Read the book: «An den Ufern des Nebraska»
An den Ufern des Nebraska
Die Surehand-Story – Band I
Lennardt M. Arndt

Inhalt
Prolog
Kapitel I – Wahrheit
Kapitel II – Eine Überraschung
Kapitel III – Aufbruch
Kapitel IV – Eine Falle
Kapitel V – Mann-mit-sicherer-Hand
Kapitel VI – Auf Leben und Tod
Kapitel VII – Neue Freunde
Kapitel VIII – Todfeinde
Kapitel IX – Weiße Antilope
Kapitel X – Eine neue Hoffnung
Kapitel XI – Bei den Chaui
Kapitel XII – Das Ende einer Flucht
Anmerkungen des Autors
Dramatis personae
Karte des Wilden Westens (um 1855)
Kartenausschnitt des östlichen Nebraska-Territoriums (Orte der Haupthandlung)
Prolog
Jefferson City, Missouri - 1911
Die vorliegende Erzählung behandelt eine Zeit, in der der Westen der Vereinigten Staaten noch als Wilder Westen bezeichnet wurde.
Ich habe diese Zeit hautnah erlebt. Und heute, im Winter meines Lebens, habe ich mich entschlossen, meine damaligen Erlebnisse für den interessierten Leser aufzuschreiben. Doch wo fange ich an? Nun, … zunächst denke ich, muss ich mich vorstellen.
Geboren bin ich 1841 in Boston, als Sohn eines Kaufmanns. Meine Mutter war eine Indianerin aus dem Süd-Westen. Ich habe einen jüngeren Bruder, doch Neid und Rachsucht zweier Verbrecher fügten es, dass ich früh meine Familie verlor und in der Obhut meines Ziehvaters aufwuchs. Mein Name ist Leo Bender. Bekannt wurde ich später unter dem Namen Old Surehand.
Jahrelang streifte ich durch den Westen der heutigen Vereinigten Staaten, um nach meinen Wurzeln und meiner Familie zu suchen. Dabei war ich von dem unbändigen Wunsch getrieben, die Verbrecher, die meinen Vater auf dem Gewissen hatten, zu finden und zu bestrafen.
Bei meinen Wanderungen traf ich auf Angehörige fast aller Indianer-Völker, die damals zwischen den großen Flüssen, Mississippi und Missouri, und dem Pazifik lebten. Ebenso begegnete ich Jägern, Fallenstellern, Abenteurern, weißen Siedlern und Vertretern der Obrigkeit der Vereinigten Staaten.
Bei all jenen durfte ich Menschen kennenlernen, die mir ans Herz wuchsen. Haltungen wie Kühnheit, Tapferkeit, Stolz, Freundschaft und Ehre wusste ich bei ihnen zu schätzen. Doch traf ich bei einigen, unabhängig von der Farbe der Haut, auch auf Dummheit, Falschheit, Verschlagenheit, Hass und Mordlust.
Bevor ich mich auf die Suche nach meiner Familie und die Jagd auf die Verbrecher machen konnte, musste ich erst lernen, allein in der amerikanischen Wildnis zu überleben. Die dazu notwendigen Kenntnisse und Fertigkeiten erwarb ich bei einem berühmten Prairiemann und einem Stamm der Pawnee.
Im Bürgerkrieg kämpfte ich auf der Seite der Nordstaaten. Meine Jahre als Jäger und Prairieläufer fügten es, dass ich für kurze Zeit bei der Armee als Scout tätig war. Auch hier traf ich auf Menschen, deren Wege die meinen später wieder kreuzen sollten.
Doch der Reihe nach …
Kapitel I – Wahrheit
Jefferson City, Missouri
Der Tag, der alles veränderte, war ein Tag im Sommer des Jahres 1856. Zusammen mit einigen Jungs trieb ich mich nach der Schule in der Nähe des damals noch jungen Städtchens am Ufer des Missouri herum.
Wie so oft vertrieben wir uns die Zeit damit, mit unseren Slingshots1 Ratten und andere kleine Nager zu jagen. Während die Anderen ein Kaninchen aufgestöbert hatten und nun fleißig und lautstark versuchten, es zu treffen, saß ich am Rande des Wassers, stocherte mit einem Stock im Schlamm und dachte über das nach, was wir an jenem Tag im Unterricht gehört hatten.
Die deutschstämmige Lehrerin Mrs. Smith, die eigentlich „Schmidt“ hieß, hatte ein neues Thema begonnen – Indianer! Die noch junge Geschichte der amerikanischen Nation sei unteilbar und in besonderer Art und Weise mit den Stämmen der Ureinwohner des Kontinents verbunden, sagte sie. Daher betrachte sie es als besonders wichtig, auch deren Schicksale näher zu beleuchten.
Also hatten wir über die Indianerstämme gesprochen, die früher auch hier, im Gebiet des Staates Missouri, gelebt hatten und nun noch weiter nach Westen ausgewichen waren. Mrs. Smith hatte viele interessante Dinge über die Indianer berichtet.
Wenn man es ehrlich betrachte, meinte sie, habe man die Ureinwohner nach und nach immer weiter nach Westen verdrängt. Wo sich der Indianer das nicht habe gefallen lassen, sei man rücksichtslos gegen ihn vorgegangen. Der Weiße Mann habe sich das Recht herausgenommen, überall im Indianerland seine Siedlungen zu errichten, Farmen anzulegen, nach Bodenschätzen zu schürfen und damit die Indianer immer wieder zu zwingen, auf ihre angestammten Rechte und Teile ihres Landes zu verzichten.
Auf dem Weg zum Fluss hatten wir über diese Ansichten unserer Lehrerin gesprochen. Die Anderen hielten es mit der Meinung Ihrer Eltern; es sei ja nun einmal so, dass Amerika genug Platz für alle biete. Wo Land nicht bestellt werde, Bodenschätze nicht gehoben oder Tiere nicht bejagt würden, sei es doch des Weißen gutes Recht, dieses zu tun. Wenn die Rothäute das nicht dulden wollten, müssten sie eben weichen.
Ich war mir da nicht so sicher. Wer gab uns denn das Recht, uns einfach zu nehmen, was der Indianer seit Jahrhunderten, wenn nicht gar Jahrtausenden sein Eigen nannte? Und auch wenn er dem Weißen Mann zunächst freundlich begegnete und ein friedliches Miteinander anstrebte, konnten wir doch daraus keine Ansprüche ableiten. Das war so ungefähr, was ich damals darüber dachte.
Ich hatte also, wie so oft, eine andere Meinung, als meine Kameraden. In der letzten Zeit war es häufig so gewesen, dass ich mich absonderte und über Dinge, die ich gehört oder gelesen hatte, nachdachte. Oft wurde ich damit aufgezogen, wieder einmal den Philosophen zu geben. Einer meiner Kameraden hatte mir schon den Spitznamen Diogenes verpasst, in Anlehnung an den griechischen Philosophen in der Tonne.
Vermutlich gaben sie sich nur noch mir ab, weil ich mit der Slingshot immer das Ziel traf. Nun, ich war wohl anders, als die anderen Jungs meines Alters, aber es machte mir nichts aus.
An diesem Nachmittag kreisten meine Gedanken also noch länger um die Ungerechtigkeiten gegenüber den Ureinwohnern Amerikas, wobei ich allerdings zugestehen muss, dass mich das Problem zuvor nicht sonderlich beschäftigt hatte.
Wir waren ja nur junge Menschen, die in diesem neuen Land aufwuchsen und die ihre Welt eben nicht in Frage stellten. Lediglich wenn, so wie heute unsere Lehrerin, jemand über den Roten Mann sprach, beschäftigten mich diese Dinge. Doch als ich am jenem Abend nach Hause kam, sollte sich das schlagartig ändern.
Nach Hause? – Nun, ich wohnte bei meinem Ziehvater –einem Mann namens Jonathan Wallace. Dieser war Bankier, dessen eigenes Bankhaus sich auf der Firestreet in Jefferson City befand.
Er war ein Verwandter, der mich nach dem Tode meines Vaters zu sich genommen hatte. So hatte ich jedenfalls bis heute geglaubt. Obwohl ich keine Erinnerung an meine Eltern hatte, hatte er nie versucht, den Eindruck zu erwecken, mein wirklicher Vater zu sein. Was meine Mutter betraf, dachte ich, dass sie meinen Vater und mich nach meiner Geburt verlassen hatte, um ein Leben in einer der großen Städte im Osten zu führen.
Bei Mr. Wallace hatte ich es immer gutgehabt, dennoch fühlte ich mich manchmal fehl am Platze. Er war alleinstehend und beschäftigte eine Haushälterin und anderes Personal, welches ihm Haus und Hof führte. Die Haushälterin, Mrs. Pittney, sollte sich neben ihren häuslichen Pflichten auch um mich kümmern und so war sie für mich so etwas wie ein Mutterersatz. Doch genau wie Mr. Wallace war auch sie eben nur das, … ein Ersatz. Obwohl beide sich wirklich Mühe gaben, spürte ich instinktiv das etwas fehlte --- nämlich das Gefühl von Familie.
An diesem Abend benahm Mrs. Pittney sich anders als sonst. Als sie mir die Tür öffnete, um mich einzulassen, schaute sie mich kaum an und war ganz in Gedanken versunken. Sonst schimpfte sie mich eigentlich immer aus, weil meine Stiefel schmutzig waren, ich unpünktlich war oder sonst irgendeine ungeschriebene Hausregel verletzt hatte. Sie meinte das zwar nie im Ernst, doch legte sie eben Wert auf bestimmte Regeln, was ja auch in Ordnung war.
Diesmal blieb ich jedoch von diesen Regeln verschont. Mit kaum zu deutender Miene, sagte sie mir nur, dass ich um sieben Uhr zum Abendessen erscheinen solle. Mr. Wallace sei auch schon zu Hause und wünsche heute mit mir gemeinsam zu speisen.
Dies war nicht zwar ungewöhnlich, aber auch nicht unbedingt die Regel. Mr. Wallace saß oft noch des Abends im Bankhaus über den Büchern. Die Aufforderung zum gemeinsamen Abendessen fiel mir aber nur auf, weil sie von Mrs. Pittney so betont wurde.
So wusch ich mir also zunächst die Hände und kämmte mir widerwillig das Haar, um zivilisiert, wie Mrs. Pittney sich ausdrückte, zum Abendessen zu erscheinen. Sie stand daneben und überwachte meine Bemühungen. Seit einiger Zeit ließ ich es mir nicht mehr gefallen, dass sie das Kämmen übernahm. Sie war darüber zwar nicht glücklich, aber es kam mir für den jungen Mann, als den ich mich inzwischen sah, albern vor.
Mr. Wallace saß bereits am Kopfende des langen Tisches und wartete auf mich. Als ich hereinkam, stand er nicht wie sonst auf, um meinen Stuhl am Tisch zurecht zu rücken und schon einige Fragen zu meinen Tageserlebnissen zu stellen. Er blieb dagegen sitzen und schaute abwesend aus dem Fenster. Anscheinend bemerkte er gar nicht, dass ich den Raum betreten hatte.
Ich ging also einige Schritte auf meinen Platz zu seiner Linken zu und endlich war er doch aufmerksam geworden.
„Junge“, sagte er, „schön, dass du kommst. Wie war dein Tag?“
„Gut!“, antwortete ich. „War mit den anderen Jungs am Fluss, haben Nager gejagt!“
„Und? Erfolg gehabt?“, fragte er.
„Hmh, einige von uns müssen wohl noch viel üben.“
„Nun, ich denke, das ist kein Beinbruch. Meister fallen eben nicht vom Himmel!“
Er lachte und fuhr mir mit der Hand durchs Haar. Meine Anstrengungen, zivilisiert zu erscheinen, waren damit zunichtegemacht.
Ich spürte, wie meine innere Anspannung nachließ, war ich doch zunächst auf der Hut gewesen, weil Mrs. Pittneys und auch Mr. Wallace‘ Verhalten so auffällig anders gewesen war. Es war wohl doch nur Einbildung gewesen.
Tom, der dunkelhäutige Diener, trug das Essen auf und Mr. Wallace fragte nach dem Unterricht und nach Mrs. Smith, der Lehrerin. Ich erzählte ihm von dem, was sie heute über die Indianer gesagt hatte. Dies tat ich, weil ich wusste, dass er viel lieber etwas über Mrs. Smith selbst erfahren hätte, wusste ich doch, dass er sie heimlich verehrte.
Sie war mit ihrem Mann aus Deutschland in die neue Welt gekommen. Wie all die anderen Auswanderer auch, hatten sie sich, in Ellis Island - New York - registrieren lassen und dort den Namen „Smith“ verpasst bekommen. Das deutsche „Schmidt“ wollte dem Beamten der Einwanderungsbehörde wohl nicht über die Lippen oder auf das Formular.
Auf dem Treck vom Osten nach Jefferson City hatte Mrs. Smith ihren Mann während eines Scharmützels mit einigen Kriegern der Osagen verloren. Bei der Begegnung mit den Indianern hatte einer der Scouts, die den Treck führten, die Nerven verloren, einen der Krieger angegriffen und verletzt. Bevor der Anführer der Osagen es verhindern konnte, hatte ein anderer der Krieger einen Pfeil abgeschossen, den Scout aber verfehlt und den dahinter haltenden Mr. Smith getroffen.
Trotz der Hilfe des Anführers der Osagen, erlag Mr. Smith seinen Verletzungen. All dies hatte sich vor ungefähr einem Jahr ereignet und es schickte sich einfach nicht, der Witwe schon jetzt „den Hof zu machen“. Also blieb Mr. Wallace zurückhaltend und wartete ab.
Jetzt versuchte er aber nicht, wie es sonst üblich war, mehr über Mrs. Smith zu hören, sondern folgte meinen Ausführungen über die Indianer. Als ich geendet hatte, nickte er vielsagend und schaute mich durchdringend an.
„Und was hältst du davon?“, fragte er mich. Ich gab zurück:
„Was soll ich sagen? Ich meine, dass wir uns hier auf dem Gebiet der Indianer breitgemacht haben, ohne erst um Erlaubnis zu bitten. Anfangs kamen ein paar Farmer, in denen die meisten Stämme wohl keine Feinde gesehen haben. Jetzt kommen immer mehr Weiße aus dem Osten und breiten sich aus. Wenn der Indianer sich beschwert, wird Ihm ewiger Friede angeboten, wenn sie sich in einem bestimmten Territorium aufhalten und ihr bisheriges Land für billigen Tand oder kleinste Geldsummen abtreten. Wehren Sie sich, so werden sie mit Gewalt vertrieben. Ich denke nicht, dass das gerecht ist.“
Wallace antwortete:
„Zumal dieser ewige Friede meist nur kurze Zeit hält. Bis der Weiße glaubt, er könne auch das nächste Stück Land besser nutzen als der Wilde. Dann zwingt man die Roten zu neuen Verhandlungen und drängt sie noch weiter zurück. Du hast recht, Junge; Gerecht ist das bei Gott nicht!“
„Warum fragst du so, Onkel?“ ... dies war meine übliche Anrede für Mr. Wallace.
„Nun, ich denke, ich muss mit dir über deine Familie und deine Herkunft reden! Du scheinst mir alt genug zu sein, um die Zusammenhänge zu verstehen.“
„Was für Zusammenhänge und was hat meine Familie mit deiner Frage nach den Indianern zu tun?“
„Hmh,“ machte er, „du bekommst jetzt Antworten auf diese Fragen, auch auf jene, welche du bisher gar nicht gestellt hast, die du aber wohl bald stellen würdest.
Ich möchte zunächst, dass du weißt, dass du für mich wie ein Sohn bist und dass ich hoffe, dass diese Antworten an unserem Verhältnis nichts verändern. Es wird Zeit reinen Tisch zu machen!“
„Reinen Tisch? Muss ich mir Sorgen machen? Ich möchte lieber gar nichts hören, wenn du so etwas sagst.“
„Nun, so müssen wir es darauf ankommen lassen. Ich kann diese Geschichte nicht ewig verheimlichen und ich möchte mir später nicht vorwerfen müssen, dich zu lange im Unklaren gelassen zu haben. Ich möchte also, dass du mir jetzt genau zuhörst und mich nicht unterbrichst. Du kannst nachher Fragen stellen, wenn du das willst, in Ordnung?“
„Wenn es sein muss?“, gab ich zurück, obwohl ich jetzt doch neugierig geworden war.
Also erzählte er die Geschichte meiner Familie, soweit sie ihm bekannt war. Ich konnte erst gar nicht glauben, was ich da zu hören bekam, stellte es doch meine ganze bisherige Welt auf den Kopf. Ich gebe die Geschichte hier so wieder, wie Mr. Wallace sie mir an jenem Abend erzählte.
Er begann mit einem Indianer vom Stamme der Moqui2, die im nordöstlichen Arizona lebten und den Pueblo-Indianern zuzurechnen waren. Dieser Indianer war bei seinem Stamm ein heiliger Mann, also in etwa das, was man allgemein, auch bei den meisten Indianer-Stämmen, Medizinmann nannte.
Er hatte großen Einfluss auf sein Volk, den größten aber wohl innerhalb des Pueblodorfes in dem er lebte. Die Moqui lebten in einer Gemeinschaft, die aus fünfundzwanzig Dörfern bestand. Jener Stamm war nicht als sonderlich kriegerisch bekannt. Weiße Methodisten, Baptisten aber auch Mormonen und andere Scharlatane versuchten, die Moqui zu missionieren.
Weil Ikwehtsi'pa3, so hieß der Indianer, großen Einfluss auf sein Volk hatte, wurde er mehrfach Hauptziel solcher Bekehrungsversuche. Diese blieben aber alle fruchtlos - bis zu dem Tag, an dem er auf einer seiner Wanderungen in die Berge ging, um dort innere Einkehr zu finden und er einem Weißen das Leben rettete.
Diesem Weißen war an jenem Tag das Pferd durchgegangen. Er hatte den Halt verloren, war vom Pferd gefallen, wobei sein linker Fuß noch im Steigbügel feststeckte. So wurde er von dem Tier mitgeschleift. Das nicht mehr auf Zurufe reagierende Pferd sprengte auf den Rand einer Seitenschlucht des Grand Canyons zu, drohte darüber hinauszuschießen und seinen Reiter mit in die Tiefe zu reißen.
Ikwehtsi'pa erkannte die Lage schnell. Er trug eine von diesen alten einschüssigen Kentucky-Rifles, die bereits geladen war. Er steckte noch das Zündhütchen auf und legte auf das Pferd an. Sein Schuss traf das arme Tier durch die linke Flanke ins Herz. Es machte noch einige Sprünge weiter auf die Schlucht zu, brach dann aber doch kurz vor dem Abgrund zusammen.
Es begrub den Reiter halb unter sich, so dass die Befreiung des Mannes schwere Arbeit für Ikwehtsi'pa war. Der Weiße hatte nur leichte aber doch schmerzhafte Verletzungen davongetragen. So hatte er einige Prellungen erlitten und sein Fußgelenk war ausgerenkt worden.
Als Ikwehtsi'pa Anstalten machte, das Gelenk wieder einzurenken, bemächtigte sich des Mannes eine Ohnmacht, wegen der nun noch schlimmeren Schmerzen. Die sofortige Behandlung war aber dennoch notwendig gewesen, wenn der Reiter keine bleibenden Behinderungen behalten sollte.
Ikwehtsi'pa trug den Weißen den weiten Weg zu seinem Dorf und in sein Pueblo, um sich dessen Heilung anzunehmen. Der Mann erholte sich schnell unter den aufmerksamen Augen und Händen des Medizinmannes. Dieser Weiße hieß Martin Wagner und war ein Deutscher. Martin blieb länger bei den Moqui, als zu seiner Genesung notwendig gewesen wäre. Er erzählte Ikwehtsi'pa nach und nach seine eigene Geschichte.
In seiner Heimat war er zur Zeit der politischen Gärung als „Demokrat“ gegen die Restauratoren um den Fürsten Metternich offen auf dem sogenannten Hambacher Fest aufgetreten. Hier hatten die Oppositionellen im zersplitterten Deutschland getagt. Diese offene Opposition gegen die Mächtigen im Deutschen Bund betrieb er als Vertreter der katholischen Kirche, nämlich als Berater seines Bischofs. Darüber war er bei jenem Bischof in Ungnade gefallen und sollte deshalb das Bistum, oder noch besser gleich den Deutschen Bund, wie von der Kurie gefordert, verlassen. So wurde er in die Vereinigten Staaten geschickt, um hier die Wilden zu missionieren.
Zunächst war er in Michigan zu den Ojibwa4 gekommen. Die brutalen Methoden der Missionare waren ihm aber schon nach kurzer Zeit ein Gräuel. Briefe an seinen Bischof vermochten nichts an der Situation zu verändern. Dies veranlasste ihn letztlich, der Kirche den Rücken zu kehren und nach St. Louis zu gehen, um sich dort Arbeit zu suchen.
Solche war schnell gefunden – im Auftrag eines Pelzhändlers schloss er sich einigen Traders5 an, die von einem Scout auf dem Santa Fé-Trail, durch das Indianerland geleitet wurden. Sie wollten am Ende des Trails ihre Waren in Nuevo-Mexico und Texas an den Mann bringen.
Zwei Monate war der Treck unterwegs gewesen und zuletzt hatte man den Handelsposten Santa Fé aufgesucht. Als man diesen wieder verließ, um den Rückweg unter die Hufe zu nehmen, wurden die Pelzhändler kurz darauf von Capote-Utah angegriffen und aufgerieben. Martin äußerte die Vermutung, dass er den Utah als einziger entkommen war. Er streifte also hungernd allein durch die Berge und Täler und war dabei zu guter Letzt auf Ikwehtsi'pa gestoßen.
Warum sein Pferd durchgegangen war, wusste er nicht mehr. Er hatte einige Tage kein Wild mehr schießen können, weil ihm die Munition ausgegangen war und so war er kurz vor dem Verschmachten gewesen.
Zwischen Ikwehtsi'pa und Martin entwickelte sich eine tiefe Freundschaft und mehr und mehr übernahm der Indianer die Anschauungen seines weißen Freundes. Jenem kam es gar nicht darauf an, zu missionieren. Er gab einfach in seinem Verhalten und in den Gesprächen ein gutes Beispiel eines Christenmenschen im besten Wortsinne ab.
Waren alle bisherigen Versuche spanischer Missionare an Ikwehtsi'pa und den Seinen gescheitert, fand hier eine „schleichende“ Christianisierung statt, die umso tiefer und überzeugender wirkte, als dass sie nicht aufgezwungen wurde.
Ikwehtsi'pa entwickelte eine solche Überzeugung und einen tiefen Glauben an Gott, dass er Christ wurde. Als Martin die Moqui wieder verließ, hatte er mehr als nur eine Saat gepflanzt, hier ging bereits eine ganze Ernte auf. Indem er Ikwehtsi'pa zu einem Christen werden ließ, hatte er einen Streiter für die Gerechtigkeit und Güte in die indianische Wildnis gepflanzt, wie es keinen zweiten geben würde.
Ikwehtsi'pa wanderte in den folgenden Jahren, in der Begleitung seiner beiden Schwestern Tehua6 und Tokbela7 zu den Stämmen und den weißen und mexikanischen Siedlern, um dort Gerechtigkeit und das Christentum zu predigen. Bald war er im gesamten Südwesten der späteren Staaten als Padre Diterico oder Bruder Derrick bekannt. Denn den Namen Derrick hatte er sich selbst als christlichen Vornamen gegeben.
Hier unterbrach ich die Erzählung und fragte:
„Was willst du mir mit dieser Geschichte sagen? Was geht mich dieser Ikwehtsi'pa an?“
„Geduld, Leo! Du wirst gleich noch sehen, warum ich dir das alles erzähle!“
Er fuhr also mit der Erzählung fort und so vernahm ich das Folgende:
Eines Tages verschlug es die drei indianischen Geschwister nach Santa Fé, wo der Padre Diterico als Prediger auftrat. Tehua traf dort den Tuchhändler Bender aus Boston und verliebte sich in ihn. Als Derrick später beschloss, sich das Wissen und die Kenntnisse eines Weißen anzueignen, um als Prediger auch in anderen Teilen Nordamerikas ernst genommen zu werden, ging er zusammen mit seinen Schwestern, die die christlichen Namen Emily und Ellen angenommen hatten, an die Ostküste nach Boston, um dort an einem College zu studieren.
Emily-Tehua traf dort Edward Bender wieder und die beiden beschlossen zu heiraten, doch zuvor sollte die Indianerin die Umgangsformen einer weißen Frau erlernen. Zu diesem Zweck kam sie mit ihrer Schwester Ellen-Tokbela in eine Pension, wo Bender sie regelmäßig besuchte.
Noch vor der Hochzeit, die knapp ein Jahr später stattfand, brachte Emily einen Sohn zur Welt. Ein Jahr nach der Trauung bekamen sie ein weiteres Kind. Die Kinder trugen die Namen Leo und Fred. Es handelte sich, wie Mr. Wallace an dieser Stelle betonte, --- um meinen kleineren Bruder und mich selbst.
Hier erfuhr ich also nun, dass ich ein Halbblut war, der Sohn einer Moqui und eines Yankees aus Boston. Da ich an meine Eltern selbst keine Erinnerungen hatte - ich war kaum drei Jahre alt, als sich die im Weiteren beschriebenen Ereignisse zutrugen - hatte man mich bisher glauben gemacht, dass mein Vater, wie Mr. Smith, bei einem Indianerüberfall auf dem Treck in den Westen umgekommen sei und Mr. Wallace, als einziger erwachsener Überlebender dieses Trecks, mich adoptiert hatte.
Ebenso bekam ich nun zu hören, dass ich einen jüngeren Bruder - Fred - hatte. Wie ich aber gleich erfahren sollte, war der derzeitige Aufenthalt meines Bruders nicht bekannt. Nicht einmal wusste irgendjemand, ob er überhaupt noch am Leben war.
Es ist wohl leicht, sich vorzustellen, dass ich durch diese Eröffnungen meines Ziehvaters wie „vor den Kopf geschlagen“ war. Dies mochte auch er einsehen und so unterbrach er seinen Bericht an dieser Stelle und fragte mich, wie es mir gehe und ob er weitersprechen solle.
Ich schaute ihn nur an und stammelte:
„Wie konntest du -- mir das --- all die Jahre --- verschweigen?“
Er antwortete nicht direkt, sondern meinte, ich solle mir nun auch noch den Rest der Geschichte anhören, dann würde ich vielleicht verstehen und ihm, wie er hoffte, vergeben können.
Die Arme auf den Tisch gestützt und die Hände vor der Stirn geballt saß ich da und fühlte mich wie im freien Fall. Da ich nicht wusste, wie ich meine aufwallenden Gefühle in Worte fassen sollte, schwieg ich nur.
Er fasste dies als Aufforderung auf, mit der Geschichte fortzufahren.
Mit ihren Geschwistern Ellen und Derrick lebte meine Mutter Emily jetzt im Haushalt meines Vaters, des Tuchhändlers Bender. Zu dieser Zeit ging dort auch ein Stiefbruder meines Vaters, ein gewisser John Bender, ein und aus. Er arbeitete auch in dem Handel meines Vaters.
Er trug damals den Namen seines Stiefvaters –Bender- und den Vornamen nach einem verstorbenen Erstgeborenen des Stiefvaters. Eigentlich hieß er Daniel (oder auch Dan) Etters. Zur damaligen Zeit wurde er aber immer nur John Bender genannt. John begehrte meine Mutter und wollte sie meinem Vater abspenstig machen.
Meine Mutter wies den Nebenbuhler ab, was ihn neidisch und missgünstig gegen meinen Vater werden ließ. In der Folgezeit brachte er des Öfteren seinen Kumpan, einen Mann namens Lothair Thibaut, mit in das Haus meines Vaters. Thibaut bandelte mit meiner Tante Ellen (oder Tokbela) an und sie verliebte sich in ihn.
Später fand mein Vater heraus, dass jener Thibaut ein Trickbetrüger und Falschmünzer war und verwies ihn darum des Hauses. Etters und Thibaut verließen daraufhin das Geschäft und den Haushalt meines Vaters, wobei Etters ihm bittere Rache zuschwor.
Auf Betreiben Etters‘, war es für Thibaut ein leichtes, Dokumente zu fälschen und meinen Eltern und Derrick Beweise für Falschmünzerei unterzuschieben.
Die beiden Schurken zeigten meine Eltern und Derrick danach selbst an. Sie hatten die vermeintlichen Beweise so geschickt platziert, dass alle drei tatsächlich angeklagt und zu vielen Jahren Zuchthaus verurteilt wurden.
Das Geschäft wurde von Etters weitergeführt. Mein Vater hatte dies nicht verhindern können. Fred und ich kamen zu unserer Tante Ellen, die sich um uns kümmerte, als wären wir ihre eigenen Kinder.
Wir wohnten wieder in jener Pension, in der meine Mutter und Ellen vor der Heirat untergebracht waren. Thibaut machte sich wieder an meine Tante heran und diese versprach nun, ihn zu heiraten, wenn er meine Eltern befreite. Also bestach er, zusammen mit Etters, einen Gefängniswärter, welcher mit Derrick floh.
Dieser Wärter war --- Mr. Wallace, der damals noch Beckett hieß. Er hatte mit dem Häftling gemeinsam fliehen müssen, weil es ihm nicht gelungen war, die Flucht so einzurichten, dass kein Verdacht auf ihn fallen konnte.
Jetzt schaute ich auf, … was hatte Mr. Wallace da gerade gesagt? Er war der bestochene Gefängniswärter?
„Warum hast du nicht auch meine Eltern befreit? Warum nur Derrick?“, fragte ich erregt.
Er antwortete:
„Ich wusste zunächst gar nichts über deine Eltern. Und selbst wenn ich über sie Bescheid gewusst hätte, wäre es mir nicht möglich gewesen, auch sie zu befreien. Deine Mutter war in einem gesonderten Trakt für weibliche Gefangene untergebracht und dein Vater befand sich in einem anderen Gebäudeteil. Dort war ich nicht eingeteilt.“
„Aber du weißt, was aus ihnen geworden ist, oder? Du musst es wissen!“, rief ich flehentlich.
Er sah mich mit unergründlichem Blick an und bat mich, mit seiner Erzählung fortfahren zu dürfen, ich würde dann alles erfahren. Also nickte ich und setzte mich wieder wie zuvor an den Tisch und hörte angespannt zu.
Etters und Thibaut war es allein darauf angekommen, Derrick befreien zu lassen, weil Etters wusste, dass Derrick einige Goldfundstellen kannte. Sie wollten also über ihn an Gold kommen.
Als Derrick zusammen mit dem späteren Mr. Wallace floh, nahm er meine Tante Ellen und uns Kinder mit. Ziel der Flucht war Taos, damals noch auf mexikanischem Territorium, wo er uns unter dem Schutz Mr. Wallace‘ zurückließ. Er selbst ging noch weiter in die Felsenberge, um Gold zu holen. Damit wollte er seinen Retter belohnen und dann auch meine Eltern befreien.
Mr. Wallace ahnte nicht, dass Derrick ihn für seine Rettung belohnen wollte. Er gestand also dem „Geretteten“, dass er bestochen worden sei, um ihn zu befreien. Er sagte Derrick, dass Etters und Thibaut ihm erzählt hätten, sie seien von der Unschuld des als Padre Diterico bekannten indianischen Predigers überzeugt, könnten aber keine Beweise für dessen Unschuld erbringen. Daher hätten sie sich entschieden, zu versuchen, den Prediger auf diesem Wege frei zu bekommen.
Mr. Wallace hatte die Geschichte über den „Padre“ so überzeugend gefunden, dass er Etters und Thibaut geglaubt und sich zunächst nichts dabei gedacht hatte, an der Befreiung eines solchen Mannes mitzuwirken.
Schließlich hatte er Derrick ja in der Haft kennengelernt und so erschien es ihm nur allzu plausibel, dass es sich hier um einen Justizirrtum handeln konnte. Später seien ihm aber doch Zweifel gekommen, weil er Geld genommen hatte und weil dieser Umstand ihm ins Gewissen biss.
Derrick hatte auf dieses Geständnis nur erwidert, dass er die Zusammenhänge schon geahnt habe. Da Mr. Wallace das Bestechungsgeld nicht mehr haben wollte, redete Derrick ihm zu, dass er es behalten solle. Es seien üble Verbrecher und Verleumder gewesen, die ihm dieses angedient hätten und er brauche sich daher wegen des Besitzes nicht zu grämen. Dass er ein ehrlicher Mann sei, habe er soeben durch sein Geständnis bewiesen.
Derrick teilte ihm nun mit, dass er weiter hinauf in das Felsengebirge gehen wolle, um Gold zu holen und möglichst mithilfe desselben auch meine Eltern frei zu bekommen. Mr. Wallace, der jetzt gründlicher über die Zusammenhänge der Bestechung und der Flucht Derricks nachgedacht hatte, bat ihn, nicht in die Berge zu gehen. Er stand zu vermuten, dass die Schurken Derrick auflauern würden, um an das Gold zu kommen. Dies musste der wahre Grund sein, warum Etters und Thibaut nur Derrick hatten frei haben wollen.
Diese Bedenken zerstreute Derrick jedoch. Schließlich könne niemand wissen, wohin Mr. Wallace und er geflohen seien. Daher könnten Etters und Thibaut den von Mr. Wallace vermuteten Plan nicht in die Tat umsetzen.
Dagegen gab es zunächst nichts vorzubringen. Also ließ Derrick uns Kinder und Ellen in Mr. Wallace‘ Obhut und machte sich auf den Weg.