Anna Karenina

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»So sage doch die paar Worte jetzt gleich; dann können wir uns bei Tische vollständig einer gemütlichen Unterhaltung widmen.«

»Die paar Worte sind nämlich die«, sagte Ljewin. »Übrigens ist es weiter nichts Besonderes.«

Sein Gesicht nahm plötzlich einen ärgerlichen Ausdruck an, der durch die Anstrengung hervorgerufen wurde, mit der er seiner Verlegenheit Herr zu werden suchte.

»Was machen denn Schtscherbazkis? Alles beim alten?« fragte er.

Stepan Arkadjewitsch, der schon lange wußte, daß Ljewin in seine, Stepans, Schwägerin Kitty verliebt war, lächelte leise, und seine Augen blitzten lustig.

»Da hast du nun also deine paar Worte gesagt; ich kann dir aber nicht mit ein paar Worten antworten, weil ... Entschuldige einen Augenblick!«

Ein Sekretär kam herein. Mit einer Art von achtungsvoller Vertraulichkeit und einem gewissen, bei allen Sekretären zu findenden bescheidenen Bewußtsein der eigenen Überlegenheit über den Dienstherrn, was Geschäftskenntnis anlangt, trat er mit einigen Aktenstücken in der Hand an Oblonski heran und begann, unter der Form einer Frage, irgendeine Schwierigkeit auseinanderzusetzen. Stepan Arkadjewitsch hörte ihn nicht bis zu Ende an, sondern unterbrach ihn, indem er ihm freundlich die Hand auf den Rockärmel legte.

»Nein, machen Sie das doch nur so, wie ich gesagt habe«, versetzte er, wobei er den Tadel, der in dieser Bemerkung lag, durch ein Lächeln milderte. Dann erklärte er ihm kurz, wie er die Sache auffasse, und schob die Papiere mit den Worten zurück: »So also machen Sie es, bitte, so, Sachar Nikitisch.«

Verlegen entfernte sich der Sekretär. Ljewin, der während der Erörterung mit dem Sekretär seine Befangenheit vollständig überwunden hatte, stand mit beiden Händen auf eine Stuhllehne gestützt da, und auf seinem lächelnden Gesichte malte sich ein spöttisches Interesse.

»Mir unbegreiflich, mir unbegreiflich«, sagte er.

»Was ist dir denn unbegreiflich?« fragte Oblonski, gleichfalls heiter lächelnd, und holte eine Zigarette hervor. Er erwartete, daß Ljewin wieder einmal in besonderer Weise losbrechen werde.

»Es ist mir unbegreiflich, mit welchen Dingen ihr euch da abgebt«, erwiderte Ljewin achselzuckend. »Wie kannst du dergleichen nur ernsthaft betreiben!«

»Wieso?«

»Nun, weil es eigentlich doch eine Art Müßiggang ist.«

»Das denkst du so; aber wir sind mit Arbeit überhäuft.«

»Mit papierener Arbeit. Na ja, dafür hast du ja eine Begabung«, fügte Ljewin hinzu.

»Das heißt, du meinst, daß es mir anderweitig mangelt?«

»Kann schon sein«, versetzte Ljewin. »Aber trotzdem bewundere ich deine hervorragenden Eigenschaften und bin stolz darauf, einen so großen Mann zum Freunde zu haben. – Aber du hast mir auf meine Frage noch nicht geantwortet«, fügte er hinzu und blickte mit verzweifelter Anstrengung dem anderen gerade in die Augen.

»Na schön, schön! Warte nur, du kommst auch noch einmal auf unseren Standpunkt. Du bist ja gut dran mit deinen dreitausend Deßjatinen im Kreise Karasinsk und mit solchen Muskeln und mit solcher Lebensfrische wie ein zwölfjähriges Mädchen, – aber auch du wirst noch auf unsere Seite kommen. Ja, also was deine Frage betrifft: es hat sich da nichts geändert; aber schade, daß du so lange nicht hier gewesen bist.«

»Wieso?« fragte Ljewin erschrocken.

»Nun, es ist nichts Besonderes«, antwortete Oblonski. »Wir sprechen schon noch darüber. Aber zu welchem Zwecke bist du denn eigentlich hergekommen?«

»Ach, darüber können wir ja auch später noch sprechen«, erwiderte Ljewin und wurde wieder rot bis über die Ohren.

»Na schön, gewiß«, versetzte Stepan Arkadjewitsch. »Siehst du, ich würde dich gern zu mir einladen; aber meine Frau ist nicht recht wohl. Aber weißt du was? Wenn du die Schtscherbazkischen Damen sehen willst, die sind heute höchstwahrscheinlich von vier bis fünf im Zoologischen Garten. Kitty läuft da Schlittschuh. Fahre da hin; ich hole dich nachher ab, und wir essen dann zusammen irgendwo zu Mittag.«

»Ausgezeichnet! Also auf Wiedersehen!«

»Aber denk auch daran! Daß du es ja nicht etwa vergißt oder wohl gar plötzlich aufs Land zurückfährst! Ich kenne dich!« rief Stepan Arkadjewitsch lachend.

»Nein, nein, du kannst dich auf mich verlassen.«

Erst als er an der Tür war, fiel es Ljewin ein, daß er ja vergessen hatte, sich von Oblonskis Kollegen zu verabschieden; hastig holte er das Versäumte nach und verließ das Zimmer.

»Wohl ein sehr energischer Herr?« bemerkte Grinjewitsch, als Ljewin hinausgegangen war.

»Ja, liebster Freund«, antwortete Stepan Arkadjewitsch, den Kopf hin und her wiegend, »das ist ein Glückskind! Dreitausend Deßjatinen im Kreise Karasinsk, das ganze Leben noch vor sich, und was für eine Frische! Nicht so wie unsereiner!«

»Sie wollen sich beklagen, Stepan Arkadjewitsch, Sie?«

»Ja, scheußlich geht es einem, gar zu schlimm!« antwortete Stepan Arkadjewitsch mit einem schweren Seufzer.

6

Als Oblonski an Ljewin die Frage gerichtet hatte, zu welchem Zwecke er denn eigentlich nach Moskau gekommen sei, war Ljewin rot geworden und ärgerte sich nun nachher eben darüber, daß er rot geworden war und es nicht fertiggebracht hatte, ihm zu antworten: ›Ich bin hergekommen, um deiner Schwägerin einen Heiratsantrag zu machen‹, wiewohl dies der einzige Zweck seiner Reise war.

Die Ljewins und die Schtscherbazkis waren alte Moskauer Adelsfamilien und hatten immer in nahen, freundschaftlichen Beziehungen zueinander gestanden. Diese Verbindung hatte sich während Ljewins Studienzeit noch mehr befestigt. Er hatte sich mit dem jungen Fürsten Schtscherbazki, dem Bruder von Dolly und Kitty, zusammen auf den Besuch der Universität vorbereitet und sie mit ihm zugleich bezogen. Zu jener Zeit verkehrte Ljewin viel im Schtscherbazkischen Hause und war in dieses Haus verliebt. So seltsam es auch scheinen mag, Konstantin Ljewin war geradezu in das Haus verliebt, in die Familie, besonders in die weibliche Hälfte der Familie Schtscherbazki. Ljewin selbst konnte sich seiner Mutter nicht entsinnen, und seine einzige Schwester war älter als er, so daß er im Schtscherbazkischen Hause zum ersten Male der Welt einer alten, gebildeten, ehrenhaften Adelsfamilie begegnete, die er im eigenen Hause infolge des Todes seines Vaters und seiner Mutter nicht hatte kennenlernen können. Alle Mitglieder dieser Familie, und besonders der weibliche Teil, erschienen ihm wie von einem geheimnisvollen poetischen Schleier verhüllt, und er nahm an ihnen nicht nur keine Mängel wahr, sondern vermutete auch hinter diesem poetischen verhüllenden Schleier die edelsten Gesinnungen und alle nur denkbaren Vollkommenheiten. Weshalb diese drei jungen Damen tagelang Französich und Englisch sprechen mußten; weshalb sie zu bestimmten Stunden abwechselnd Klavier spielten (die Klänge des Instruments waren oben im Zimmer des Bruders zu hören, wo die beiden Studenten arbeiteten); weshalb alle diese Lehrer, für französische Literatur, für Musik, für Zeichnen, für Tanzen, ins Haus kamen; weshalb zu bestimmten Stunden die drei jungen Damen mit Mademoiselle Linon in der Kutsche nach dem Twerskoi-Boulevard fuhren, alle in ihren Atlaspelzen, und zwar Dolly in einem langen, Natalja in einem halblangen und Kitty in einem ganz kurzen, so daß ihre wohlgestalteten Beinchen in den straff sitzenden roten Strümpfen ganz zu sehen waren; warum sie in Begleitung eines Dieners mit einer goldenen Kokarde am Hute auf dem Twerskoi-Boulevard spazierengehen mußten: alles dies und vieles andere, was in ihrer geheimnisvollen Welt geschah, verstand Ljewin nicht; aber er wußte, daß alles, was dort geschah, vortrefflich war, und gerade das Geheimnisvolle all dieser Vorgänge lockte und reizte ihn.

Als Student hätte er sich beinah in Dolly, die Älteste, verliebt; jedoch verheiratete sich diese sehr bald mit Oblonski. Darauf wandte er der zweiten seine Neigung zu; er hatte gleichsam die Empfindung, daß er sich in eine der drei Schwestern verlieben müsse, und konnte sich nur nicht klarwerden, in welche nun eigentlich. Aber auch Natalja fand, gleich nachdem sie in die Gesellschaft eingeführt war, einen Gatten: den Diplomaten Lwow. Kitty war, als Ljewin die Universität verließ, noch ein Kind. Der junge Schtscherbazki, der zur Marine gegangen war, ertrank in der Ostsee, und Ljewins Verkehr mit der Familie Schtscherbazki wurde, trotz seiner Freundschaft mit Oblonski, seltener. Aber als Ljewin, nach einem einjährigen Aufenthalte auf seinem Gute, zu Anfang dieses Winters nach Moskau gekommen war und bei Schtscherbazkis einen Besuch machte, da ging ihm die Erkenntnis auf, in welche von den drei Schwestern sich zu verlieben ihm vom Schicksal bestimmt war.

Man hätte nun meinen sollen, es wäre nichts einfacher gewesen, als daß er, ein Mann von guter Herkunft, zweiunddreißig Jahre alt und eher reich als arm zu nennen, um die Hand der Prinzessin Schtscherbazkaja angehalten hätte; aller Wahrscheinlichkeit nach wäre er sofort als eine gute Partie erachtet und angenommen worden. Aber Ljewin war verliebt, und daher hatte er die Vorstellung, Kitty sei in jeder Beziehung ein solcher Inbegriff von Vollkommenheit, ein so hoch über allem Irdischen stehendes Wesen, er selbst dagegen ein so irdisches, niedriges Geschöpf, daß gar nicht daran zu denken sei, daß andere und sie selbst ihn ihrer für würdig halten könnten.

Zwei Monate lebte er so in Moskau in einer Art von Benommenheit und traf während dieser Zeit fast täglich mit Kitty in Gesellschaften zusammen, die er zu besuchen begonnen hatte, um sie zu sehen; dann aber glaubte er auf einmal zu erkennen, daß die Sache ganz aussichtslos sei, und fuhr wieder aufs Land.

Ljewins Überzeugung von der Aussichtslosigkeit der Sache beruhte auf seiner Annahme, daß er in den Augen der Eltern als eine unvorteilhafte, der herrlichen Kitty unwürdige Partie erscheine und daß Kitty selbst ihn nicht lieben könne. Die Eltern mußten seiner Meinung nach daran Anstoß nehmen, daß er keine bestimmte Tätigkeit von einer der herkömmlichen Arten hatte und keine Stellung in der Welt einnahm, während seine früheren Kameraden jetzt, da er im Alter von zweiunddreißig Jahren stand, alle schon etwas waren: der eine Oberst und Flügeladjutant, ein anderer Professor, ein anderer Bank- oder Eisenbahndirektor oder Chef einer Regierungsbehörde wie Oblonski; er dagegen (er wußte sehr genau, wie andere mit Notwendigkeit über ihn urteilten), er war eben nur ein Gutsbesitzer, der sich mit Rinderzucht, Schnepfenjagd und Bauten beschäftigte, das heißt ein talentloser Mensch, aus dem nichts geworden war und der, nach den Begriffen der besseren Gesellschaft, eben das tat, was Leute tun, die zu nichts nütze sind.

 

Die geheimnisvolle, herrliche Kitty selbst aber konnte einen so unschönen Menschen, für den er sich selbst hielt, und ganz besonders einen so gewöhnlichen, in keiner Weise hervorragenden Menschen nicht lieben. Auch sein früheres Verhältnis zu Kitty, das Verhältnis eines Erwachsenen zu einem Kinde, hervorgerufen durch die Freundschaft mit ihrem Bruder, erschien ihm als ein weiteres Hindernis für seine Liebe. Einen unschönen, gutmütigen Menschen, wie er seiner Ansicht nach einer war, konnte man, meinte er, wohl als Freund lieben; aber um mit einer solchen Liebe geliebt zu werden, wie er selbst sie für Kitty empfand, mußte man ein schöner und namentlich ein bedeutender Mann sein.

Er hatte allerdings schon sagen hören, daß die Frauen oft auch zu unschönen, gewöhnlichen Männern Liebe empfänden; aber er glaubte das nicht, weil er nach seiner eigenen Person urteilte und selbst nur schöne, geheimnisvolle, ausgezeichnete Frauen lieben konnte.

Nachdem er aber zwei Monate in der Einsamkeit auf dem Lande zugebracht hatte, gelangte er zu der Überzeugung, daß das, was er für Kitty empfand, denn doch von wesentlich anderer Art war als die Liebesregungen, die er in seiner ersten Jugendzeit durchgemacht hatte; daß dieses Gefühl ihm keine Minute Ruhe lasse; daß er nicht leben könne, wenn nicht die Frage entschieden werde, ob sie sein Weib werden wolle oder nicht; daß seine Verzweiflung nur aus allerlei willkürlichen Berechnungen entsprungen sei und daß er keinerlei Beweise dafür habe, daß er werde zurückgewiesen werden. So fuhr er denn diesmal nach Moskau mit dem festen Entschlusse, ihr seine Hand anzubieten und sie zu heiraten, wenn sie ihn möge. Andernfalls, – aber er vermochte sich gar nicht zu denken, was aus ihm werden sollte, wenn er abgewiesen würde.

7

Er kam mit dem Morgenzuge in Moskau an und stieg bei seinem ältesten Bruder mütterlicherseits, Kosnüschew, ab. Nachdem er sich umgekleidet hatte, ging er zu ihm in sein Arbeitszimmer mit der Absicht, ihm sofort zu erzählen, zu welchem Zwecke er hergereist sei, und ihn um seinen Rat zu bitten; aber er fand seinen Bruder nicht allein. Bei ihm saß ein namhafter Professor der Philosophie, der von Charkow nach Moskau vornehmlich in der Absicht herübergekommen war, einen Zwiespalt der Anschauungen aufzuklären, der zwischen ihnen beiden in einer sehr wichtigen philosophischen Frage entstanden war. Der Professor nämlich hatte einen heftigen Kampf gegen die Materialisten geführt; Sergei Kosnüschew aber hatte diesen Kampf mit Interesse verfolgt und, nachdem er den letzten Artikel des Professors gelesen, ihm brieflich seine Einwendungen mitgeteilt; darin hatte er dem Professor den Vorwurf allzu wichtiger Zugeständnisse an die Materialisten gemacht. Und nun war der Professor sofort zu ihm gekommen, um sich mit ihm auszusprechen. Es handelte sich um die zeitgemäße Frage: Gibt es eine Grenze zwischen den psychischen und physiologischen Erscheinungen in der Lebenstätigkeit des Menschen, und wo liegt diese Grenze?

Sergei Iwanowitsch begrüßte seinen Bruder mit dem freundlich-kühlen Lächeln, das ihm allen Leuten gegenüber zur Gewohnheit geworden war, machte ihn mit dem Professor bekannt und setzte dann das Gespräch mit diesem fort.

Der Professor, ein kleines Männchen mit schmaler Stirn und mit einer Brille, hatte für einen Augenblick den Gegenstand des Gespräches verlassen, um den Ankömmling zu begrüßen, fuhr aber in seiner Darlegung fort, ohne Ljewin weiter zu beachten. Ljewin setzte sich hin und wollte warten, bis der Professor weg ginge; aber bald interessierte er sich für den Inhalt des Gespräches.

Ljewin hatte mitunter in Zeitschriften Aufsätze über das Thema gefunden, das hier augenblicklich erörtert wurde, und hatte sie gelesen, weil sie ihn als ein weiterer Ausbau der ihm von seinen naturwissenschaftlichen Universitätsstudien her bekannten Grundgedanken der Naturwissenschaft interessierten; aber niemals hatte er diese wissenschaftlichen Darlegungen über die Entstehung des Menschen als eines körperlichen Wesens, über Reflexe, über Biologie und Soziologie in Verbindung gebracht mit der Frage nach der Bedeutung des Lebens und Todes für ihn selbst, einer Frage, die ihm in letzter Zeit immer häufiger durch den Kopf gegangen war.

Während er dem Gespräche seines Bruders mit dem Professor zuhörte, machte er die Beobachtung, daß sie Fragen der objektiven Wissenschaft mit Fragen des subjektiven Seelenlebens in Verbindung brachten, mehrere Male an diese Fragen sogar ganz dicht herankamen, aber jedesmal, wenn sie sich dem, was ihm als der Kernpunkt erschien, genähert hatten, sich sofort wieder eilig davon entfernten und sich wieder tief in feine Unterscheidungen, Verklausulierungen, Zitate, Andeutungen und Hinweise auf Autoritäten versenkten; nur mit Mühe begriff er, worum es sich handelte.

»Ich kann nicht zugeben«, sagte Sergei Iwanowitsch mit der ihm eigenen Klarheit, Knappheit und Eleganz des Ausdrucks, »ich kann unter keinen Umständen Keiß darin recht geben, daß meine gesamten Vorstellungen von der Außenwelt in Eindrücken ihren Ursprung haben sollen. Gerade den eigentlichen Grundbegriff des Daseins habe ich nicht durch Empfindung erlangt; denn ich besitze gar keinen besonderen Sinn für die Übermittelung dieses Begriffes.«

»Gewiß, aber die Gegner, Wurst, Knaust und Pripasow, antworten Ihnen darauf, daß Ihr Bewußtsein vom Dasein aus der Vereinigung aller Empfindungen entspringt, daß dieses Bewußtsein vom Dasein ein Erzeugnis der Empfindungen ist. Wurst sagt sogar geradezu, sobald es keine Empfindung gebe, könne es auch keinen Daseinsbegriff geben.«

»Ich sage aber im Gegenteil ...«, begann Sergei Iwanowitsch.

Aber an dieser Stelle des Gespräches hatte Ljewin wieder den Eindruck, daß sie, dem eigentlichen Kernpunkt nahe gekommen, wieder im Begriff seien, sich von ihm zu entfernen, und er entschloß sich, dem Professor eine Frage vorzulegen.

»Mithin ist, wenn meine Sinnesempfindungen vernichtet sind, wenn mein Körper stirbt, auch keinerlei Dasein mehr möglich?« fragte er.

Ärgerlich und mit einer Art von seelischem Schmerzgefühl über diese Unterbrechung blickte der Professor nach dem sonderbaren Frager hin, der mehr den Eindruck eines gewöhnlichen Arbeitsmannes als eines Philosophen machte, und ließ dann seine Augen zu Sergei Iwanowitsch wandern, als ob er fragen wollte: Was soll man darauf antworten? Aber Sergei Iwanowitsch, der bei weitem nicht mit solchem Kampfeseifer und solcher Einseitigkeit sprach wie der Professor und dessen Kopf geräumig genug war, um sowohl mit dem Professor wissenschaftliche Erörterungen anzustellen wie auch den einfachen, natürlichen Gesichtspunkt zu verstehen, von dem aus jene Frage gestellt war, erwiderte lächelnd:

»Auf diese Frage eine bestimmte Antwort zu geben, sind wir noch nicht berechtigt.«

»Wir haben keine Unterlagen dazu«, bemerkte der Professor zustimmend und fuhr dann in seinen Darlegungen fort. »Nein«, sagte er, »ich möchte doch darauf hinweisen, daß, wenn auch, wie Pripasow es geradezu ausspricht, die Empfindung den Eindruck zu ihrer Grundlage hat, wir diese beiden Begriffe doch streng auseinanderhalten müssen.«

Ljewin hörte nicht weiter zu und wartete ab, daß der Professor wegginge.

8

Sobald der Professor gegangen war, wandte sich Sergei Iwanowitsch seinem Bruder zu.

»Ich freue mich sehr, daß du hergekommen bist. Bleibst du lange in Moskau? Was macht die Wirtschaft?«

Ljewin wußte, daß die Wirtschaft seinen älteren Bruder wenig interessierte und er sich nur aus freundlichem Entgegenkommen danach erkundigte; daher beschränkte er sich auf einige Mitteilungen über den Verkauf des Weizens und über Geldangelegenheiten.

Ljewin hatte dem Bruder von seinen Heiratsabsichten sagen und ihn um seinen Rat bitten wollen; er hatte es sich sogar ganz fest vorgenommen. Aber als er seinen Bruder gesehen und sein Gespräch mit dem Professor mit angehört hatte und als er nun den unwillkürlich gönnerhaften Ton hörte, in dem sich der Bruder nach den Wirtschaftsangelegenheiten erkundigte (das Gut, das ihrer Mutter gehört hatte, war nicht geteilt worden, und Ljewin verwaltete beide Anteile), da fühlte er, daß er es nicht fertigbrächte, mit seinem Bruder über seine Absicht, sich zu verheiraten, zu reden. Er hatte die Empfindung, sein Bruder werde die Sache nicht so anschauen, wie es ihm erwünscht wäre.

»Nun, und was macht euere Kreisverwaltung?« fragte Sergei Iwanowitsch, der sich für diese Einrichtung lebhaft interessierte und ihr große Bedeutung beimaß.

»Ich weiß es wirklich nicht.«

»Aber bist du denn nicht Mitglied der Verwaltung?«

»Nein, ich bin nicht mehr Mitglied; ich bin ausgetreten«, erwiderte Ljewin. »Ich besuche auch die Versammlungen nicht mehr.«

»Das ist ja schade!« versetzte Sergei Iwanowitsch, die Stirn runzelnd.

Um sein Verhalten zu rechtfertigen, begann Ljewin zu erzählen, wie es bei diesen Versammlungen in seinem Kreise zugehe.

»Ja, so ist das doch immer!« unterbrach ihn Sergei Iwanowitsch. »Wir Russen sind immer so! Vielleicht ist das ja auch ein ganz guter Zug in unserem Charakter, daß wir einen Blick für das haben, was bei uns mangelhaft ist. Aber wir fassen diese Mängel zu schlimm auf und finden unser Vergnügen an einer ironischen Kritik, die uns immer auf der Zunge bereit liegt. Ich will dir nur sagen: wenn man die Rechte, mit denen unsere ländliche Selbstverwaltung ausgestattet ist, einem anderen europäischen Volke verliehe, – die Deutschen und die Engländer würden auf dem Grundpfeiler dieser Rechte das Gebäude ihrer Freiheit errichten; aber wir lachen und spotten nur.«

»Aber was ist zu machen?« erwiderte Ljewin etwas schuldbewußt. »Das war mein letzter Versuch. Und ich hatte ihn aus ganzem Herzen unternommen. Ich kann nicht mehr. Ich bin dazu unfähig.«

»Unfähig bist du dazu nicht«, sagte Sergei Iwanowitsch, »du betrachtest die Sache nur von einem falschen Standpunkte aus.«

»Mag sein«, antwortete Ljewin bedrückt.

»Weißt du auch schon: unser Bruder Nikolai ist wieder hier.«

Dieser Nikolai war Konstantin Ljewins älterer rechter Bruder, Sergei Iwanowitschs Stiefbruder, ein verkommener Mensch, der den größten Teil seines Vermögens durchgebracht hatte, in ganz sonderbarer, schlechter Gesellschaft verkehrte und mit seinen Brüdern zerfallen war.

»Was sagst du da?« rief Ljewin erschrocken. »Woher weißt du das?«

»Prokofi hat ihn auf der Straße gesehen.«

»Hier in Moskau? Wo ist er? Weißt du es?« Ljewin sprang vom Stuhle auf, als ob er sogleich zu Nikolai hineilen wolle.

»Es tut mir schon leid, daß ich dir etwas davon gesagt habe«, erwiderte Sergei Iwanowitsch und schüttelte den Kopf über das aufgeregte Benehmen seines jüngeren Bruders. »Ich habe Erkundigungen einziehen lassen, wo er wohnt, und ihm den Wechsel, den er diesem Menschen, dem Trubin, ausgestellt hatte und den ich eingelöst habe, zugesandt. Hier ist die Antwort, die er mir geschickt hat.«

Sergei Iwanowitsch nahm unter dem Briefbeschwerer einen Zettel hervor und reichte ihn seinem Bruder hin. Dieser las folgendes, was in einer sonderbaren, ihm so wohlvertrauten Handschrift geschrieben war: »Ich bitte ergebenst, mich in Ruhe zu lassen. Das ist das einzige, was ich von meinen lieben Brüdern verlange. Nikolai Ljewin.«

Als Ljewin dies durchgelesen hatte, blieb er, ohne den Kopf aufzurichten, mit dem Zettel in der Hand vor Sergei Iwanowitsch stehen.

In seiner Seele kämpften miteinander der Wunsch, den unglücklichen Bruder jetzt zu vergessen, und das Bewußtsein, daß dies eine Schlechtigkeit wäre.

»Er will mich offenbar beleidigen«, fuhr Sergei Iwanowitsch fort, »aber mich zu beleidigen ist er nicht imstande; ich wünschte von ganzem Herzen, ihm zu helfen; aber ich weiß, daß das ein Ding der Unmöglichkeit ist.«

 

»Jawohl, jawohl«, versetzte Ljewin. »Ich verstehe und achte dein Benehmen ihm gegenüber; aber ich meinerseits will doch zu ihm gehen.«

»Wenn du dazu Lust hast, so gehe hin; aber raten kann ich dir nicht dazu«, erwiderte Sergei Iwanowitsch. »Das heißt, für mich selbst habe ich dabei keine Besorgnis; er wird dich nicht mit mir entzweien; aber in deinem Interesse möchte ich dir raten, lieber nicht hinzugehen. Zu helfen ist ihm nicht. Handle jedoch, wie du willst.«

»Vielleicht ist ihm wirklich nicht zu helfen; aber ich fühle, und ganz besonders in diesem Augenblicke – aber das ist eine andere Sache –, ich fühle, daß ich sonst nicht ruhig sein kann.«

»Nun, dafür habe ich kein rechtes Verständnis«, sagte Sergei Iwanowitsch. »Eines aber weiß ich«, fügte er hinzu, »es ist dies für uns eine Lehre in der Demut. Ich habe über das, was man Gemeinheit nennt, anders und nachsichtiger zu urteilen angefangen, seitdem unser Bruder Nikolai das geworden ist, was er jetzt ist. Du weißt, was er getan hat.«

»Ach, es ist schrecklich, ganz schrecklich!« seufzte Ljewin.

Nachdem Ljewin sich von Sergei Iwanowitschs Diener die Wohnung des Bruders hatte angeben lassen, stand er schon im Begriffe, sofort zu ihm zu fahren; aber nach kurzer Überlegung entschied er sich dafür, diesen Besuch bis zum Abend zu verschieben. Vor allen Dingen mußte er, um sein seelisches Gleichgewicht wiederzuerlangen, die Angelegenheit zur Entscheidung bringen, um derentwillen er nach Moskau gekommen war. Daher fuhr er von seinem Bruder Sergei zu Oblonski nach dessen Dienstgebäude, und nachdem er von diesem Auskunft über Schtscherbazkis erhalten hatte, fuhr er dorthin, wo er nach Oblonskis Angabe Kitty zu treffen hoffte.