Angst im Systemwechsel - Die Psychologie der Coronazeit

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Bedürfnispyramide nach Maslow

Natürlich kann man Maslows Stufen der Bedürfnispyramide kritisieren. Sind es tatsächlich nur fünf oder mehr Stufen? Welches Bedürfnis gehört wo hin? Wir brauchen uns damit nicht im Einzelnen zu beschäftigen.52 Es reicht die Kernaussage, dass unsere Bedürfnisse hierarchisch aufeinander aufbauen und wir bemüht sind, diese Stufen so weit wie möglich nach oben zu erklimmen. Da mag es auch Unterschiede zwischen einzelnen Menschen geben. Der einen ist der Schutz besonders wichtig, dem anderen die Freiheit. Wir kommen darauf zurück, wenn wir uns mit den Grundformen der sozialen Ängste beschäftigen. Grundsätzlich wollen wir alle nach oben. „Ein Mann will nach oben“ war eine erfolgreiche Fernsehserie mit Mathieu Carrière und Ursela Monn aus dem Jahr 1978, die dies anschaulich werden lässt.53

Solange wir der Auffassung sind, dass es bergauf geht, geht es uns gut. Wir sind zuversichtlich, wir sind aktiv, motiviert, wir setzen uns ein, arbeiten, schaffen und werken aus freien Stücken. Intrinsische Motivation, also Motivation von innen heraus, nennt das die Fachwelt. Dabei geht es gar nicht darum, auf welcher Stufe wir als Ausgangspunkt stehen, solange es bergan geht. Deutschland und Österreich in den 50er und 60er-Jahren war so eine Gesellschaft des Aufstiegs. Nach den Schrecken des Krieges und dem völligen ökonomischen und materiellen Zusammenbruch durch Krieg, Tod, Bombardierung und Vertreibung, wollten die Menschen wieder nach oben. Überlebende räumten den Schutt weg, Arbeiter bauten ihre Fabriken wieder auf, Politiker schufen zwei neue deutsche Staaten und jeder fasste an und strebte aufwärts. So entstand in Westdeutschland das „Deutsche Wirtschaftswunder“ und Bundeswirtschaftsminister Ludwig Erhard schrieb sein berühmtes Buch „Wohlstand für Alle“, seine Idee einer Sozialen Marktwirtschaft.54 Ich erinnere mich noch, welcher Jubel es war, als in der Familie der erste Farbfernseher gekauft wurde, die Kohleöfen durch eine Heizung ersetzt wurden, eines Tages ein Telefon im Haus war und wir zum ersten Mal mit einem Flugzeug nach Italien in den Urlaub flogen. Alles ging aufwärts, nach vorne. Angst gab es eigentlich nur vor den Russen und ihren Atomraketen, aber die hatten ja auch Angst vor uns. In Anlehnung an einen Adeligen zur Zeit der Französischen Revolution konnte man sagen: „Wer die Welt vor 89 nicht gekannt hat, weiß nicht, was Leben ist.“ Dann kam Gorbatschow und die Grenzen öffneten sich. Nun kam der Aufschwung auch in Mitteldeutschland. Endlich wieder vereint. Und auch dort nun das Gefühl: Es geht aufwärts. Alles war gut. Insgesamt war es eine angstfreie und zukunftsmutige Zeit. So sollte es jetzt gemeinsam weitergehen. Prima.

Hat man alles, entsteht natürlich auch die Möglichkeit, dass man das Errungene wieder verliert. Bleibt unser Wohlstand? Gibt es vielleicht Gefahren? Kann es immer weiter aufwärts gehen? Der Planet ist doch endlich, wie der Club of Rome schon 1972 festgestellt hatte.55 Ist das Wirtschaftswachstum irgendwann endlich? Zweifel kamen auf. Das kann doch nicht immer so weitergehen. Und die Umweltauswirkungen sahen wir auch. „Rettet den Wald“ von Horst Stern56, „Rettet das Meer“57, „Rettet …“ wurden bekannte Buchtitel. In den 90er-Jahren des letzten Jahrhunderts kippte der Optimismus zunehmend in sein Gegenteil. Angst kam auf, Angst, auf der Bedürfnispyramide wieder hinabzusteigen. Und Angst lähmt, sagt der Volksmund zu Recht. Der amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama hatte 1992 noch vom Ende der Geschichte geschrieben, womit er meinte, nach der Auflösung des OstWest-Konfliktes käme nun eine Zeit des Friedens und des Wohlstandes.58 Kaum jemand merkte es, aber langsam und stetig änderte sich alles, die Geschichte ging doch weiter.

Wenn nun im Denken die Auffassung, dass es bergauf geht, immer schwächer wird und auch ein Bewahren des Errungenen nicht mehr sicher erscheint, wird es kritisch. Wir können etwas verlieren, was wir schon erworben hatten, wir können auf den Stufen unserer Bedürfnisbefriedigung wieder herunterfallen. Allein der Gedanke daran macht uns Angst. Und genau diese Gedanken beschäftigen viele Menschen in den letzten Jahren. Der erste große Schock kam mit der Agenda 2010, einem Konzept zur Neuorganisation des Arbeits- und Sozialsystems in Deutschland durch Bundeskanzler Gerhard Schröder und die SPD in den Jahren 2003–2005, auf das Beschäftigte und Arbeitslose mit höchsten Verlustängsten reagierten und das die SPD ihre Stellung als Volkspartei kostete, mit Stimmenverlusten, von denen sie sich bis heute nicht erholen konnte.59 Weiter ging es mit den Problemen in der Wirtschaft, am Arbeitsmarkt und in der Finanzwelt. Immer mehr Menschen empfanden, dass die besten Zeiten vorbei waren und es eher wohl weiter abwärts gehen würde. Entsprechend stieg die Angst vor eigenem Abstieg.

Haben wir eben vorerst die Angst definiert als subjektives Empfinden möglichen Verlustes, so können wir dies nun präzisieren: Angst ist das subjektive Gefühl der Möglichkeit eines Verlustes von erreichten Positionen auf der Skala der Bedürfnisbefriedigung. Schauen wir uns einmal an, was das in der Coronazeit bedeutet:

1. Grundbedürfnisse

Den Regierungen kann nur daran liegen, die Grundbedürfnisse zu gewährleisten. Essen, Trinken, Wohnen, Wärme etc. stehen den Bürgern in vollem Umfang zur Verfügung und werden auch Bedürftigen durch Sozialleistungen gewährleistet. Und da tuen sie auch gut dran. Denn die Geschichte zeigt, dass die Nichtgewährleistung von Grundbedürfnissen die Menschen in die Rebellion treibt. Sind die Grundbedürfnisse nicht mehr voll gedeckt, haben die Menschen nichts weiter zu verlieren. Also kann und muss man den Aufstand wagen.60 So gingen der Französischen Revolution von 1789 und der Revolution 1848 Hungerkrisen voraus, ausgelöst damals durch Ernteeinbußen aufgrund vulkanischer Eruptionen mit Fallout größerem Umfangs und Minimierung der solaren Einstrahlung.61

Angst, dass die Befriedigung der Grundbedürfnisse einmal nicht mehr so sicher sein könnte, besteht trotzdem. Vor dem ersten Lockdown, und abgeschwächt auch beim zweiten, kam es zu einem panikartigen Kauf von lange haltbaren Überlebensmitteln wie Nudeln, Reis, Mehl, Hefe und Konserven. Die Regale in manchen Supermärkten waren über viele Tage völlig leer. Ebenso geschah es skurriler Weise mit Toilettenpapier, das lange nicht erhältlich war und danach dann erst nur zu exorbitanten Preisen. Es ging der Witz um: „Die Italiener decken sich mit Rotwein ein, die Franzosen mit Kondomen und die Deutschen mit Toilettenpapier.“ Jeder halt mit dem, was man in der Not braucht. Die Lage hatte sich bald wieder entspannt, gab jedoch einen Vorgeschmack, was bei einem Zusammenbruch der Wirtschaft oder längeren Lockdowns geschehen kann, und dass eine Angst vor einer Nichtbefriedigung der Grundbedürfnisse latent vorhanden ist.

Gleichwohl sind derzeit unsere Grundbedürfnisse, rein sachlich betrachtet, völlig gedeckt. Doch nein! Was ist denn mit der Gesundheit und dem Leben? Maslow führt beide in seiner Bedürfnispyramide nicht auf, als wenn es da kein Bedürfnis gäbe. Man kann sich tatsächlich streiten, ob Leben und Gesundheit eine Stufe in der Bedürfnispyramide darstellen oder ob sie der Sinn sind, wofür es die Bedürfnisse überhaupt gibt. Aber das ist eine rein philosophische Betrachtung ohne wirkliche Notwendigkeit. Fakt ist jedoch, dass Leben und Gesundheit unsere allertiefsten Sehnsüchte darstellen. Die Angst vor dem Tod ist die größte und basalste Angst, die der Mensch haben kann. Und wenn eine Krankheit zum Tode führen kann, ist sie angstbesetzt. Unter den reinen Grundbedürfnissen steht somit eine Sehnsucht nach einem gesunden Leben ohne Todesgefahr.

Genau diese basale Ur-Angst wird in Coronazeiten geschürt. Kein Wunder, dass die Menschen fluchtartig vor anderen weglaufen und sich in ihren vier Wänden erstarrt zurückziehen. Wie man die Angst vor dem Tod überwinden kann, schauen wir uns in Kapitel 10 an.

2. Sicherheitsbedürfnisse

Stabilität ist in der Coronazeit nicht mehr vorhanden. Jeden Tag gibt es neue Schreckensmeldungen, neue Gefahren, neue Regelungen, die beachtet werden sollen. Wie es weitergeht, ist unklar. Vieles, was seit Langem Bestand hat, kann nun wanken und stürzen. Ja, Instabilität ist derzeit das Kernmoment des weltweiten Politik- und Gesellschaftssystems. Dies ist ein typisches Phänomen, wenn ein solches System kollabiert und ein neues System im Entstehen ist. Man nennt dies einen Phasenübergang zwischen zwei stabilen Zuständen. Und solche Phasenübergänge sind immer chaotisch und unberechenbar. In ihnen geschieht nichts mehr nach Vernunft und vieles erfolgt plötzlich, unerwartet und unvorhersehbar. Instabilität vernichtet so das Alte und schafft etwas Neues. Und da stecken wir mittendrin. Näheres zum Systemwechsel werden wir uns in Kapitel 11 ansehen.

Sicherheit geht an allen Fronten verloren. Wird der Job morgen noch bestehen oder folgt Arbeitslosigkeit? Sterbe ich an Corona? Muss ich bald in Konkurs gehen? Kann ich mich im Supermarkt anstecken? Was wird, wenn ich mich infiziere? Bricht das Weltfinanzsystem zusammen? Sterbe ich an der Impfung? Kann ich mein Haus weiter abbezahlen? Und was ist mit meinem Ersparten und meiner Rente, mit Bekannten und Verwandten? Werde ich eingesperrt, wenn ich dagegen demonstriere? Sicherheit geht während eines Phasenübergangs stark verloren. Am sichersten ist es noch, sich zu Hause mit der Familie einzuigeln. Aber gibt es da nicht schon Gerüchte, dass die Unverletzlichkeit der Wohnung eingeschränkt werden soll?

Insgesamt ist das Grundbedürfnis auf Sicherheit erheblich tangiert. So wenig Sicherheit hatten wir seit 1945 nicht mehr. Das macht erhebliche Angst.

 

3. Soziale Bedürfnisse

Die sozialen Bedürfnisse sind in der Coronazeit ganz erheblich eingeschränkt worden. Öffentliche Veranstaltungen wurden verboten, ebenso wie Kinos, Gaststätten, Fitnessstudios, Stadtfeste, Weihnachtsmärkte und alles, wo sich sonst die Menschen treffen, um eine schöne Zeit miteinander zu verbringen.

Aber nicht nur das. Alte Menschen werden in Altenheimen und Krankenhäusern völlig isoliert, sodass sie leiden und am Alleinsein verzweifeln. Ein Herr schrieb dazu: „Besuch im Altenheim. Zwanzig Minuten auf Distanz unter Aufsicht, unter ständigen Belehrungen. Abstand halten (das schon panisch wiederholte Mantra des Personals), Zettel ausfüllen. Fragen nach meinem Gesundheitszustand, Fragen, ob Auslandsreisen stattfanden. Ob man müde, erkältet, fiebrig ist u. s. w., man bekommt einen Platz zugewiesen und dann wird der Angehörige hereingeführt. Als ich aufstand, wurde ich angeranzt: ‚Bleiben Sie doch sitzen!‘ Meine Angehörige, die immer fit war, die klar im Kopf war, erkannte ich kaum wieder. Es schnürte mir komplett die Kehle zu. Die Dame ist blass, hat massig abgenommen und ist komplett durcheinander. Der Besuch war wie eine Vorstellung im Knast. Nach zwanzig Minuten musste ich wieder gehen, meine Angehörige wurde widerstandslos ‚abgeführt‘. Es ist unmenschlich, was man mit den Alten macht. Der ‚Schutz‘ ist mehr Drangsal, Entmündigung und Angstmache, Isolation. Das muss aufhören.“62

Ebenso traurig ist es, wenn Väter bei der Geburt ihrer Kinder nicht anwesend sein dürfen oder Kinder nur noch mit einem Freund spielen sollen, wie es die deutsche Bundeskanzlerin forderte. Merkels Idee stieß allgemein auf große Entrüstung.63 Kinderärzte und Kinderschutzbund haben dies als „überflüssig und schädlich“ zurückgewiesen. Hein Hilgers, Präsident des Kinderschutzbundes, sagte: „Da werden Kinder gezwungen, sich zwischen Freunden zu entscheiden. Es wird tränenreiche Zurückweisungen geben. Das ist unbarmherzig.“64

Selbst private Treffen werden erheblich eingeschränkt, sodass maximale Personenzahlen meist aus nur zwei Haushalten vorgeschrieben werden. Mit all diesen Maßnahmen werden die Menschen vereinzelt. Ihr Bedürfnis nach sozialer Nähe und sozialem Austausch wird völlig missachtet und hintertrieben. Vereinzelt man Menschen, lassen sie sich besser lenken und vernetzen sich nicht so leicht zur Rebellion.

4. Individualbedürfnisse

Die Individualbedürfnisse nach Freiheit und Unabhängigkeit sind ebenfalls ganz erheblich eingeschränkt. Reisen ist in vielen Fällen nicht mehr möglich, das Verlassen des Landes und eine Rückkehr werden erheblich erschwert. Ausgangssperren werden angeordnet und Demonstrationen verboten. Den Menschen wird seitens der Regierungen kein Respekt mehr gewährt, ihre Würde genommen und sie wie Gefangene behandelt. Bürger adé, nun sind es Untertanen, die zu gehorchen haben, und es meist auch tun. Ein CDU-Politiker forderte, bei Veranstaltungen nur noch geimpfte Leute einzulassen, sobald ausreichend Menschen geimpft sind.65 In manchen Kreisen gilt bei erhöhten Inzidenzwerten neben nächtlicher Ausgangssperre eine Aufenthaltspflicht in einen 15-Kilometerradius um den Haushalt. Die Freiheit wird somit immer weiter eingeschränkt.

5. Selbstverwirklichung

Da die Menschen mit den vier unteren Stufen der Bedürfnispyramide beschäftigt sind, ist ein tiefes Erleben des Bedürfnisses nach Selbstverwirklichung derzeit kaum möglich.

Insgesamt werden die Bedürfnisse nicht mehr befriedigt. Die ehemals freien Bürger dürfen lediglich noch arbeiten und ihre überlebensnotwendigen Grundbedürfnisse decken. Auf allen Stufen haben sie deutliche Verluste. Das allein führt zu Angst. Und man kann auf diesen Stufen noch mehr verlieren, was noch mehr Angst erzeugt. So werden die Menschen in ihr Erstarrungsverhalten gebracht und weitgehend dort gehalten. So sind sie ruhig und lehnen sich nicht auf. Grundbedürfnisse decken, alle anderen wegnehmen, ist eine Strategie, die immer wieder in der Geschichte funktioniert hat. Das ist weniger als im Alten Rom, wo es neben dem Brot wenigstens noch die Spiele gab.

Insgesamt zeigt sich so die traurige Logik, warum im Moment so viele Menschen in Angst und Erstarrung versinken. Das alles geschieht nicht aus Gründen der Vernunft, sondern allein durch die Angst. Ein Herr schrieb uns drei Erlebnisse:

„Heute habe ich jemanden gefragt, warum er eine Maske aufsetzt und damit ins Gasthaus geht. Er wusste keine Antwort, aber nach langer Überlegung sagte er, weil es so verlangt werde. Tragisch, dass gerade junge Leute keine Eigenverantwortung kennen und nicht in der Lage sind, für sich selber zu denken. So kann man sich leicht vorstellen, was passiert, wenn morgen jemand sagt, Sie müssen ab sofort auf allen vieren und Maske zur Arbeit gehen. Wäre es nicht an der Zeit, dass Erwachsene und Erfahrene solche Menschen aufklären und ihnen ein wenig helfen?“66

„War beim Einkaufen ohne Maske. Fährt mich der Verkäufer an: ‚Junger Mann, haben Sie eine Maske?‘ ‚Haben Sie eine, die schützt?‘, frage ich zurück. ‚Spielt keine Rolle, es ist Pflicht.‘ Was willst du da doch sagen?“67

„Unfassbare Situation! Meine Arbeitskollegen wurden angewiesen, eine Mund-Nasen-Bedeckung und Handschuhe anzuziehen, um ein KFZ in die Werkstatt zu fahren, weil sich die Besitzerin in Quarantäne befindet. Die Vorgehensweise wurde aus reiner Vorsicht aufgrund des Infektionsgeschehens begründet. Habe heute unseren Chef daraufhin konfrontiert und gefragt: 1. Was hat das Fahrzeug mit der in Quarantäne befindlichen Person zu tun? 2. Warum befindet sich die Person in Quarantäne? 3. Bitte um Erklärung und Bedeutung des PCR-Testes. Antwort: ‚Keine Ahnung!‘ So viel dazu.“68

Wir haben definiert: „Angst ist das subjektive Gefühl der Möglichkeit eines Verlustes von erreichten Positionen auf der Skala der Bedürfnisbefriedigung.“ Diese Verluste sind derzeit auf fast allen Stufen der Bedürfnisse zu verzeichnen oder zu erwarten. Da ist es doch kein Wunder, dass die Menschen von Angst ergriffen werden.

Doch wir haben jedoch längst noch nicht sämtliche Aspekte der Angst betrachtet. Zunächst tritt noch ein weiterer wichtiger Aspekt hinzu, nämlich die sozialen Ängste. Und die haben einige Besonderheiten.

46 Vgl. OFENSTEIN 2014: 21.

47 MÜLLER 2020.

48 Bei einigen Tierarten, wie Delphinen, Elefanten, Menschenaffen etc. könnte es möglich sein, dass sie Vergangenheit und Zukunft erkennen.

49 A. A. 2020zzzq.

50 GRIMM & GRIMM 1812.

51 MASLOW 1943, 1954.

52 Siehe dazu TAORMINA & GAO 2013; WAHBA & BRIDWELL 1976.

53 BALLMANN 1978.

54 ERHARD 1957.

55 MEADOWS et al. 1972.

56 STERN 1979.

57 MAYER 1990.

58 FUKUYAMA 1992b.

59 HEGELICH et al. 2011; KINDLER et al. 2004; HÜTHER & SCHARNAGEL 2005.

60 Das erfolgt dann nicht, wenn die Grundbedürfnisse so dermaßen schlecht gedeckt sind, dass man nur noch damit beschäftigt ist, nach Essen zu suchen, wie es beispielweise in manchen Entwicklungsländern der Fall ist.

61 BOER & SANDERS 2004.

62 Mitgeteilt von Josef Rieger.

63 MÜLLER 2020.

64 A. A. 2020zzzn.

65 A. A. 2020zzzp.

66 Mitteilung von Josef Rieger, Heilbronn.

67 Mitteilung von Josef Rieger, Heilbronn.

68 Mitteilung von Josef Rieger, Heilbronn.

4. Die vier Grundformen der sozialen Ängste

„Faulheit und Feigheit sind die Ursachen,

warum ein so großer Teil der Menschen,

nachdem sie die Natur längst von fremder Leitung freigesprochen,

dennoch gern zeitlebens unmündig bleiben und warum es anderen so leicht wird,

sich zu deren Vormündern aufzuwerfen.

Es ist so bequem, unmündig zu sein.“

Immanuel Kant, deutscher Philosoph (1724–1804).

„Es gibt Augenblicke, in denen in unserem Leben Widrigkeiten auftauchen,

die wir nicht verhindern können. Doch alles hat seinen Grund.

Erst nachträglich begreifen wir, warum es sie gegeben hat.“

Paulo Coelho, brasilianischer Schriftsteller und Philosoph (*1947).

Unser Unterbewusstsein bewertet Menschen in weniger als einer Sekunde als angenehm oder unangenehm. Erst wenn wir länger in Kontakt stehen, folgt eine differenziertere Sicht. Allerdings nicht immer. Denn viele Menschen laufen stets mit einer Art Mundschutz herum, schon lange vor Corona. Sie bauen eine Maske um sich auf, sagen nicht, was sie denken, und verhalten sich so, dass ihr wahres Innere möglichst nicht nach außen gelangt. Für sie ist die Maske gar nicht so eine Belastung. Sie sind es gewohnt, ihr Ich nicht zu zeigen. Da ist eine Stoffmaske nur eine andere Form ihrer psychischen Maske, die sie sowieso fast nie ablegen. Unter ihnen können sie sich nun besonders gut verstecken. Das Ich dieser Menschen ist noch nicht zur Entfaltung gekommen, sie sind weder in der Liebe zu sich noch zu anderen angelangt.

So eine psychologische Maske kostet allerdings fortwährend Energie, Energie, die in Krisenzeiten nicht mehr zur Verfügung steht. Unter unseren Freunden, Bekannten und Nachbarn verhalten sich in Coronazeiten daher manche plötzlich anders, als wir es erwartet hätten. Manche zeigen ungeahnte Stärke, doch viele reagieren mit Angstsymptomen, alle wirken echter. Nun zeigt sich, wer sie wirklich sind. Selbstbewusste Menschen mit eigener Ich-Stärke oder in Ängsten verfangene Individuen, die den nächsten Schritt ihrer geistigen Entwicklung noch nicht schaffen. Altbundeskanzler Helmut Schmidt sagte schon: „In der Krise beweist sich der Charakter.“ Recht hatte er.

Charakter ist eine sehr stabile Eigenschaft des Menschen. Erforscht wird er in der Persönlichkeitspsychologie. Schon der griechische Arzt Hippokrates sprach im 4. Jahrhundert v. Chr. von den vier Persönlichkeitstypen, dem aufbrausenden Choleriker, dem langsamen Phlegmatiker, dem besorgt pessimistischen Melancholiker und dem eher sorglosen Sanguiniker. Diese Typen leben heute noch fort, etwa in den Persönlichkeitsdimensionen des deutsch-britischen Psychologen Hans Jürgen Eysenck.69 In der Psychologie gibt es mittlerweile eine ganze Reihe von Ansätzen, Persönlichkeiten gliedern und ermitteln zu können. C. G. Jung sah acht Persönlichkeitstypen, die er jeweils noch nach extra- und introvertiert aufteilte, das Modell von Myers-Briggs nimmt vier Persönlichkeitsdimensionen an, die miteinander kombiniert werden können, und das Big-Five-Modell unterscheidet nach den Aspekten Neurotizismus, Extravertiertheit, Offenheit, Verträglichkeit und Gewissenhaftigkeit.70

Der Psychoanalytiker Fritz Riemann veröffentlichte 1961 sein bahnbrechendes Werk „Grundformen der Angst“.71 Vier Formen sind danach so dominant, dass sie vier typische Persönlichkeiten hervorbringen. Riemann schrieb: „So vielfältig … das Phänomen Angst bei verschiedenen Menschen ist, … geht es bei genauerem Hinsehen doch immer wieder um Varianten ganz bestimmter Ängste, die ich deshalb als ‚Grundformen der Angst‘ bezeichnen und beschreiben möchte. Alle überhaupt möglichen Ängste haben mit diesen Grundformen der Angst zu tun.“72 Tatsächlich geht es bei diesen vier Formen eher um die sozialen Ängste.

Schauen wir uns diese vier Riemannschen Grundformen im Folgenden einmal an; es sind die Zwanghafte Persönlichkeit, die Histrionische, die Depressive und die Schizoide Persönlichkeit, wobei jeweils zwei in einem gewissen Gegensatz zueinander stehen.

 

Die vier Persönlichkeiten nach Riemann

4.1 Die Zwanghafte Persönlichkeit

„Gehorsam heißt die Tugend, um die der Niedre sich bewerben darf.“

Friedrich von Schiller (1759–1805).73

„Der Mangel an Urteilskraft ist eigentlich das, was man Dummheit nennt,

und einem solchen Gebrechen ist gar nicht abzuhelfen.“

Immanuel Kant.

Die Zwanghafte Persönlichkeit ist für Deutschland geradezu typisch. Dieser biedere Ordnungsmensch möchte Stabilität und Verlässlichkeit, Regeln und Normen, Gesetz und Befehl. Anordnungen gehorcht er peinlichst genau. „Er versucht, das Leben in Schemata und Regeln zu zwingen“74, liebt pedantische Ordentlichkeit, ist pünktlich und versteht, nirgends anzuecken.

„Der zwanghafte Mensch kann es schwer annehmen, dass es im Bereich des Lebendigen keine Absolutheit, keine unveränderlichen Prinzipien gibt, dass Lebendiges nicht völlig vorausberechenbar festgelegt werden kann. Er glaubt, alles in ein System einfangen zu können, um es lückenlos übersehen und beherrschen zu können.“75 So hat er Angst vor Wandlung, vor Unvorhergesehenem und Veränderung. Er hat die Neigung, „alles beim Alten zu belassen“76, und will „immer das Gleiche, schon Bekannte und Vertraute“.77 „Diese Menschen haben immer die Angst, dass alles sofort unsicher, ja chaotisch würde, wenn sie auch nur ein wenig lockerer ließen, dem Andersartigen sich öffneten und nur etwas nachgäben oder sich einmal spontan überließen, ohne die immerwährende Selbst- und Fremdkontrolle.“78 Sie haben Angst vor der Selbstverantwortung, dem Wagnis, der Spontanität. So weichen sie neuen Erfahrungen aus, sind wenig geöffnet und zeigen ein starres Festhalten an Überkommenen, u. a. auf Gebieten beruflicher, „familiärer, gesellschaftlicher, moralischer, politischer, wissenschaftlicher und religiöser Art“.79

„Das Grundproblem zwanghafter Menschen können wir also in ihrem überwertigen Sicherheitsbedürfnis erkennen. Vorsicht, Voraussicht, zielbewusste Planung auf lange Sicht, überhaupt die Einstellung auf Dauer, hängen damit zusammen. Von der Seite der Angst her gesehen, können wir ihr Problem beschreiben als Angst vor dem Risiko, vor Wandlung und Vergänglichkeit.“80 „Je mehr wir also das Alte festzuhalten versuchen, umso mehr müssen wir die Angst vor der Vergänglichkeit empfinden.“81 Dies ist der Mensch, der in der Krise schnell seinen Vorrat an Nudeln, Mehl und Toilettenpapier auffüllt, damit alles so weitergeht wie bisher.


Leergekaufte Bestände an Toilettenpapier im März 2020

Eine Frau schrieb: „Mein Spruch beim Bäcker, nachdem die Verkäuferin mindestens fünfmal gesagt hat, dass sie ja nur Vorschriften befolgen würde, war: ‚Wie bei den Nazis, da haben auch immer alle nur Vorschriften befolgt.‘ Die Tusse meinte dann zur Polizei, ich hätte sie als Nazi bezeichnet. Habe das richtig gestellt und der Polizei gesagt, dass ich das sogar jederzeit wiederholen würde und dass das für sie im Übrigen gleichermaßen gelte. Sie schauten peinlich weg und gingen dann.“82

„Der zwangshafte Mensch hat Schwierigkeiten mit seinen Aggressionen und Affekten. Er hat es früh lernen müssen, sich zu kontrollieren und zu beherrschen; spontane Reaktionen sind … angstbesetzt.“83 Die Affekte der Zwanghaften Persönlichkeit sind daher abgedrosselt.84 „Bei ihm wird der Verzicht auf die Affekte meist über die Ideologisierung der Selbstbeherrschung und Selbstzucht vollzogen: Affekte zu äußern, ist dann ein Zeichen von Sich-gehen-lassen, von Sich-nicht-in-der-Hand-haben, ein Verhalten, das unter seiner Würde ist.“85 „Für die Aggression Zwanghafter ist es … charakteristisch, dass sie sich an Normen, Regeln und Prinzipien hält; sie geschieht bevorzugt ‚im Namen von …‘ und pflegt eng mit dem Machttrieb gekoppelt zu sein. Dadurch kann man ihnen die Aggression oft schwer nachweisen, und sie bekommt gleichsam etwas Überpersönliches, Anonymes, wohinter sich die persönliche Lust an der Aggression verbirgt.“86 Zwangshafte Menschen finden sich daher bevorzugt in Berufen, die Macht „im Namen der Ordnung, der Zucht, des Gesetzes, der Autorität“ ermöglichen, z. B. bei Politikern, Militärs, Polizei, Beamten, Richtern, Staatsanwälten und Lehrern.87 Dort halten sie sich streng an die Buchstaben des Gesetzes und können als pflichtbewusster, pedantischer Beamter zum „unmenschlichen Paragraphenmenschen“ werden.88

Sie leben durch Überkorrektheit ihre Aggressionen aus und tarnen ihr Verhalten vor sich selbst damit, dass sie ja nur konsequent etwas Richtiges, einen Wert vertreten.89 Gleichzeitig haben sie das gute Gewissen, damit etwas Notwendiges zu tun.90 Eine Dame reagierte auf eine aggressive Verkäuferin konsequent: „An der Kasse eines Supermarktes. Ich hatte ca. 50 % des Wagens schon geleert, als mich die Kassiererin aufforderte, eine Maske aufzuziehen. Ich sagte nein, ich habe ein Attest und bin befreit. Da meinte die Dame, das interessiert nicht, dann darf ich nicht einkaufen. Daraufhin habe ich die Waren und den Einkaufskorb so stehen gelassen und mich mit den Worten:‚Dann eben nicht‘ entfernt.“91

Eine etwas mildere Variante der … „legitimierten“ Aggression ist die übermäßige Korrektheit, die, neben der Unterdrückung der Aggression, wohl die häufigste Form zwanghafter Aggressionsäußerung ist – ohne dass dem Zwanghaften hierbei die Aggression bewusst zu sein pflegt.92 „Wenn alles so bleibt, wie es ist: Die Gegenstände auf dem Schreibtisch in geheiligter Ordnung; die Meinung über etwas in unverrückbarer Gültigkeit; ein moralisches Urteil in paragraphenhafter Starre; eine Theorie in unangreifbarer Behauptung; ein Glaube in unerschütterlicher Absolutheit – dann scheint die Zeit stillzustehen. Alles ist dann voraussehbar, die Welt ändert sich nicht mehr, und das Leben bringt nur mehr die Wiederholung des Gleichen und schon Bekannten – dann ist aus lebendig pulsierendem Rhythmus gleichförmig-stereotyper Takt geworden.“93 Um ja nichts falsch zu machen, zaudern, zögern und zweifeln diese Menschen, wie wir es in den letzten Jahren insbesondere in den Verwaltungen erleben müssen, die sich immer mehr vor Verantwortung drücken und die, statt Entscheidungen zu treffen, sich in monatelangem Prüfen und Paragraphenjonglieren verstecken. Na, und in der Politik kennen wir es ja auch schon viele Jahre.

Die zwanghafte Persönlichkeit zeigt das „Kulturgut des Untertanengeistes“.94 Prof. Dr.-Ing. Jürgen Althoff stellte fest: „Der deutsche Untertan lebt und sehnt sich nach staatlicher Bevormundung. Rationalität und Fakten stören nur und sind ‚irgendwie räächts‘, und wer will sich das schon nachsagen lassen …!“95 Als treuer Untergebener ist der Zwanghafte ein Liebling jeder Regierungsmacht. Er stabilisiert ja das bestehende System. So auch in Coronazeiten. Am liebsten noch mit einem unterwürfigen „Jawoll, Frau Bundeskanzlerin, jawoll, Herr Bundeskanzler!“.

Zwanghafte Menschen können sich „schwer damit abfinden, dass etwas oder jemand sich ihrer Macht entzieht, ihrem Willen nicht untersteht. Sie möchten alle und alles dazu zwingen, so zu sein, wie es ihrer Meinung nach sein sollte“.96 Und wehe, andere halten sich nicht an die Regeln, da kann er sich schnell zum Denunzianten entwickeln, der seine Nachbarn und Kollegen verpfeift. Ein Denunziant fühlt sich im moralischen Recht, wenn er einen anderen bei Behörden meldet oder in der Öffentlichkeit anprangert. Dadurch, dass er einen vermeintlichen Verstoß aufdeckt, meint er, selbst moralisch besser zu sein, da er ja die Regeln befolgt. Ja er sieht dieses Vorgehen sogar oft als seine Pflicht als gehorsamer Bürger an. So kann er sowohl seine eigenen Hass- und Machtgefühle ausleben und gleichzeitig gut dastehen. Häufig erhofft er sich dabei auch eigene Vorteile, z. B. bei der Regierung als loyal zu gelten und zu zeigen, dass er auf Linie mit den Machthabern ist. Dies senkt seine Angst, womöglich selbst ein Opfer von totalitären Maßnahmen zu werden. Darum war das Denunziantentum besonders im NS-Staat und der DDR so weit verbreitet. Jeanette Neuendorf schrieb korrekt: „Bewusst oder unbewusst wird sein Handeln jedoch im Kern von Angst bestimmt.“97

In der Coronazeit blüht das Denunziantentum förmlich auf. Nachbarn werden bei den Behörden gemeldet, weil sie mit Bekannten zusammen auf der Terrasse Kaffee trinken oder sie auf dem Parkplatz keine Maske tragen. In Bielefeld setzte jemand Ende Februar 2021 die Polizei in Bewegung, weil die Partei Die Basis ihren von den Ordnungsbehörden genehmigten Parteitag abhielt.98 Ein Bürger schrieb: „In meinem Heimatort wurde nun wegen eines Kindergeburtstages von Kindern im Kindergartenalter der Spielplatz bis auf Weiteres gesperrt. Anwohner hatten die Mütter mit ihren Kindern verpfiffen. Ich bin empört über die Anwohner, den Bürgermeister und das Ordnungsamt und nicht zuletzt auch über Personen aus meiner eigenen Familie, die es mit ‚Wer nicht hören will, muss fühlen!‘ kommentierten. Was passiert nur mit uns.“99 Die Liste des Denunziantentums würde für 2020 und 2021 wohl viele Bücher füllen; wir wollen es dabei belassen. Es heißt nicht umsonst „Der größte Schuft im Land, ist und bleibt der Denunziant!“ Nur, er selbst merkt das nicht. Zum Glück werden nicht alle Zwangshaften Persönlichkeiten dazu, aber hier liegt das Potenzial dazu.