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Und nun wurde das Gespräch für Darja Alexandrowna sehr interessant: wie es mit der Entbindung gegangen sei, was für Krankheiten das Kind durchgemacht habe, wo der Mann sei, ob er viel zu Hause sei.
Darja Alexandrowna mochte sich von den Weibern gar nicht trennen, so lebhaft interessierte sie das Gespräch mit ihnen, so völlig stimmten die beiderseitigen Interessen überein. Am meisten Vergnügen machte es ihr, daß sie deutlich sah, wie sie von all diesen Frauen besonders deswegen angestaunt und bewundert wurde, weil sie so viele und so hübsche Kinder hatte. Auch brachten die Weiber Darja Alexandrowna durch ihr Erstaunen über die Engländerin zum Lachen, während diese sich gekränkt fühlte, weil sie sah, daß man über sie lachte, ohne daß sie den Grund begriff. Eine der jungen Frauen nämlich beobachtete die Engländerin, die sich zuletzt nach den andern wieder ankleidete, und als diese sich nun schon den dritten Unterrock anzog, konnte sich die Bauernfrau einer Bemerkung nicht enthalten: »Seht mal bloß, sie zieht sich einen Rock nach dem andern an, immer mehr, und wird nie fertig!« sagte sie, und alle brachen in lautes Gelächter aus.
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Umgeben von all ihren frisch gebadeten Kindern mit den nassen Köpfen, war Darja Alexandrowna, die sich ein Tuch um den Kopf gebunden hatte, bei der Heimfahrt schon nicht mehr weit von ihrem Hause entfernt, als der Kutscher zu ihr sagte: »Da kommt ein Herr gegangen; ich glaube, es ist der aus Pokrowskoje.«
Darja Alexandrowna blickte nach vorn und freute sich, als sie in grauem Überrock und mit grauem Hute die wohlbekannte Gestalt Ljewins erblickte, der ihnen entgegenkam. Sie freute sich ja auch sonst immer, wenn sie mit ihm zusammentraf; aber augenblicklich war es ihr besonders lieb, daß er sie in ihrer ganzen mütterlichen Herrlichkeit zu sehen bekam. Und in der Tat konnte niemand dies verständnisvoller würdigen als Ljewin.
Als er sie erblickte, meinte er eines jener Bilder vor sich zu sehen, wie er sie sich über sein eigenes zukünftiges Familienleben ausgemalt hatte.
»Sie sehen ja ganz wie eine Gluckhenne aus, Darja Alexandrowna.«
»Ach, wie freue ich mich«, sagte sie und streckte ihm die Hand entgegen.
»So! Sie sagen, Sie freuen sich, und haben mich gar nicht wissen lassen, daß Sie jetzt hier wohnen. Ich habe meinen Bruder zu Besuch. Eben erst habe ich von Stiwa die Nachricht erhalten, daß Sie hier sind.«
»Von Stiwa?« fragte Darja Alexandrowna verwundert.
»Ja, er schreibt, daß Sie hierher übergesiedelt seien, und meint, Sie würden mir erlauben, Ihnen in der einen oder andern Weise behilflich zu sein«, erwiderte Ljewin; aber sobald er das gesagt hatte, wurde er plötzlich verlegen, brach ab und ging nun schweigend neben dem Wagen her, wobei er junge Lindentriebe abriß und an ihnen herumkaute. Was ihn verlegen gemacht hatte, war der Gedanke, es könne Darja Alexandrowna unangenehm sein, daß ein Fremder ihr Hilfe anbiete in einer Sache, die eigentlich ihr Mann hätte in Ordnung bringen müssen. Und in der Tat fand Darja Alexandrowna diese Art Stepan Arkadjewitschs nicht sehr passend, Geschäfte, die ihm im Interesse seiner Familie oblagen, Fremden aufzuladen. Und sie merkte sofort, daß Ljewin das durchschaute. Eben wegen dieser Feinheit des Verständnisses und wegen dieses Zartgefühls mochte sie ihn so gern leiden.
»Ich habe mir natürlich gesagt«, fuhr Ljewin endlich fort, »daß das nur bedeuten sollte, Sie wünschten mich zu sehen, und habe mich sehr darüber gefreut. Ich kann mir selbstverständlich denken, daß Ihnen, Ihrem städtischen Haushalte gegenüber, hier manches fremd vorkommt, und wenn Sie irgend etwas bedürfen sollten, so stehe ich ganz zu Ihren Diensten.«
»O nein, danke«, erwiderte Dolly. »In der ersten Zeit gab es allerdings manche Unbequemlichkeit; aber jetzt ist alles wunderschön in Ordnung gekommen; das ist das Verdienst meiner alten Kinderfrau«, fügte sie hinzu und wies auf Matrona Filimonowna. Diese merkte, daß von ihr die Rede sei, und lächelte Ljewin vergnügt und freundlich zu. Sie kannte ihn und wußte, daß das ein guter Mann für das Fräulein wäre, und wünschte, daß die Sache zustande käme.
»Belieben Sie sich in den Wagen zu setzen; wir rücken hier ein bißchen zusammen«, sagte sie zu ihm.
»Danke, ich gehe lieber. Kinder, wer kommt zu mir her? Dann wollen wir mit den Pferden um die Wette laufen.«
Die Kinder kannten Ljewin nur sehr wenig und erinnerten sich nicht, wann sie ihn wohl gesehen haben mochten; aber sie zeigten ihm gegenüber nicht jene auffällige Scheu und Abneigung, die Kinder sich verstellenden Erwachsenen gegenüber so oft bekunden und wofür sie so oft streng gescholten werden. Verstellung auf irgendwelchem Gebiete kann den klügsten, scharfsichtigsten Mann täuschen; aber das beschränkteste Kind erkennt sie, mag sie auch noch so kunstvoll versteckt sein, und wendet sich voll Widerwillen ab. Ljewin mochte ja sonst viele Mängel an sich haben, aber von Heuchelei war keine Spur an ihm, und daher bezeigten ihm die Kinder dieselbe Freundlichkeit, die sie auf dem Gesichte der Mutter wahrnahmen. Auf seine Aufforderung sprangen die beiden ältesten sofort zu ihm hinunter und liefen mit ihm ebenso unbefangen, wie sie es mit der Kinderfrau oder mit Miß Hull oder mit der Mutter getan hätten. Auch Lilly wollte gern zu ihm hin, und die Mutter reichte sie ihm hinaus; er setzte sie sich auf die Schulter und lief so mit ihr.
»Haben Sie keine Angst, haben Sie keine Angst, Darja Alexandrowna!« rief er der Mutter heiter lächelnd zu. »Es ist ganz unmöglich, daß ich ihr weh tue oder sie fallen lasse.«
Und da sie sah, mit welcher Kraft und Behendigkeit, mit welcher sorglichen Achtsamkeit, ja übermäßigen Vorsicht er sich beim Laufen bewegte, beruhigte sich die Mutter und lächelte ihm gleichfalls vergnügt und beifällig zu.
Hier auf dem Lande und im Verkehr mit den Kindern und der ihm sehr sympathischen Darja Alexandrowna kam Ljewin in jene, bei ihm nicht seltene, kindlich fröhliche Gemütsstimmung hinein, die Darja Alexandrowna an ihm ganz besonders gern hatte. Während er mit den Kindern lief, gab er ihnen turnerische Anweisungen, brachte zugleich Miß Hull durch sein schlechtes Englisch zum Lachen und erzählte Darja Alexandrowna allerlei von seiner Beschäftigung hier auf dem Lande.
Nach dem Mittagessen saß Darja Alexandrowna mit ihm allein auf der Veranda und begann nun von Kitty zu reden.
»Wissen Sie es? Kitty wird herkommen und bei mir den Sommer verleben.«
»Wirklich?« erwiderte er; er war dunkelrot geworden und fügte, um den Gegenstand des Gespräches zu wechseln, sogleich hinzu: »Darf ich Ihnen also zwei Kühe schicken? Wenn Sie mit mir darüber abzurechnen wünschen, so können Sie mir ja fünf Rubel monatlich bezahlen, wenn Sie sich kein Gewissen daraus machen, mich so zu behandeln.«
»Nein, ich danke bestens. Diese Sache ist bei uns schon in guter Ordnung.«
»Nun, dann möchte ich einmal Ihre Kühe ansehen und, wenn Sie gestatten, Anweisung geben, wie sie gefüttert werden sollen. Die Hauptsache ist eine zweckmäßige Fütterung.«
Und um nur das Gespräch in eine andere Bahn zu bringen, setzte er ihr seine Theorie der Milchwirtschaft auseinander, die darin gipfelte, daß die Kuh nur die Maschine zur Umwandlung des Futters in Milch sei und so weiter.
Er redete über diesen Gegenstand und wünschte dabei leidenschaftlich, Genaueres über Kitty zu hören, bangte aber gleichzeitig davor. Er fürchtete, daß seine so mühsam erworbene Ruhe wieder vernichtet werden könne.
»Das mag ja sein; aber all dergleichen muß beaufsichtigt werden, und wer wird das hier bei mir tun?« antwortete Darja Alexandrowna nur widerstrebend.
Sie hatte ihre Wirtschaft jetzt mit Matrona Filimonownas Beihilfe so weit in Ordnung gebracht, daß sie nichts darin ändern mochte; und zudem traute sie auch Ljewins landwirtschaftlichen Kenntnissen nicht recht. Seine Auseinandersetzung, daß die Kuh eine Maschine zur Milcherzeugung sei, war ihr verdächtig. Sie meinte, derartige Vorschläge könnten im Betriebe der Wirtschaft nur störend wirken. Nach ihrer Auffassung lag die Sache viel einfacher: man brauche nur, wie Matrona Filimonowna ihr erklärt hatte, der Buntscheckigen und der Weißbauchigen mehr Futter und Trank zu geben und nicht zuzulassen, daß der Koch das Spülicht aus der Küche für die Kuh der Waschfrau wegtrage. Das war ihr verständlich. Dagegen erschienen ihr Vorschläge über Kleienfütterung und Grasfütterung unsicher und unklar. Und was die Hauptsache war: sie wollte jetzt über Kitty sprechen.
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»Kitty schreibt mir, sie wünsche nichts sehnlicher als Einsamkeit und Ruhe«, sagte Dolly, nachdem beide ein Weilchen geschwiegen hatten.
»Und wie ist es mit ihrer Gesundheit? Geht es besser?« fragte Ljewin in merklicher Aufregung.
»Gott sei Dank, sie ist völlig wiederhergestellt. Ich habe nie daran geglaubt, daß sie brustkrank wäre.«
»Ach, das freut mich recht!« rief Ljewin, und Dolly fand, während er das sagte und sie dann schweigend ansah, auf seinem Gesichte einen Ausdruck rührender Hilflosigkeit.
»Hören Sie mal, Konstantin Dmitrijewitsch«, sagte Darja Alexandrowna, und sie lächelte dabei in ihrer gutmütigen und zugleich ein wenig spöttischen Weise, »warum sind Sie eigentlich auf Kitty böse?«
»Ich? Ich bin nicht böse auf sie«, versetzte Ljewin.
»Doch, doch, Sie sind böse auf sie. Warum sind Sie denn, als Sie in Moskau waren, weder zu uns noch zu ihnen gekommen?«
»Darja Alexandrowna«, erwiderte er und errötete bis an die Haarwurzeln, »ich muß mich wundern, daß Sie bei Ihrer Herzensgüte das nicht fühlen. Sie müßten doch Mitleid mit mir haben, da Sie wissen ...«
»Was weiß ich denn?«
»Sie wissen, daß ich ihr einen Antrag gemacht habe und abgewiesen worden bin«, brachte Ljewin heraus, und die ganze Zärtlichkeit, die er noch einen Augenblick vorher für Kitty empfunden hatte, wich in seiner Seele dem Gefühle des Ingrimms über die erlittene Kränkung.
»Warum glauben Sie, daß ich das weiß?«
»Weil es alle wissen.«
»Darin irren Sie sich denn doch; ich für meine Person habe es nicht gewußt, wiewohl ich es vermutete.«
»So. Nun, dann wissen Sie es jetzt.«
»Ich wußte nur so viel, daß irgend etwas geschehen war, worüber sie sich schrecklich grämte; sie hat mich gebeten, ich möchte nie mit ihr davon zu reden anfangen. Nun, und wenn sie es mir nicht gesagt hat, so hat sie es niemandem gesagt. Aber was ist denn zwischen Ihnen beiden eigentlich vorgefallen? Sagen Sie es mir doch!«
»Ich habe Ihnen ja schon gesagt, was vorgefallen ist.«
»Wann ist denn das vorgefallen?«
»Als ich zum letztenmal bei Ihnen war.«
»Wissen Sie, ich muß Ihnen sagen«, erwiderte Darja Alexandrowna, »sie tut mir furchtbar leid, ganz furchtbar leid. Aber Sie, Sie leiden ja nur aus verletztem Stolz.«
»Kann sein«, versetzte Ljewin, »aber ...«
Sie unterbrach ihn.
»Aber sie, die Ärmste, tut mir furchtbar, ganz furchtbar leid. Jetzt ist mir alles verständlich geworden.«
»Nun, entschuldigen Sie mich, Darja Alexandrowna«, sagte er und stand auf. »Leben Sie wohl, Darja Alexandrowna! Auf Wiedersehen!«
»Aber nicht doch! Bleiben Sie noch!« versetzte sie und faßte ihn am Ärmel. »Bleiben Sie noch, setzen Sie sich!«
»Ich bitte inständigst: wir wollen über diesen Gegenstand nicht weiter sprechen«, sagte er und setzte sich wieder hin; aber er fühlte zugleich, daß in seinem Herzen eine Hoffnung, die er schon für tot und begraben gehalten hatte, wieder erwachte und sich regte.
»Wenn ich Sie nicht so gern hätte«, sagte Darja Alexandrowna, und die Tränen traten ihr dabei in die Augen, »wenn ich Sie nicht kennte, wie ich Sie kenne ...«
Das Gefühl, das er für tot gehalten hatte, lebte immer mehr und mehr auf, gewann an Kraft und nahm Ljewins Herz wieder in Besitz.
»Ja, jetzt ist mir alles verständlich geworden«, fuhr Darja Alexandrowna fort. »Sie können das nicht verstehen; euch Männern, die ihr frei seid und wählen könnt, euch ist immer klar, wen ihr liebt. Aber ein Mädchen, das darauf angewiesen ist, zu warten, und von ihrem weiblichen, mädchenhaften Schamgefühl zurückgehalten wird, ein Mädchen, das euch Männer nur so von weitem zu sehen bekommt und alles auf Treu und Glauben hinnimmt, bei einem Mädchen kann manchmal ein Gefühl so unklar sein, daß sie nicht weiß, was sie darüber sagen soll.«
»Ja, wenn das Herz nicht spricht ...«
»Nicht doch, das Herz spricht; aber überlegen Sie nur: ihr Männer, wenn ihr ein Auge auf ein junges Mädchen geworfen habt, dann verkehrt ihr in dem betreffenden Hause, ihr nähert euch ihr, seht sie euch genau an und wartet ab, ob ihr auch an ihr die Eigenschaften findet, die ihr gern mögt, und dann, wenn ihr überzeugt seid, daß ihr das Mädchen wirklich liebt, macht ihr euren Antrag ...«
»Nun, ganz so ist es nicht.«
»Das tut nichts; jedenfalls macht ihr euren Antrag erst dann, wenn eure Liebe völlig zur Reife gelangt ist oder wenn bei euch zwischen zwei zur Wahl Stehenden sich ein Übergewicht nach der einen oder der anderen Seite herausgestellt hat. Aber ein junges Mädchen wird nicht gefragt, welchen Mann sie wohl am liebsten haben möchte. Da verlangt man nun, sie solle sich selbst einen wählen, und sie ist doch gar nicht in der Lage, einen zu wählen, sondern kann nur ja und nein antworten.«
›Ja, die Wahl zwischen mir und Wronski‹, dachte Ljewin, und der in seiner Seele auferstandene Leichnam starb wieder und sank als qualvoll drückende Last auf sein Herz zurück.
»Darja Alexandrowna«, sagte er, »in dieser Weise wählt man ein Kleid oder sonst etwas, was man kaufen will; aber bei der Liebe geht es doch anders zu. Die Wahl ist vollzogen, nun gut ... Eine Wiederholung ist unmöglich.«
»Ach, dieser Stolz, immer dieser Stolz!« erwiderte Darja Alexandrowna, wie wenn sie ihn wegen der Niedrigkeit dieses Gefühls im Vergleich mit jenem anderen Gefühle, das nur den Frauen bekannt sei, verachtete. »Damals, als Sie Kitty einen Antrag machten, da befand sie sich gerade in einer Lage, die ihr die Antwort erschwerte. Es war bei ihr ein Zustand des Hin- und Herschwankens. Sie schwankte: Sie oder Wronski. Ihn sah sie täglich; Sie hatte sie seit längerer Zeit nicht mehr gesehen. Allerdings, wenn sie älter gewesen wäre ... Für mich zum Beispiel wäre an ihrer Stelle ein Schwanken ausgeschlossen gewesen. Er ist mir immer zuwider gewesen, und der Ausgang hat mir recht gegeben.«
Ljewin dachte an Kittys Antwort. Sie hatte gesagt: ›Es kann nicht sein ...‹
»Darja Alexandrowna«, antwortete er trocken, »ich weiß das gute Zutrauen, das Sie zu mir haben, zu schätzen. Aber ich glaube, Sie irren sich. Indessen, ob ich nun recht oder unrecht habe, jedenfalls hat dieser von Ihnen so verachtete Stolz die Wirkung, daß für mich jeder Gedanke an Katerina Alexandrowna ein Ding der Unmöglichkeit ist ... verstehen Sie wohl: geradezu ein Ding der Unmöglichkeit.«
»Ich möchte nur noch eins sagen: bedenken Sie, daß ich von meiner Schwester rede, die ich ebenso liebhabe wie meine eigenen Kinder. Ich sage nicht, daß sie Sie liebt; ich wollte nur sagen, daß ihre abschlägige Antwort in jenem Augenblicke nichts beweist.«
»Das weiß ich denn doch nicht!« rief Ljewin aufspringend. »Wenn Sie wüßten, wie wehe Sie mir tun! Es ist dasselbe, wie wenn Ihnen ein Kind gestorben wäre und jemand zu Ihnen sagte: ›Soundso hätte das Kind sein sollen, dann hätte es können am Leben bleiben, und Sie hätten Ihre Freude an ihm gehabt.‹ Aber es ist doch nun tot, tot, tot ...«
»Wie komisch Sie sind«, sagte Darja Alexandrowna mit trübem Lächeln, da sie Ljewins Erregung sah. »Ja, ja, jetzt wird mir alles immer besser verständlich«, fuhr sie nachdenklich fort. »Sie werden also wohl nicht zu uns kommen, wenn Kitty hier ist?«
»Nein, ich werde nicht kommen. Natürlich werde ich Katerina Alexandrowna nicht ängstlich vermeiden; aber soweit ich kann, werde ich mich bemühen, ihr die Unannehmlichkeit meiner Anwesenheit zu er sparen.«
»Sie sind sehr, sehr komisch«, sagte Darja Alexandrowna noch einmal und blickte ihm dabei voll herzlicher Freundlichkeit ins Gesicht. »Also gut, wir wollen dieses ganze Gespräch als ungeschehen betrachten. Nun, was wünschest du, Tanja?« fragte Darja Alexandrowna auf französisch ihr Töchterchen, das in die Veranda kam.
»Wo ist meine Schaufel, Mama?«
»Ich spreche Französisch, dann mußt du es auch tun.«
Die Kleine wollte ihre Frage auf französisch wiederholen, hatte aber vergessen, wie die Schaufel auf französisch heißt; die Mutter half ihr ein und sagte ihr dann auf französisch, wo sie die Schaufel suchen müsse. Das machte auf Ljewin einen unangenehmen Eindruck.
Jetzt kam ihm an Darja Alexandrownas Haushalt und an ihren Kindern alles gar nicht mehr so hübsch und nett vor wie vorher.
›Und warum spricht sie mit den Kindern Französisch?‹ dachte er. ›Wie unnatürlich das ist! Es liegt eine Art von Unwahrhaftigkeit darin! Und auch die Kinder haben ein Gefühl dafür. Man bringt ihnen das Französische bei und entwöhnt sie dabei von der Aufrichtigkeit‹, dachte er bei sich selbst, ohne zu wissen, daß Darja Alexandrowna all das schon zwanzigmal überlegt und dennoch, ob auch zum Schaden der Aufrichtigkeit, es für notwendig erachtet hatte, ihre Kinder in dieser Weise zu bilden.
»Aber warum wollen Sie denn schon fort? Bleiben Sie doch noch ein Weilchen!«
Ljewin blieb noch zum Tee; aber seine Heiterkeit war verschwunden, und er fühlte sich unbehaglich.
Nach dem Tee ging er ins Vorzimmer, um Befehl zum Anspannen zu geben, und als er zurückkehrte, fand er Darja Alexandrowna in höchster Aufregung, mit verstörtem Gesichte und Tränen in den Augen. Während Ljewin hinausgegangen war, hatte sich ein Ereignis zugetragen, durch das plötzlich ihre ganze heutige Glückseligkeit und ihr Stolz über die Kinder zunichte geworden war: Grigori und Tanja hatten sich wegen eines Balles geprügelt! Darja Alexandrowna hatte gehört, daß in der Kinderstube ein furchtbares Geschrei war; sie war hingelaufen und hatte die beiden Kinder in einem schrecklichen Zustande gefunden: Tanja hielt Grigori an den Haaren gepackt, und er, dessen Gesicht von Wut ganz entstellt war, schlug auf sie mit den Fäusten los, wohin es gerade traf. Darja Alexandrowna hatte bei diesem Anblick eine Empfindung, als ob in ihrem Herzen etwas zerrisse; es war ihr, als senke sich ein tiefes Dunkel auf ihr Leben herab: sie erkannte auf einmal, daß diese ihre Kinder, auf die sie so stolz gewesen war, nicht nur Kinder der allergewöhnlichsten Art, sondern sogar unartige, übel erzogene Kinder mit rohen, gewalttätigen Trieben, mit einem Wort: schlechte Kinder waren.
Sie konnte von nichts anderem sprechen und an nichts anderes denken und mußte ihrem Gaste ihr schweres Leid erzählen.
Ljewin sah, wie unglücklich sie über den Vorfall war, und bemühte sich, sie zu trösten, indem er sagte, das sei noch gar kein Beweis von schlechtem Charakter; prügeln täten sich alle Kinder; aber während er so redete, dachte er doch in seinem Herzen: ›Nein, ich werde nicht Komödie spielen und mit meinen Kindern Französisch sprechen. Aber meine Kinder werden auch von anderer Art sein; man muß seine Kinder nur nicht verderben und verbilden; dann werden es prächtige Kinder sein. Ja, meine Kinder werden von anderer Art sein.‹
Er empfahl sich und fuhr ab, und sie suchte ihn nicht zurückzuhalten.
11
Mitte Juli stellte sich bei Ljewin der Dorfschulze von dem Dorfe seiner Schwester ein, das ungefähr zwanzig Werst von Pokrowskoje entfernt lag, und brachte einen Rechenschaftsbericht über den Gang der Wirtschaftsangelegenheiten und über die Heuernte. Die Haupteinnahme lieferten bei dem Gute seiner Schwester die Überschwemmungswiesen am Flusse. In früheren Jahren waren diese Wiesen für zwanzig Rubel die Deßjatine an die Bauern auf Teilung verpachtet worden. Als Ljewin die Verwaltung des Gutes übernahm, fand er bei einer Besichtigung der Wiesen, daß sie mehr wert seien, und setzte den Preis für die Deßjatine auf fünfundzwanzig Rubel fest. Auf diesen Preis gingen die Bauern nicht ein und verscheuchten, wie Ljewin argwöhnte, auch andere Pachtlustige. Darauf fuhr Ljewin selbst hin und richtete es so ein, daß die Wiesen teils für Tagelohn, teils für einen Teil des Ertrags gemäht wurden. Die Bauern des Dorfes selbst bereiteten dieser Neuerung Hindernisse, soviel sie nur irgend konnten; aber die Sache gelang trotzdem, und gleich im ersten Jahre wurde aus den Wiesen fast die doppelte Einnahme erzielt. Im dritten Jahre, das heißt im letztvergangenen, hatte dieser Widerstand der Bauern noch fortgedauert, und die Heuernte war in derselben Weise vor sich gegangen. Im laufenden Jahre nun hatten die Bauern das Einernten des Heus auf allen Wiesen für den dritten Teil des Ertrages übernommen, und jetzt kam der Dorfschulze, um zu melden, daß die Heuernte beendet sei und daß er, aus Furcht vor Regen, unter Zuziehung des Gutsschreibers in dessen Gegenwart die Teilung vorgenommen und bereits elf herrschaftliche Schober aufgestellt habe. Aber aus seinen unbestimmten Antworten auf die Frage, wieviel Heu auf der Hauptwiese geerntet sei, aus der Eilfertigkeit des Dorfschulzen, der die Teilung des Heus ohne vorherige Anfrage ausgeführt hatte, und aus dem ganzen Tone des Bauern schloß Ljewin, daß bei dieser Teilung des Heues etwas nicht richtig sei, und er beschloß, selbst hinzureiten und die Sache zu untersuchen.
Er kam gegen Mittag im Dorfe an, stellte sein Pferd in dem Gehöft eines ihm befreundeten alten Bauern unter, des Mannes der Amme seines Bruders, und suchte diesen selbst auf seinem Bienenstande auf, da er von ihm gern Näheres über die Heuernte erfahren hätte. Der gesprächige, stattliche Alte – er hieß Parmenow – begrüßte Ljewin hocherfreut, zeigte ihm seine ganze Wirtschaft und erzählte sehr eingehend von seinen Bienen und von dem Schwärmen in diesem Jahre; aber Ljewins Fragen nach der Heuernte beantwortete er nur unbestimmt und mit sichtlichem Widerstreben. Dadurch fühlte sich Ljewin in seinen Vermutungen nur noch mehr bestärkt. Er ging auf die Wiesen und sah sich die Schober an. Unmöglich konnten diese Schober je fünfzig Fuhren enthalten, und um die Bauern zu überführen, ließ Ljewin sofort einige mit dem Heueinfahren beschäftigte Gespanne heranholen, das Heu eines Schobers aufladen und in die Scheune fahren. Aus dem Schober kamen nur zweiunddreißig Fuhren heraus. Trotz der Beteuerungen des Dorfschulzen, das Heu sei sehr locker gewesen und habe sich dann in den Schobern gesackt, und obwohl er Gott zum Zeugen anrief, daß er mit der größten Gewissenhaftigkeit verfahren sei, ließ sich Ljewin doch nicht von seinem Standpunkte abbringen, das Heu sei ohne seine Anweisung geteilt, und er nehme daher dieses Heu nicht als fünfzig Fuhren für den Schober an. Nach langem Hinundherstreiten wurde die Sache in der Weise entschieden, daß die Bauern diese elf Schober, jeden auf fünfzig Fuhren berechnet, mit auf ihren Anteil nehmen sollten; für den herrschaftlichen Anteil sollte eine neue Zuteilung vorgenommen werden. Die Verhandlungen und das Verteilen der Haufen dauerte bis zur Vesperzeit. Als das letzte Heu verteilt war, beauftragte Ljewin mit der weiteren Beaufsichtigung den Gutsschreiber, setzte sich auf einen durch eine hineingesteckte Weidenrute als herrschaftlich bezeichneten Heuhaufen und betrachtete mit Vergnügen die von geschäftigen Menschen wimmelnde Wiese.
Vor ihm, an der Krümmung des Flusses jenseits eines kleinen Sumpfes, bewegte sich, mit helltönenden Stimmen lustig schnatternd, eine bunte Reihe von Bauersfrauen, und aus dem ausgebreitet daliegenden Heu wurden schnell auf dem graugrünen Untergrunde graue, unregelmäßig gekrümmte Wälle zusammengeharkt. Hinter den Weibern her gingen die Bauern mit Heugabeln, und aus den Wällen entstanden breite, hohe, lockere Haufen. Zur Linken rasselten über die schon abgeerntete Wiese die Wagen dahin, und die Heuhaufen, in riesigen Ballen mit Gabeln auf die Wagen hinaufgereicht, verschwanden einer nach dem andern, und dafür türmten sich auf den Wagen schwere Ladungen duftigen Heues auf, die tief auf die Hinterteile der Pferde niederhingen.
»Ist das ein Wetter zum Heuen! Und ein Heu wird es – wie Tee so zart!« sagte der Alte und ließ sich neben Ljewin nieder. »Gerade wie wenn man den Enten Korn hinschüttet, so räumen sie auf!« fügte er hinzu, auf die Leute deutend, die die Heuhaufen aufluden. »Seit Mittag ist gut die Hälfte eingefahren.«
»Holst wohl die letzte Fuhre, was?« rief er einen jungen Burschen an, der vorn vor dem Wagenkasten stehend und mit den Enden seiner hänfenen Leinen schwenkend vorbeifuhr.
»Jawohl, die letzte, Väterchen!« schrie der Bursche, hielt das Pferd an, blickte sich lächelnd nach einer heiteren, gleichfalls lächelnden, rotbackigen Frau um, die im Wagenkasten saß, und jagte dann weiter.
»Wer ist das? Ein Sohn von dir?« fragte Ljewin.
»Mein Jüngster«, erwiderte der Alte mit freundlichem Lächeln.
»Ein frischer, strammer Bursche!«
»Nun ja, es macht sich.«
»Ist er schon verheiratet?«
»Ja, am Philippstage waren's schon zwei Jahre.«
»Na, und sind Kinder da?«
»Kinder? Gott bewahre! Ein ganzes Jahr lang hat er überhaupt nichts verstanden; eine wahre Schande!« antwortete der Alte. »Aber das ist ein Heu! Der reine Tee!« sagte er noch einmal, um das Gespräch auf einen anderen Gegenstand zu bringen.
Ljewin betrachtete nun aufmerksamer Iwan Parmenow und seine Frau. Sie luden nicht weit von ihm einen Heuhaufen auf. Iwan Parmenow stand auf dem Wagen, nahm die gewaltigen Heuballen, die ihm seine hübsche junge Frau anfangs mit den Armen, dann mit der Gabel geschickt hinreichte, in Empfang, verteilte sie gleichmäßig und trat sie fest. Die junge Frau verrichtete ihre Arbeit leicht, munter und behende. Das Heu, das sich durch das Liegen zu einer festen Masse zusammengepreßt hatte, ließ sich nicht so ohne weiteres auf die Gabel nehmen. Sie lockerte es zuerst, schob die Gabel hinein, legte sich dann mit einer elastischen, schnellen Bewegung und mit dem ganzen Gewichte ihres Körpers auf den Stiel der Gabel, richtete sich sofort, den von einem roten Gürtel umspannten Rücken zurückbiegend, wieder in die Höhe, und indem sie die volle Brust unter dem weißen Latze stark nach vorn drückte, faßte sie mit geschicktem Griffe die Gabel anders und schwang den Heuballen hoch nach der Fuhre hinauf. Eilig, da er sich offenbar bemühte, seinem Weibe jeden Augenblick unnötiger Mühe zu ersparen, ergriff Iwan mit weit ausgebreiteten Armen das ihm hingehaltene Heu und legte es auf der Fuhre zurecht. Nachdem die junge Frau das letzte Heu mit der Harke hinaufgereicht hatte, schüttelte sie den Grus, der ihr in den Nacken gefallen war, ab, rückte das rote Tuch zurecht, das sich über der weißen, von der Sonne nicht verbrannten Stirn verschoben hatte, und kroch unter den Wagen, um die Ladung festzubinden. Iwan gab ihr von oben Anweisung, wie sie den Strick am Langbaum anbinden müsse, und lachte laut über etwas, was sie sagte. In dem Ausdruck der beiden Gesichter war eine kräftige, junge, erst vor kurzem erwachte Liebe deutlich zu erkennen.