine gute Nacht und Genesungswünsche murmelnd, leise entfernte.
Bald nachdem ich das Pulver im Wasser gelöst und zu mir genommen hatte, erfasste mich eine träge Gleichgültigkeit. Da ich nicht müde genug war, um mich bereits zur Ruhe zu begeben, ergriff ich das Schriftstück und fuhr in meiner Lektüre fort, während meine Augenlider immer schwerer wurden.
V
Endlich — nach Wochen — war ich wieder etwas ruhiger und konnte einige Gedanken fassen. Ich war so entkräftet, daß ich mich nur mit fremder Hilfe vom Bett aufs Sofa oder zurück schleppen konnte. Man hatte gefürchtet, daß ich‘s nicht überstehen würde. — Wochenlang die erschütterndsten übermenschlichen Leiden erdulden — zwischen Tod und Wahnsinn schweben!
Aber auch übermenschliche Liebe war mir zuteil geworden! Das Bild von Saïs war mir entschleiert! — — Ich hatte die Liebe gekostet bis zum letzten Tropfen! — Aber nur der wird dessen teilhaftig, der zuerst den Becher des Leidens zur Neige getrunken! — Beides geht über die Kraft! — —
O, kurzsichtige Welt, die du den Mord Maschas: „Sadismus‘ nennen wirst! — Haben denn ihre Leiden mir nicht doppelt so tief ins Herz geschnitten?! Hat sich nicht meine Seele gekrampft bei ihrer Qual?! — Ich wollte ja nur mich quälen! — Bin ich schuld, daß das nur möglich ist durch ihr Martyrium? — Hat sie nicht auch alle meine überirdischen Seligkeiten geteilt?! — Wer diese gekostet: der gibt sie nicht — und wenn er den doppelten Preis an Leiden zahlen muss!!