Ein Sizilianer von festen Prinzipien

Text
Read preview
Mark as finished
How to read the book after purchase
Font:Smaller АаLarger Aa

Nun ist es so, dass die Diener, also jene mit einer Dienernatur, stets niederträchtiger und dümmer sind als ihre Herren. Und so ist der Bericht von Pater Girolamo Matranga

7

, Theatiner, Berater und Gutachter des Heiligen Offiziums, zum selben Fall etwas seriöser als die Notiz des Doktor Auria. Matranga berichtet denn auch, dass der Inquisitor zur gewohnten Stunde in die Verliese gegangen war, um das übliche Werk

zum Wohle der Gefangenen

 zu tun: Dieser Ausdruck hat ein weites Bedeutungsfeld, das vom Überzeugungsgespräch bis zur Folter durch Seilhochziehen reicht. Es heißt darin außerdem, dass Fra Diego vor den Inquisitor geführt wurde, also nicht auf ihn zugekommen ist. Aus diesen beiden Hinweisen können wir zuverlässig schließen, dass er einem Verhör samt der dazugehörigen Folter unterzogen werden sollte.



Was den heiligmäßigen Tod des Monsignore de Cisneros angeht, so heißt es bei Matranga nur, dass er keine anderen Worte als solche des Sich-Ergebens in den göttlichen Willen geäußert habe: Und so

stieg er in die ewige Heimat auf, um seine Jugend wiederzugewinnen

. Keine Vergebung für den Ungläubigen, keine außerordentliche Liebe.



Weder aus dem Tagebuch Aurias noch aus dem Bericht Matrangas geht hervor, wie viele Tage Monsignore de Cisneros in Agonie gelegen hat: wenige, sagt der Theatiner; sehr wenige, wenn wir in Betracht ziehen, dass Auria in ein und derselben Aufzeichnung die Notiz über die Verwundung und die über das Begräbnis unterbringt. Es gab auf jeden Fall feierliche Exequien: Alle Glocken der Stadt läuteten zum Leichenbegängnis, und die Uhr am Palazzo Chiaramonte wurde für den ganzen Tag angehalten. Jene Uhr ist beim Volk sprichwörtlich geworden:

Lu roggiu di lu Sant’Ufficio nun conzigna mai

, sie entlässt nie in die Freiheit, schlägt nie die Stunde der Befreiung

8

.



In der spanischen Kapelle der Chiesa della Gangia existiert noch heute das Grabmal des Monsignore de Cisneros. Der Stein trägt folgende Inschrift:



Aquí yace el licenziado Don Juan López de Cisneros, natural de Castromocho en Castilla la Vieja, provvisor y vicario general dei obispado de Orense, collegial mayor del insigne colegio de San Ildefonso, universidad de Alcalá de Henares, y pariente de su fundador, fiscal y inquisidor apostolico en este reyno de Siçilia. Murió en el mismo exercitio de inquisidor a 4 de abril 1657, a los 71 de su edad. Fundó una capillania perpetua en esta capilla de que son patrones los inquisidores deste reyno

.





(Hier ruht der Lizentiat Don Juan López de Cisneros, gebürtig aus Castromocho in Castilla la Vieja, Provisor und Generalvikar des Bischofs von Orense, geachtetes Mitglied des ehrhaften Kollegiums Sankt Ildefonso, der Universität zu Alcalá de Henares, Verwandter des Gründers, Fiskal und apostolischer Inquisitor unseres Königreichs Sizilien. Er starb bei der Ausübung seines ihm anvertrauten Amtes als Inquisitor am 4. April 1657 im 71. Jahr seines Lebens. Er stiftete eine ständige Kaplanstelle für diese Kapelle, deren Fürsprecher die Inquisitoren des Königreichs sind.)





Auf der Schrifttafel ist ein Schild zu sehen, ein Wappen, auf dem zwei senkrechte und vier waagrechte Linien eine Art Gitter bilden: passendes Symbol für seine Nächstenliebe und diejenige seines

Verwandten;

 das ist eben jener Kardinal Jiménez de Cisneros, auf den D’Ors einen Heldengesang anstimmt:

die Hand, die erstickt und zugleich eine Stütze ist

. Aber die Hand von Diego La Matina hatte diese Gabe nicht, und so starb der Verwandte des großen Cisneros

bei der Ausübung ebendieses Amtes als Inquisitor

. Durch Hiebe mit den Handschellen: ein Arbeitsunfall, wie er einem Schergen, einem Folterknecht nun mal zustoßen kann. Etwas besser war im Jahr 1485 in Aragon der Inquisitor Pedro Arbues gestorben: in einem nächtlichen Hinterhalt; durch die Hand von

conversos

, das heißt von konvertierten Juden, welche die Inquisition niemals aus den Augen ließ

9

. Das sind, soweit wir wissen, die beiden einzigen Fälle, in denen Inquisitoren eines gewaltsamen Todes starben.





Diego La Matina, Sohn des Vincenzo und der Francesca di Gasparo, wurde am 15. März 1622 in der Chiesa Santa Maria dell’Annunziata von Racalmuto getauft; Taufpaten waren ein gewisser Sferrazza, dessen Vornamen wir nicht entziffern können, und eine Giovanna di Gerlando aus Gueli. Es zelebrierte Pfarrer Paulino d’Asaro

10

.



Herrscher von Racalmuto war damals Girolamo II. del Carretto, ein grausamer und habsüchtiger Mensch: Kaum zwei Monate später, am 6. Mai, sollte einer seiner Diener, ein gewisser Antonio Di Vita, ihn mit einem Büchsenschuss ins Jenseits befördern. Wie es scheint, war Di Vita vom Prior des Klosters der reformierten Augustiner mit diesem Auftrag betraut worden, aus Rache für eine Geldsumme, die der Graf ihm abgenommen hatte. Laut örtlicher Überlieferung hatte der Prior einen hübschen Batzen Geld einsammeln können, und zwar in der frommen Absicht, das Kloster auszubauen und die dazugehörige Chiesa di San Giuliano zu verschönern. Aber del Carretto schaffte es, sich dieses Geld aushändigen zu lassen. Als Beweis für das Vorhaben des Priors und die räuberische Intervention des Grafen verweist das Volk auf die halbfertigen Säulen neben dem alten Kloster, unweit vom Kalkofen.



Dass an dieser Überlieferung etwas Wahres dran ist, finden wir im Epilog der Volkslegende selbst bestätigt, der besagt: Der Diener Di Vita sei ungestraft davongekommen dank Donna Beatrice, der dreiundzwanzigjährigen Witwe des Grafen: Nicht nur verzieh sie dem Di Vita und hielt den Rachsüchtigen unbeirrt entgegen, dass

der Tod des Dieners den Herrn nicht wieder ins Leben zurückbringt

, sondern sie ließ ihn auf freien Fuß setzen und versteckte ihn auch. Nun schimmert in diesem Epilog deutlich die schadenfreudige Anspielung auf einen

gehörnten und abgeschossenen

 Grafen del Carretto durch: Aber das dürfte ein eher zweitrangiger Grund für sein Ende gewesen sein, der gewichtigste bleibt der Hass des Priors. Und daher: Hätte es keine konkreten Anhaltspunkte gegeben, die den Prior der Augustiner als Auftraggeber ausweisen, hätte das Volk gern die Geschichte von den Hörnern des Grafen in Umlauf gebracht.



Der Prior war gewiss kein Heiliger. Aber diesen Büchsenschuss hatte der Graf mit dem Segen der Bewohner eines ganzen Ortes abbekommen. Ein Memorandum vom Ende des 17. Jahrhunderts (heute unauffindbar, aber transkribiert und zusammengefasst von Nicolò Tinebra Martorana, dem Verfasser einer brauchbaren Lokalgeschichte

11

) berichtet von der erdrückenden Steuerlast, welche die del Carretto dem Volk auferlegten, und Don Girolamo II. tat das auf besonders grausame und räuberische Weise. Der

terraggio

 und der

terraggiolo

, auf die Erbpacht zu leistende Abgaben und Steuern, wurden mit Härte und Willkür eingetrieben: und nicht nur bei denen, die tatsächlich Erbpächter in der Grafschaft Racalmuto waren, sondern auch bei jenen, die in der Grafschaft lediglich ihren Wohnsitz, ihr Pachtland jedoch außerhalb des Territoriums hatten; und nicht wenige dürften genau in dieser Lage gewesen sein. Daher hielt die Abwanderung der Bauern aus dem Herrschaftsgebiet der del Carretto über die Jahrhunderte stetig an, ja in bestimmten Phasen wurde daraus sogar eine Massenflucht; die erzwungenen Wiederansiedlungen oder solche, die gefördert durch Steuerfreiheit zustande kamen, genügten nicht, um die hinterlassenen Lücken gänzlich zu schließen.



Das von Tinebra Martorana zusammengefasste Dokument besagt, dass genau unter der Herrschaft von Girolamo II. die

borgesi

, also die Ackerbürger von Racalmuto, die zwecks Abschaffung der willkürlich auferlegten Steuern bereits Beschwerde auf den Weg gebracht hatten, einem äußerst schlimmen Betrug aufsaßen: Der Graf täuschte nämlich seine Bereitschaft vor, diese Abgaben für immer abschaffen zu wollen; allerdings gegen Zahlung einer großen Summe, genauer von vierunddreißigtausend Scudi. Die Höhe der Summe lässt uns denken, dass es sich nicht um den Freikauf von bestimmten Steuern handelte, sondern um die endgültige Auslösung der Gemeinde aus der Herrschaft des Despoten, also um den Übergang von der Baronie in Königsland mit Selbstverwaltung.



Um eine solche Summe zusammenzubringen, genehmigte das Königliche Gericht eine außerordentliche Selbstbesteuerung: Kaum aber waren die neuen, außerordentlichen Steuern erhoben, erklärte Don Girolamo del Carretto, dass er sie als gewöhnliche Steuern betrachte – ohne Zweckbindung an den Freikauf. Die

borgesi

 reichten selbstverständlich Beschwerde ein; aber die schmerzliche Angelegenheit wurde auf gewisse Weise erst 1784 zu ihren Gunsten gelöst, unter der Herrschaft des Vizekönigs Caracciolo.



Der Augustinerprior und der Diener Di Vita übten also Rache für eine ganze Stadt, wie auch immer die

grässliche Bescherung

 gewesen sein mag, deren Hauptfiguren sie zusammen mit dem Verstorbenen und Donna Beatrice gewesen sind. (Merkwürdig ist die Aussage eines Pergaments, das höchstwahrscheinlich ein Jahr später in den Sarkophag aus Granit gelegt wurde, wohin der Leichnam des Grafen überführt worden war. Darauf ist das Alter von Donna Beatrice, vierundzwanzig Jahre, vermerkt, das des Grafen aber verschwiegen. Nun verfügen wir tatsächlich nicht über das Original, sondern nur über eine Abschrift von 1705; doch haben wir keinen Grund, an der Worttreue der Transkription von Hand des Karmeliterpriors Giuseppe Poma zu zweifeln: Das Original hatte sein Vorgänger Giovanni Ricci verfasst, der sich vielleicht erlaubt hat, uns eine kleine boshafte Anspielung zu überliefern.)



Pater Girolamo Matranga, Berichterstatter beim Glaubensakt, dessen Opfer Diego La Matina war, kannte diese Geschichte nicht: Er hätte nämlich glänzende Schlussfolgerungen aus der Tatsache zu ziehen gewusst, dass ein Herrschermord, verübt vom Diener an seinem Herrn, genau an dem Ort und zu der Zeit begangen wurde, da der

Mörder des Inquisitors

 geboren wurde. Ebenso wenig wusste er, dass bei der Geburt und beim Tod des

Ungeheuers

 die gleichen Sternbilder am Himmel standen. Das Schicksal der Menschen in den Sternen zu lesen, das war die fixe Idee jenes sadistischen Don Ferrante: Erfreut können wir bekunden, dass sich das Horoskop, das dieser für den spanischen Prinzen Prospero Filippo erstellte, als irrig erwiesen hat: Demnach war er zu großen Dingen bestimmt, wegen der offensichtlichen Gunst der Sterne, aber auch wegen des zeitlichen Zusammenfallens seiner Geburt mit Fra Diegos Verurteilung.

 



Zwischen dem Jahr 1622, in dem Fra Diego geboren wurde, und 1658, in dem er den Scheiterhaufen bestieg, wechselten die Grafen del Carretto einander in dichter Folge als Herrscher ab: Girolamo II., Giovanni V., Girolamo III., Girolamo IV. Die del Carretto hatten kein langes Leben. War der zweite Girolamo durch die Hand eines Meuchelmörders gestorben (wie übrigens auch sein Vater), so starb der dritte durch die Hand des Henkers: schuldig gesprochen wegen einer Verschwörung, deren Ziel die Unabhängigkeit des Königreichs Sizilien war. Und es ist nicht anzunehmen, dass er sich aus idealistischen Gründen auf die Verschwörung eingelassen hatte: Als Schwager des Grafen von Mazzarino, dessen Schwester er geheiratet hatte (auch sie hieß Beatrice), liebäugelte er damit, den König von Sizilien in der Familie zu haben. Aber die Inquisition war wachsam, und wachsam waren die Jesuiten: Als die Verschwörung aufgedeckt wurde, war der Graf so leichtfertig, in Sizilien zu bleiben, vielleicht im Vertrauen auf Freundschaften und Protektion bei Hofe und im Königreich. Eine Verschwörung gegen die spanische Krone aber wog wesentlich schwerer als die verbrecherischen Ehrenhändel, die unerbittlichen Racheakte, denen sich die del Carretto für gewöhnlich widmeten. Giovanni IV. beispielsweise hatte einen gewissen Gaspare La Cannita ermorden lassen, der aus Neapel nach Palermo gekommen war, und eben aus Furcht vor dem Grafen sich auf das Wort des Vizekönigs, des Herzogs von Alba, verlassen hatte, der ihm seinen Schutz versprochen hatte. Den Zorn des Vizekönigs auf den del Carretto kann man sich leicht vorstellen: Aber er scheiterte an der Protektion, die das Heilige Offizium dem Grafen, seinem

familiare

, gewährte. Denselben Giovanni IV. finden wir im Bericht über die Explosion des Pulverturms des Castello a mare am 19. August 1593: Er speiste gerade mit dem Inquisitor Paramo – das Heilige Offizium hatte damals seinen Sitz im Castello a mare –, als sich die Explosion ereignete. Sie kamen davon, Paramo

12

 allerdings schwer verletzt. Ihr Leben ließen jedoch Antonio Veneziano und Argisto Giuffredi, zwei der größten Genies des 16. Jahrhunderts in Sizilien, die sich dort in Gefangenschaft befanden.



Für die

familiäre Verbundenheit

 der del Carretto mit dem Heiligen Offizium gibt es noch weitere Beispiele. Hier genügt jedoch festzuhalten, dass die Inquisition in Racalmuto gegen die frevelhafte Ketzerei und als Instrument der Mächtigen wohl nicht untätig geblieben war. Doch obgleich ein berühmter Historiker beteuert, dass dem, was La Mantia

13

 über die Inquisition in Sizilien geschrieben hat, nichts oder so gut wie nichts hinzuzufügen sei, wissen wir bedauerlicherweise nur sehr wenig. Garufi

14

 zum Beispiel konnte nach dem Durchforsten der spanischen Archive zu den Notizen des La Mantia vieles beisteuern; und noch ist dem nicht genug.



Aus ebendiesen von Garufi veröffentlichten Dokumenten wissen wir, dass es 1575 in Racalmuto acht

familiari

 und einen Kommissar des Heiligen Offiziums gab; zwei Jahre später waren es zehn

familiari

, ein Kommissar, ein Rechtsanwalt und Notar – und das bei einer Bevölkerung von rund fünftausend Personen (Maggiore-Perni nennt 5.279 Bewohner für 1570, 3.825 für 1583: Auch wenn diese Zahlen nur unter Vorbehalt zu übernehmen sind, kann man ohne Weiteres den Rückgang für gesichert betrachten). Was bedeutet: Allein das Heilige Offizium verfügte seinerzeit über eine Macht, wie sie heute bei einer doppelt so großen Bevölkerungszahl nicht einmal die Carabinieri haben. Wenn wir dann noch die Schergen des weltlichen Gerichtshofs und diejenigen des Vikariats-Gerichts sowie die Spione hinzuzählen, und wir uns das Leben in unserem armen Land am Ende des 16. Jahrhunderts vorstellen, dann überkommt uns Bestürzung.



Aber wir finden nur einen einzigen Racalmuteser, der schon vor Fra Diego in die Klauen des Heiligen Offiziums geraten war: den Notar Jacobo Damiano, angeklagt wegen lutherischer Ansichten, aber

versöhnt

 im Glaubensakt, der am 13. April 1563 in Palermo zelebriert wurde.

Versöhnt

: das heißt freigesprochen aufgrund eindeutiger und öffentlicher Reue, aber nicht straflos, wie wir aus dem folgenden ergreifenden Gesuch erfahren:



Hochwürdigster Herr Inquisitor

.



Der arme Notar Iacobo Damiano, versöhnt durch das Heilige Offizium der Inquisition, gibt Eurer Hochwürdigsten Herrschaft zu verstehen, wie er trotz vielerlei Mittel und Notlösungen, die er selbst ersonnen hat, keinen Weg findet, um für seinen Lebensunterhalt zu sorgen, außer durch Rückkehr in seine Heimat Racalmuto, wo er mit Hilfe und Unterstützung seiner Verwandten sich erhalten und die wenigen Tage seines Lebens, die ihm angesichts seines Alters und seiner Gebrechlichkeit noch bleiben, fristen könnte. Doch da, wie der Antragsteller bereits gesagt hat, seine Verwandten stets ehrenwerte Personen waren, es nach wie vor sind, würden diese, wenn sie an dem Antragsteller besagtes Gewand sähen, ihn unter keinen Umständen aufnehmen, sondern ihn davonjagen und ihn vor Hunger und Bedürftigkeit sterbend ziehen lassen. Deswegen wirft er sich zu Füßen Eurer Hochwürdigsten Herrschaft, auf dass Ihr so gnädig sein möget, ihm die Gunst zu erweisen, das besagte Gewand in eine andere Buße und in eine Geldstrafe für den Freikauf der gefangenen Christen umzuwandeln, die im Gebiet der Mauren sind, damit er als Bittsteller von seinen Verwandten die möglichen Geldmittel für diesen Zweck einsammele, andernfalls es leicht geschehen könnte, dass er Hungers stirbt und von allen verlassen wird

.

15



Das Gewand, auf das der arme Notar sich bezieht, ist der sogenannte Sanbenito: ein

saccus benedictus

, gebenedeiter Sack, eine Art kurze Tunika, gelb, markiert mit zwei Linien in Form eines Andreaskreuzes. Das war das Gewand der Schande (und selbst wenn heute in den sizilianischen Ortschaften ein jeder, um mit Pirandello zu sprechen, seinen eigenen Sanbenito trägt, um wie viel grausamer muss es wohl in der Vergangenheit gewesen sein, tatsächlich das Gewand der Schmach zu tragen).



Garufi geht davon aus, dass der Vorschlag des Notars, die Bestrafung mit dem Sanbenito in eine Geldstrafe umzuwandeln, den Inquisitor nicht ungerührt gelassen hat: Denn es handelte sich um Juan Bezerra de La Quadra, ein Mensch, bei dem Raffgier und Grausamkeit sich die Waage hielten. Dass aber der Notar tatsächlich lutherische Ansichten vertreten haben soll, das bezweifeln wir: So wie wir bezweifeln, dass all diejenigen tatsächlich lutherischen Glaubens waren, die als hartnäckige Lutheraner angeklagt oder als solche verdächtigt vom Heiligen Offizium der säkularen Gerichtsbarkeit überlassen oder wieder mit dem Glauben versöhnt und mit mehr oder minder schweren Geld-, Körper- oder Haftstrafen belangt wurden. Wenn man heute mit einem Bauern, einem Arbeiter aus den Schwefelgruben oder auch mit einem

Ehrenmann

 über Angelegenheiten der katholischen Religion spricht, so fällt es noch immer leicht, bestimmte Urteile aus ihrem Mund über die Sakramente, über das Seelenheil, über das Priesteramt – ganz zu schweigen von den Ansichten über die irdischen Interessen und das weltliche Verhalten der Priester – als lutherische Vorstellungen auszuweisen. Tatsächlich aber dürfen solche Urteile nicht einmal annähernd als ketzerische Ansichten betrachtet werden; sie sind, in Bezug auf die Religion, etwas darüber Hinausreichendes und Schlimmeres: Sie gründen auf einer völligen Unempfänglichkeit gegenüber der Metaphysik, dem Mysterium, der geheimen Offenbarung; eben auf dem uralten Materialismus des sizilianischen Volks.



Was etwa die Beichte angeht, da brauchte es keinen Luther, um das Misstrauen und den Widerstand eines Sizilianers zu wecken. Immer schon war dieses Sakrament in seinen Augen nichts weiter als ein schlauer, sozusagen eines Boccaccio würdiger Kunstgriff: ein Instrument, das eine privilegierte Gesellschaftsschicht, also die der Priester, ersonnen hat, um in den Genuss sexueller Freizügigkeiten auf anderer Leute Terrain zu kommen und um im selben Moment ebendiese Freizügigkeiten bei den Nichtprivilegierten zu tadeln; einem Sizilianer bedeutet ein Privileg nicht so sehr die Freiheit, sich bestimmte Dinge erlauben zu dürfen, als vielmehr das Vergnügen daran, anderen genau diese Freiheit zu verbieten. Und selbst das Zölibat der Priester erschien am Ende als so etwas wie eine List, eine Irreführung: um nicht mit gleichen Waffen auf dem tückischen Terrain kämpfen zu müssen, auf dem die Frauen sich der Ehrhaftigkeit der Männer bedienen, um selbst unangreifbar zu sein. Und von dieser Überzeugung rührt das Verbot, das die Ehemänner, Väter, Brüder ihren Frauen hinsichtlich der Beichte erteilten. Was ihr eigenes Beichten anging, waren sie der Ansicht, das sei nichts für Männer, einem anderen Mann gegenüber die eigenen Empfindungen, Schwächen, geheimen Taten

You have finished the free preview. Would you like to read more?