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Anna Karenina, 2. Band

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16

Sergey Iwanowitsch, in der Dialektik bewandert, leitete, ohne hierauf etwas einzuwenden, das Gespräch sogleich auf ein anderes Gebiet.

„Wenn du den Volksgeist auf arithmetischem Wege erkennen willst, dann ist dies natürlich sehr schwer zu erreichen. Eine Abstimmung ist bei uns nicht eingeführt, und kann auch nicht eingeführt werden, weil sie den Willen des Volkes nicht ausdrückt; doch dafür giebt es andere Wege. Das liegt in der Luft und wird im Herzen empfunden. Ich spreche nicht mehr von jenen tieferen Strömungen, welche im stehenden Meere des Volkes sich bewegen und für jeden nicht von Vorurteilen befangenen Menschen klar sind. Man schaut nur die Gesellschaft im engsten Sinne des Wortes an. Alle die verschiedenartigsten Teile in der Welt der Intelligenz die sich vorher feindlich gegenüberstanden, fließen hier in Eins zusammen. Jeder Unterschied hört auf, alle gesellschaftlichen Organe sagen ein und dasselbe, alle empfinden eine elementare Kraft, die sie ergriffen hat und nun in einer bestimmten Richtung trägt.“

„Die Zeitungen sagen allerdings ein und dasselbe,“ meinte der Fürst. „Es ist damit ganz ebenso, wie bei den Fröschen vor einem Gewitter. Von ihrem Geschrei hört man nichts weiter.“

„Frösche hin, Frösche her; ich gebe keine Zeitungen heraus und will sie auch nicht vertreten, sondern spreche nur von der Einmütigkeit im Denken in der Welt der Intelligenz,“ sagte Sergey Iwanowitsch, sich zu seinem Bruder wendend.

Lewin wollte antworten, doch der alte Fürst fiel ihm ins Wort.

„Über diese Einmütigkeit läßt sich auch noch etwas Anderes sagen,“ begann er, „da habe ich einen Schwiegersohn, Stefan Arkadjewitsch, Ihr kennt ihn ja. Er hat jetzt ein Amt als Mitglied einer Komiteekommission und noch etwas, ich weiß nicht mehr genau. Aber er hat da gar nichts zu thun – nicht so Dolly, es ist ja kein Geheimnis! – und bezieht doch achttausend Rubel Gehalt. Probiert nun und fragt ihn einmal, ob ihm dieses Amt etwas nützt; er wird Euch beweisen, daß es eines der notwendigsten ist. So rechtschaffen er auch sein mag, an einen Nutzen dieser achttausend Rubel wird er mich nicht glauben machen.“

„Ja, er hat mich gebeten, Darja Aleksandrowna von der Erlangung des Amtes Mitteilung zu machen,“ sagte Sergey Iwanowitsch mißvergnügt, in der Meinung, der Fürst spreche nicht zur Sache.

„So ist es auch mit der Harmonie in der Presse. Man hat mir erklärt, so bald es Krieg giebt, giebt es verdoppelte Einnahmen. Warum sollen sie da nicht denken, daß die Geschicke des Volkes und der slavischen Brüder“ —

„Ich liebe viele Zeitungen nicht, doch ist das ungerecht,“ sagte Sergey Iwanowitsch.

„Ich würde nur eine Bedingung stellen,“ fuhr der Fürst fort. „Alphonse Karr schrieb dies recht gut vor dem Kriege mit Preußen. ‚Ihr meint doch, daß der Krieg notwendig ist! Schön! – Einer erklärt ihn denn auch, und in der Avantgarde geht es zum Sturm, zur Attacke, allen voran!‘“ —

„Die Redakteure werden sich am besten dabei stehen!“ lachte Katawasoff laut, sich seine Bekannten unter den Redakteuren vorstellend, wie sie in der Legion der Auserwählten ständen.

„Nun, sie werden höchstens davonlaufen,“ sagte Dolly, „sie können doch nur hinderlich sein.“

„Wenn sie fliehen, so muß man mit Kartätschen dahinterherfeuern oder Kosaken mit Knuten hinstellen,“ sagte der Fürst.

„Das ist ein Scherz aber kein guter, nehmt es mir nicht übel, Fürst,“ sagte Sergey Iwanowitsch.

„Ich sehe nicht ein, daß es sich hier um Scherz handelte, daß“ – begann Lewin, doch Sergey Iwanowitsch unterbrach ihn.

„Jedes Mitglied der Gesellschaft ist berufen, die ihm gehörige Aufgabe zu vollführen,“ sagte er. „Die Männer des Geistes erfüllen ihre Aufgabe, indem sie die öffentliche Meinung wiederspiegeln. Der einmütige und vollständige Ausdruck der öffentlichen Meinung ist der Dienst der Presse, und er ist auch eine sehr erfreuliche Erscheinung. Vor zwanzig Jahren hätten wir noch geschwiegen, jetzt aber wird die Stimme des russischen Volkes gehört, welches bereit ist, sich zu erheben, wie ein Mann, bereit, sich selbst zu opfern für die unterdrückten Mitbrüder. Dies ist ein großer Fortschritt, ein Gewinn an Kraft.“

„Aber man will doch nicht nur opfern, sondern vielmehr den Türken schlagen,“ bemerkte Lewin schüchtern. „Das Volk opfert und ist bereit, für seine Seele zu opfern, nicht aber für den Mord,“ fügte er hinzu, das Thema unwillkürlich mit den Gedanken verbindend, die ihn so sehr beschäftigten.

„Wie, für die Seele? Dies ist für den Naturforscher bekanntlich ein sehr schwieriger Ausdruck. Was ist denn Seele?“ lächelte Katawasoff.

„O, Ihr wißt es schon!“

„Bei Gott, ich habe nicht die geringste Ahnung davon!“ antwortete Katawasoff mit lautem Lachen.

– „Ich bin nicht die Welt, aber ich habe ein Schwert gebracht, spricht Christus“ – entgegnete Sergey Iwanowitsch, einfach, als handle es sich um die leichtverständlichste Sache, und brachte damit jene Stelle aus dem Evangelium bei, die Lewin stets vor allem in Verwirrung gesetzt hatte.

„So ist es,“ wiederholte jetzt der Alte, der bei ihnen stand, indem er auf einen zufällig auf ihn gerichteten Blick antwortete.

„Ja, ja, Batjuschka, wir sind geschlagen, vollständig geschlagen!“ rief Katawasoff heiter.

Lewin errötete vor Verdruß, nicht deshalb, weil er geschlagen sein sollte, sondern weil er nicht mehr an sich halten konnte, und wollte in den Wortstreit eintreten.

„Doch nein,“ dachte er dann, „ich mag nicht mit ihnen streiten, sie tragen einen undurchdringlichen Panzer, während ich nackt bin.“

Er sah, daß er seinen Bruder und Katawasoff nicht überzeugen könne, und daß nun noch weniger eine Möglichkeit, mit ihnen seinerseits übereinzukommen vorhanden sei. Das, was sie predigten, war aber jener geistige Hochmut, der ihn beinahe vernichtet hätte. Er konnte sich nicht damit einverstanden erklären, daß eine Handvoll Menschen, unter ihnen sein Bruder, das Recht haben sollten, auf Grund dessen, was ihnen die hunderte der durch die Hauptstädte reisenden Freiwilligen erzählt hatten, zu sagen, sie und die Presse drückten die Meinung des Volkes aus, und noch dazu eine Meinung, die in Vergeltung und Mord ihren Ausdruck fand.

Er konnte damit nicht übereinkommen, weil er gar keinen Ausdruck dieser Gedanken in dem Volke, in dessen Mitte er lebte, bemerkt, dieselben auch in sich selbst nicht gefunden hatte, und er konnte sich nicht für etwas Anderes halten, als für einen von jenen Menschen, aus denen das russische Volk besteht, hauptsächlich aber konnte er deshalb nicht zustimmen, weil er gleich dem Volke, weder wußte noch erfahren konnte, worin das allgemeine Wohl bestehe, während er genau wußte, daß die Erreichung dieses allgemeinen Wohles nur bei strenger Erfüllung jenes Gesetzes des Guten möglich sei, das jedem Menschen geoffenbart ist und er schon deshalb einen Krieg nicht wünschen, oder für allgemeine Zwecke irgend welcher Art eintreten könne. Er sprach im Einklang mit Michailowitsch und dem Volke, das seine Meinungen in der Überlieferung von der Herbeirufung der Warjäger ausdrückte:

„Herrscht über uns, wir versprechen Euch freudig volle Ergebenheit. Alle Arbeit, alle Erniedrigung, alle Opfer nehmen wir auf uns, und wir wollen nicht selber richten und schlichten.“

Jetzt aber hatte nach den Worten des Sergey Iwanowitsch das Volk auf dieses so teuer erkaufte Recht verzichtet.

Er wollte noch sagen, daß wenn die öffentliche Meinung ein unfehlbarer Richter wäre, die Revolution und die Kommune doch ebenso gesetzmäßig sein müßte, wie diese Bewegung zu Gunsten der Slaven.

Dies alles aber waren nur Gedanken, die nichts entscheiden konnten. Eines allein war unzweifelhaft zu sehr erkennbar: der Streit hatte Sergey Iwanowitsch jetzt gereizt, und es war deswegen nicht gut mit demselben zu disputieren. Lewin schwieg daher, und widmete seine Aufmerksamkeit nun den Gästen, da Wolken heraufgezogen kamen und man wohl daran that, nach Hause zu gehen, bevor es zu regnen begann.

17

Der Fürst und Sergey Iwanowitsch setzten sich in den Wagen und fuhren; die übrige Gesellschaft ging langsam zu Fuß nach Haus.

Die Wolke kam indessen, bald weiß, bald schwarz, so schnell herauf, daß man den Schritt verdoppeln mußte, um noch vor dem Regen heim zu sein.

Die vorauseilenden Wolken, niedrighängend und dunkel, wie Rauch mit Ruß, kamen mit ungewöhnlicher Schnelligkeit am Himmel herauf. Bis nach dem Hause waren noch zweihundert Schritt und schon erhob sich der Wind. Jede Sekunde mußte man den Regen erwarten.

Die Kinder eilten mit erschrecktem und lustigem Geschrei voraus. Darja Aleksandrowna, die mühsam mit ihren Röcken kämpfte, welche sich um ihre Beine schlugen, ging schon nicht mehr, sondern lief, die Kinder nicht aus den Augen lassend. Die Männer gingen, ihre Hüte haltend, mit großen Schritten dahin, und waren gerade vor der Freitreppe, als ein großer Tropfen fiel und auf dem Rand der eisernen Rinne aufschlug. Die Kinder und hinter ihnen die Erwachsenen eilten in lustigem Gespräch unter das schützende Dach.

„Wo ist Katharina Aleksandrowna?“ frug Lewin die ihnen im Vorzimmer begegnende Michailowna, welche die Tücher und Plaids trug.

„Wir dachten, sie käme mit Euch,“ sagte sie.

„Und Mitja?“

„Ist wohl im Wäldchen, die Kinderfrau wird bei ihm sein.“

Lewin ergriff sein Plaid und eilte nach dem Wäldchen.

Während der kurzen Zwischenzeit hatte sich die Wolke schon so weit heraufbewegt, daß sie mit ihrem Mittelpunkt die Sonne deckte, und es so dunkel geworden war wie bei einer Sonnenfinsternis.

Der Wind blies hartnäckig, als bestehe er auf seinem Rechte, und erschwerte Lewin das Gehen; er riß Blätter und Blüten von den Linden ab und beugte ungeschlacht die weißen Äste der Birken nach einer Seite nieder, die Akazien, die Blumen, das Gras und die Wipfel der Bäume. Mägde, die im Garten gearbeitet hatten, liefen mit Geschrei unter das Dach des Gesindehauses. Der weiße Schleier des strömenden Regens hatte schon den ganzen, fernen Wald bedeckt und die Hälfte des Feldes, und bewegte sich schnell auf das Wäldchen zu. Die Feuchtigkeit des Regens, der in feine Tröpfchen zersprühte, war in der Luft zu spüren.

 

Den Kopf nach vorn niedergebeugt und mit dem Winde kämpfend, der ihm das Tuch entriß, war Lewin schon an das Wäldchen gelangt; schon hatte er etwas Weißes hinter einer Eiche erblickt, als plötzlich alles in Flammen stand, die ganze Erde aufloderte und gerade über Lewins Kopfe das Himmelsgewölbe krachend erbebte. Die geblendeten Augen öffnend, erblickte Lewin durch den dichten Schleier des Regens, der ihn jetzt vom Wäldchen trennte, zunächst den grünen Wipfel der ihm bekannten Eiche inmitten des Waldes, welcher in sonderbarer Weise seine Stellung verändert hatte.

„Sollte sie zersplittert sein?“ – Lewin hatte dies noch kaum gedacht, als plötzlich der Wipfel der Eiche mehr und mehr die Bewegung beschleunigend, hinter den anderen Bäumen verschwand. Er vernahm das Krachen der auf die umgebenden Bäume stürzenden, großen Eiche.

Das Licht des Blitzes, das Hallen des Donners und die Empfindung von einem ihn plötzlich mit Kälte umgebenden Körper flossen für Lewin in einem einzigen Eindruck des Schreckens zusammen.

„Mein Gott! Mein Gott! Wenn es nur sie nicht getroffen hat!“ brachte er hervor. Obwohl er sich sogleich sagte, wie sinnlos die Bitte von ihm war, sie möchten von der Eiche nicht getroffen worden sein, die nun doch schon gestürzt lag, wiederholte er dieselbe nochmals, da er nichts Besseres als so gedankenlos zu beten, zu thun wußte.

An dem Platze, wo sie sich gewöhnlich aufhielten, fand er sie nicht. Sie waren am anderen Rande des Waldes unter einer alten Linde und riefen ihn. Zwei Gestalten in dunkeln Kleidern – sie waren vorher hell gewesen – standen dort, über etwas gebeugt. Es war Kity und die Kinderfrau. Der Regen hatte bereits aufgehört, und es begann wieder hell zu werden, als Lewin sie erreichte. Die Kinderfrau hatte die Unterkleider noch trocken, Kitys Kleid aber war durch und durch naß und klebte. Obwohl kein Regen mehr fiel, verharrten sie noch immer in der Stellung, die sie eingenommen hatten, als das Gewitter losbrach. Beide standen mit einem grünen Sonnenschirme über den kleinen Wagen gebeugt.

„Lebt Ihr? Seid Ihr unversehrt? Gott sei gedankt!“ sprach er, mit dem wassergefüllten Stiefel in das Wasser tretend, welches sich noch nicht verlaufen hatte.

Das gerötete, feuchte Gesicht Kitys war ihm zugewandt und lächelte sanft unter dem Hute hervor, der seine Façon verloren hatte.

„Du müßtest dir aber Vorwürfe machen! Ich begreife nicht, wie man so unvorsichtig sein kann!“ sagte er ärgerlich zu seinem Weibe.

„Ich bin bei Gott nicht schuld. Wir wollten gerade fort, da ging es los. Wir mußten das Kind anders legen und waren kaum“ – entschuldigte sich Kity.

Mitja war unversehrt, trocken und schlief ruhig fort.

„Gott sei gedankt! Ich weiß nicht, was ich sagen soll.“

Sie nahmen die nassen Windeln, die Kinderfrau wickelte das Kind aus und trug es. Lewin ging neben seiner Frau; er machte sich Vorwürfe wegen seiner Heftigkeit und drückte ihr, nur verstohlen, wegen der Kinderfrau, die Hand.

18

Während des ganzen Tages empfand Lewin in den verschiedensten Gesprächen, an denen er gleichsam nur mit der Außenseite seines Verstandes teilnahm, mit Freude, wie voll sein Herz war.

Nach dem Regen war es zu naß zum Spazierengehen geworden; dazu kam, daß auch die Gewitterwolken nicht vom Horizonte wichen, sondern donnernd und dunkel am Rande des Himmels bald hierhin bald dorthin zogen. Die ganze Gesellschaft verbrachte daher den Rest des Tages im Hause.

Debatten gab es nicht mehr, im Gegenteil befand sich alles nach dem Mittagessen bei bester Laune.

Katawasoff unterhielt die Damen anfangs mit seinen originellen Späßen, die stets so gut gefielen, sobald man mit ihm bekannt wurde, sprach aber dann, von Sergey Iwanowitsch aufgefordert, über seine sehr interessanten Beobachtungen des Unterschieds in den Charakteren und selbst Physiognomien der männlichen und weiblichen Mücken, sowie von deren Leben.

Sergey Iwanowitsch war gleichfalls gut aufgelegt und entwickelte, vom Bruder veranlaßt, beim Thee seine Ansicht über die Zukunft der Frage bezüglich des Ostens, so einfach und so gut, daß ihm alles lauschte.

Nur Kity konnte ihn nicht zu Ende hören; man rief sie zu Mitja, der gewaschen werden sollte.

Wenige Minuten, nachdem Kity verschwunden war, wurde Lewin zu ihr in die Kinderstube gebeten. Seinen Thee stehen lassend, ging er, die Unterbrechung des interessanten Gesprächs bedauernd, zugleich aber auch besorgt über den Grund weshalb man ihn rufe – er wurde nur bei wichtigen Dingen gerufen – in die Kinderstube.

Obwohl ihn der nicht zu Ende gehörte Plan Sergey Iwanowitschs, wie die befreite Welt der vierzig Millionen Slaven mit Rußland zusammen eine neue historische Epoche herbeiführen müsse, ein Plan, der für ihn als etwas völlig Neues sehr interessant war – obwohl ihn daher die Neugier, zugleich aber auch die Besorgnis, weshalb man ihn rufe, quälten – so fielen ihm doch, sobald er allein war und den Salon hinter sich hatte, seine Gedanken vom Morgen wieder ein, und alle die Betrachtungen über die Bedeutung des slawischen Elements in der Weltgeschichte erschienen ihm nun so nichtig im Vergleich zu dem, was in seiner Seele geschah, daß er augenblicklich alles dies vergaß und sich wieder in die Stimmung versetzte, in der er heute Morgen gewesen.

Er rief sich jetzt nicht mehr wie früher erst seinen ganzen Gedankengang ins Gedächtnis zurück – das brauchte er nicht mehr – sondern versetzte sich sofort in das Gefühl, welches ihn beherrschte, und mit jenen Gedanken in Verbindung stand, und fand dasselbe in seiner Seele noch weit stärker und bestimmter geworden, als früher. Es ging ihm jetzt nicht mehr so, wie bei seinen früheren künstlich ersonnenen Beruhigungsversuchen, bei denen er seinen gesamten Gedankengang wieder zusammenstellen mußte, um ein Gefühl zu finden. Jetzt war im Gegenteil die Empfindung der Freude und Ruhe lebendiger als vorher und sein Denken reifte gar nicht vor seinem Fühlen.

Er schritt über die Terrasse und schaute nach zwei Sternen, die an dem schon dunkelnden Himmel hervortraten, und plötzlich fiel ihm ein, „ja, zum Himmel emporblickend, habe ich gegrübelt, daß das Gewölbe da oben, welches ich sehe, nicht wirklich sei, dabei aber ein Etwas nicht mitbedacht, was ich vor mir selbst verbarg! Nun, was dort oben auch sein mag, einen Einwand kann es nicht geben. Man muß das wohl bedenken – und alles klärt sich dann auf.“

Schon bei seinem Eintritt in die Kinderstube fiel es ihm bei, was er sich selbst verhehlt hatte. Es war dies: „Wenn der höchste Beweis der Gottheit in deren Offenbarung, im Wesen des Guten beruhte, weshalb beschränkte sich dann diese nur auf die christliche Kirche? In was für Beziehungen zu dieser Offenbarung standen nun die Glaubensbekenntnisse der Buddhisten, der Mohammedaner, die doch auch an das Gute glaubten und es thaten?“

Ihm schien, daß es eine Antwort auf diese Frage für ihn gab, doch hatte er sich diese noch nicht gegeben, da trat er schon in die Kinderstube ein.

Kity stand mit aufgestreiften Ärmeln an der Wanne über das plätschernde Kind gebeugt und wandte, als sie die Schritte des Gatten hörte, diesem ihr Gesicht zu. Sie rief ihn lächelnd zu sich. Mit der einen Hand hielt sie den wohlgenährten Kleinen, der auf dem Rücken schwamm, unter dem Köpfchen, mit der andern drückte sie ein Schwämmchen über ihm aus.

„Ach, sieh nur sieh,“ sagte sie, als ihr Mann herzutrat. „Agathe Michailowna hat Recht. Es erkennt uns schon.“

Es hatte sich also darum gehandelt, daß Mitja seit dem heutigen Tage augenscheinlich schon alle die Seinen erkannte.

Kaum war Lewin an die Wanne getreten, so wurde vor ihm der Versuch angestellt, und er gelang vollständig. Die Köchin, die eigens dazu herbeigerufen worden war, beugte sich über das Kind. Das Kind machte ein mürrisches Gesicht und bewegte ablehnend das Köpfchen. Nun beugte sich Kity darüber, da erglänzte es von einem Lächeln, stemmte sich mit den Ärmchen gegen den Schwamm und stieß einen so behaglichen und eigentümlichen Laut aus, daß nicht nur Kity und die Kinderfrau, sondern auch Lewin in ungeahntes Entzücken gerieten. Man nahm das Kind auf einem Arme aus der Wanne, spülte es mit Wasser ab, wickelte es in ein Tuch und gab es, nachdem nochmals ein durchdringender Schrei ertönt war, der Mutter.

„Ich freue mich nur, daß du anfängst, es lieb zu gewinnen,“ sagte Kity zu ihrem Gatten, nachdem sie sich, das Kind am Busen, ruhig auf ihren gewohnten Platz gesetzt hatte. „Ich freue mich sehr darüber. Es hatte mich auch schon recht erbittert. Du sagtest doch, daß du gar nichts für den Kleinen fühltest.“

„Nun, habe ich etwa gesagt, ich fühlte nichts für ihn? Ich habe nur gesagt, daß ich von ihm enttäuscht worden wäre.“

„Wie; von dem Kinde enttäuscht?“

„Nicht von ihm enttäuscht, wohl aber von meinem Gefühl. Ich hatte mehr erwartet. Ich hatte erwartet, daß sich, gleich einer Überraschung, in mir ein ganz neues und angenehmes Gefühl regen würde. Und plötzlich, anstatt dessen, fühlte ich nur Widerwillen und Mitleid“ —

Sie hörte ihm aufmerksam zu, während sie ihre Ringe wieder auf die feinen Finger steckte, die sie vorher abgestreift hatte, um das Kind zu baden.

„Die Hauptsache dabei war doch, daß es bei weitem mehr Schrecken und Schmerz gegeben hat, als Freude. Heute, nach dem Schrecken während des Gewitters habe ich erkannt, wie ich das Kind liebe.“

Kity erstrahlte von einem Lächeln.

„Du warst wohl sehr in Schrecken?“ frug sie. „Ich war es auch, doch ist mir es jetzt noch viel ängstlicher zu Mut, nachdem es vorbei ist. Ich werde mir die Eiche besehen. O wie lieb doch Mitja ist! Das Kind ist überhaupt den ganzen Tag so reizend gewesen, doch du bist wohl so gut, dich mit Sergey Iwanowitsch zu beschäftigen – wenn du willst – geh' doch jetzt zu ihm. Es ist so wie so hier bei der Wanne stets sehr heiß und dunstig.“

19

Nachdem Lewin die Kinderstube verlassen hatte und allein war, fiel ihm sogleich jener Gedanke wieder ein, in dem ihm etwas unklar geblieben war.

Anstatt in den Salon zu gehen, aus welchem Stimmen vernehmbar waren, blieb er auf der Terrasse stehen und schaute, auf das Geländer gestützt, zum Himmel hinauf.

Es war schon völlig dunkel geworden, doch im Süden, wohin er blickte, waren keine Wolken sichtbar. Diese standen auf der entgegengesetzten Seite und von dorther zuckten Blitze und war ferner Donner vernehmbar. Lewin lauschte den taktmäßig von den Linden des Gartens fallenden Regentropfen und blickte zu dem ihm so wohlbekannten Sternendreieck auf und der mitten hindurchgehenden Milchstraße mit ihrem Schimmer. Bei jedem Aufleuchten des Blitzes verschwanden nicht nur die Milchstraße, sondern auch die hellen Sterne, kaum aber war der Funke erloschen, so zeigten sie sich wieder wie von einer Hand geworfen, an ihren alten Stellen.

„Nun, was beunruhigt mich denn?“ sagte Lewin zu sich, schon vorher empfindend, daß die Lösung seiner Zweifel, obwohl er dieselbe noch nicht kannte, bereits fertig in seiner Seele liege. „Ja, Eines ist die offenkundige, unzweifelhafte Offenbarung der Gottheit; das sind die Gesetze des Guten, die der Welt als Offenbarung kund gethan sind, die ich in mir fühle und zu deren Erkenntnis ich – mag ich wollen oder nicht – mit den anderen Menschen vereinigt bin zu einer einzigen Gesellschaft von Gläubigen die man Kirche nennt. Auch die Hebräer, Chinesen, Buddhisten – was sind sie?“ legte er sich jene Frage vor, die ihm so gefährlich erschienen war. „Sollten diese Hunderte von Millionen Menschen jenes höchsten Gutes beraubt sein, ohne welches das Dasein keinen Sinn hat?“ Er wurde nachdenklich, raffte sich aber sogleich wieder auf, „wonach frage ich denn? Ich frage nach den Beziehungen aller der verschiedenen Glaubensrichtungen der ganzen Menschheit zur Gottheit. Ich frage nach der allgemeinen Offenbarung Gottes für die ganze Welt mit all diesen Nebelflecken dort oben. Was aber thue ich? Mir persönlich, meinem Herzen ist jene Erkenntnis unzweifelhaft geoffenbart, die unerreichbar bleibt für den Verstand, während ich sie hartnäckig durch meinen Verstand und mein Wort ausdrücken will. Weiß ich denn nicht, daß die Sterne nicht wandelten?“ frug er sich, nach einem hellleuchtenden Planeten aufschauend, der bereits seine Stellung zu dem obersten Ast einer Birke verändert hatte. „Dennoch aber kann ich mir, auf die Bewegung der Sterne blickend, nicht auch vorstellen, daß die Erde sich bewegt, und ich habe doch recht mit der Behauptung, daß die Sterne wandeln. Hätten denn die Astronomen etwas erkennen und berechnen können, wenn sie alle die verwickelten verschiedenartigen Bewegungen der Erde mit ins Auge gefaßt hätten? Alle ihre wunderbaren Schlüsse über den Abstand, das Gewicht, die Bewegungen und Veränderungen der Himmelskörper sind nur auf der wahrnehmbaren Bewegung der Gestirne rings um die unbewegliche Erde begründet, auf der nämlichen Bewegung, die jetzt vor mir liegt und so gewesen ist für Millionen von Menschen im Lauf von Jahrhunderten und stets sich gleich bleiben wird, auch stets kontrolliert werden kann. Ebenso nun, wie die Schlüsse der Astronomen müßig gewesen sein würden, wären sie nicht auf den Beobachtungen des sichtbaren Himmels mit einem Meridian und einem Horizont begründet, ebenso würden auch meine Schlüsse müßig sein, wären sie nicht auf dem Begriff des Guten begründet, das für alle stets vorhanden war und unangetastet bleiben wird, und, mir durch das Christentum geoffenbart, in meiner Seele stets beglaubigt werden kann. Die Fragen nach anderen Glaubensrichtungen und deren Beziehungen zur Gottheit habe ich weder das Recht noch das Vermögen, zu entscheiden.“

 

„Bist du nicht heimgegangen?“ erklang plötzlich die Stimme Kitys, die auf demselben Wege nach dem Salon ging. „Was sagst du, bist du nicht bei Laune?“ sprach sie, ihm aufmerksam beim Scheine der Sterne ins Gesicht blickend. Sie würde dieses aber nicht genau erkannt haben, wenn ihn nicht abermals ein Blitz, der die Sterne verdunkelte, beleuchtet hätte. Bei dem Schein desselben gewahrte sie sein Antlitz und lächelte, nachdem sie bemerkt hatte, daß es ruhig und froh erschien.

„Sie versteht,“ dachte er, „sie weiß woran ich denke. Soll ich es ihr sagen oder nicht? Ja, ich sage es ihr.“

Doch gerade im Augenblick, als er zu sprechen beginnen wollte, ergriff auch sie das Wort.

„Mein Konstantin, thu' mir doch den Gefallen,“ sagte sie, „und gehe nach dem Eckzimmer, um nachzusehen, ob für Sergey Iwanowitsch alles in Ordnung gebracht ist. Für mich ist das nicht recht schicklich. Hat man ein neues Waschbecken hineingestellt?“

„Gut, ich werde sofort gehen,“ sagte Lewin, indem er aufstand und sie küßte. „Nein, ich brauche nicht zu reden,“ dachte er, während sie ihm voranschritt. „Dies ist ein Geheimnis, das nur für mich war, wichtig und nicht in Worten auszudrücken. Dieses neue Gefühl hat mich nicht verraten, nicht des Glückes beraubt, mich nicht plötzlich erleuchtet, wie ich geträumt hatte – ebensowenig wie die Empfindung für meinen Sohn. Es war auch keine Überraschung dabei. Ist dies nun der Glaube, oder ist er es nicht, ich weiß nicht, was es ist, aber es ist mir unmerklich in meinen Leiden gekommen und hat sich in meiner Seele fest eingenistet. Ich werde noch immer so auf meinen Kutscher Iwan zornig werden, werde noch so weiter disputieren, meine Gedanken rückhaltlos aussprechen, es wird die heilige Mauer bestehen bleiben zwischen meiner Seele und den anderen, selbst meinem Weibe, ich werde dieses auch tadeln wegen seiner Furcht, und Reue darüber empfinden und werde nicht mit dem Verstande begreifen, warum ich bete; aber ich werde beten und mein Leben, mein ganzes Leben soll jetzt von allem unabhängig sein, was sich mit mir ereignen kann; keine Minute desselben soll mehr gedankenlos bleiben – wie früher – sondern die nicht anzuzweifelnde Idee des Guten in sich tragen, die ich die Macht besitze, ihr einzupflanzen.“

Ende