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Ein Aufruf zur geistlichen Elternschaft

Anscheinend brauchte die Gemeinde in Korinth ein Stück Extra-Ermutigung durch Paulus, um in Liebe die Verantwortung der geistlichen Elternschaft auf sich zu nehmen. Paulus ermahnte die Gemeinde, dieses Bedürfnis nicht aus den Augen zu verlieren: „Denn wenn ihr zehntausend Zuchtmeister in Christus hättet, so doch nicht viele Väter“ (1 Kor 4,15).

Paulus sah, dass es im geistlichen Leben der Korinther viele Lehrmeister, aber nur wenige geistliche Mentoren gab. Seit Paulus sie zum Glauben an Christus gerufen hatte, hatten viele Lehrer die Korinther im Wort Gottes unterwiesen. Sie hatten auf diese Lehrer gehört und treu die Gemeindeveranstaltungen besucht, doch schließlich machte all ihr Bibelwissen sie überheblich (vgl. V. 18). Sie waren voller Stolz auf ihr Wissen und doch unreif im Glauben. Was ihnen fehlte, waren echte Eltern oder Mentoren, die ihnen durch praktische Anleitung und Unterstützung geholfen hätten, ihr Wissen ins wirkliche Leben umzusetzen.

Paulus wusste: Wenn die Gemeinde geistlich wachsen sollte, mussten alle Gläubige in lebendigen Beziehungen zu anderen stehen, die den Weg des Glaubens vor ihnen gegangen waren. Sonst würden sie sich damit zufriedengeben zu tun, was die „Lehrmeister“ ihnen sagten, statt dass sie lernten, selbst auf Gott zu hören. Solcherlei Weisheit konnten sie nur erwerben, wenn sie einen liebenden geistlichen Vater als Mentor hatten. Damit dieser Prozess rasch in Gang kam, kündigte Paulus den Korinthern an, er werde Timotheus zu ihnen senden – „der wird euch erinnern an meine Wege in Christus“ (4,17). Timotheus, geliebter und vertrauenswürdiger geistlicher Sohn des Paulus, war von diesem trainiert worden und würde jetzt anreisen, um seinerseits die Korinther zu trainieren. Paulus traute es Timotheus zu, die eigensinnige korinthische Gemeinde auf den rechten Weg zurückzuführen, weil er ihn wie einen Sohn herangezogen hatte. Timotheus war bereit, als geistlicher Vater der korinthischen Gemeinde das weiterzugeben, was er selbst an Vaterschaft empfangen hatte. Ausgehend von dem Beispiel des Paulus und des Timotheus würde die korinthische Gemeinde schon bald ihre eigenen geistlichen Söhne und Töchter hervorbringen. Paulus war davon überzeugt: Wenn gläubige Menschen gute Vorbilder in geistlicher Vaterschaft erleben, werden sie zugerüstet, ein Vermächtnis an die nächste Generation weiterzugeben.

Das geistliche Wachstum der Gläubigen in der Gemeinde von Korinth stockte aufgrund eines Mangels an reifer Leiterschaft. Nicht zugerüstet, um geistlich zu wachsen, mussten sie um ihre Identität in Christus ringen. Sie wussten nicht, wer sie im Herrn waren. In Ermangelung wahrer geistlicher Väter, die Vaterschaft hätten vorleben können, hatte sich die korinthische Gemeinde zu einem System entwickelt, das Programme und Lehrer hervorbrachte, statt zu einer Familie, aus der Söhne und Töchter hervorgingen.

Da sie ihre Identität nicht auf Christus gegründet hatten, suchten die Korinther sie in ihrem jeweiligen Lieblingsleiter: „Ich bin des Paulus … Ich des Apollos“ (1 Kor 3,4). Paulus tadelte die korinthische Gemeinde ob ihres Mangels an Reife und machte klar, dass Menschen zwar eine Rolle zu spielen haben, aber doch nur Gott allein die Quelle alles Guten ist, sodass die Menschen ausschließlich ihm folgen sollten. Was sie wirklich brauchten, waren geistliche Väter und Mütter, die gut auf sie aufpassten und sie auf dem Weg zur Reife anspornten. Sie brauchten geistliche Eltern, die in sie investierten in der Erwartung, dass sie am Ende selbst zu geistlichen Eltern würden. Daraus würde eine geistliche Ernte aus gläubigen Menschen mit christusfundierter Identität heranwachsen, die sich über die Generationen hinweg weiter multiplizieren würde.

Gott will geistliche Eltern hervorbringen, die bereit sind, geistliche Kinder großzuziehen, und diesen helfen, selbst geistliche Eltern zu werden. Darin erfüllt sich die Verheißung des Herrn, „das Herz der Väter zu den Söhnen und das Herz der Söhne zu ihren Vätern umkehren [zu] lassen“ (Mal 3,24). Der Herr stellt die Harmonie zwischen Vätern und ihren Kindern wieder her, und zwar sowohl im natürlichen als auch im geistlichen Sinne, damit Eltern unbeschwert ihr Erbe an die nächste Generation weiterreichen können. Kinder brauchen Eltern, die sie darin unterstützen, charakterlich stark zu werden, und ihnen immer wieder versichern, dass sie wertvolle Gaben Gottes sind. Und Kinder, die heranreifen, müssen dann ihrerseits die nächste Generation aufziehen.

Jeder ist berufen, Mentor zu sein: Wir werden als Kinder großgezogen, damit wir Eltern werden.

1 Erik Johnson, How to Be an Effective Mentor, Christianity Today 21, 2000, S. 36. Internetquelle: www.christianitytoday.com/biblestudies/areas/biblestudies/articles/le-2000-002-5.36.html (Zugriff Januar 2007).

2 Ebd.

3 Etwa: „In Verbindung leben. Die Mentorenbeziehungen, die Sie brauchen, um im Leben Erfolg zu haben“ – Anm. d. Übersetzers.

4 Paul D. Stanley / J. Robert Clinton, Connecting: The Mentoring Relationships You Need to Succeed in Life, Colorado Springs, CO 1992, S. 11.

5 Ebd.

Kapitel 2: Geistlich investieren

Geistliche Kinder sind unser Erbe.

Wäre es nicht toll, wenn jemand Ihr Potential in Christus erkennen und sich entschließen würde, in Ihr Leben zu investieren? Was, glauben Sie, würde passieren, wenn sich mehr Christen für geistliche Elternschaftsbeziehungen zur Verfügung stellten?

Mein Freund Don Finto, langjähriger Hauptpastor der Belmont-Gemeinde in Nashville/Tennessee, hat eine große Leidenschaft dafür, jüngeren Männern im geistlichen Dienst ein Vater zu sein. Einer der berühmteren seiner „geistlichen Söhne“, der Sänger und Musiker Michael W. Smith, sagt, dass das eine tiefgreifende Auswirkung auf sein Leben gehabt habe:

Ich glaube nicht, dass ich da wäre, wo ich heute bin, wenn Don nicht gewesen wäre. Ich habe alle seine Briefe aufgehoben. Er hat mich auf so vielfältige Weise ermutigt im Blick auf mein Selbstvertrauen und darauf, wer ich im Herrn bin. Er hat Sachen aus mir rausgeholt, die sonst keiner rausholen konnte.1

Wirklich, wir haben heute in der Gemeinde Jesu ein enormes Potential für Beziehungen wie die zwischen Don und Michael. Gänse fliegen in V-förmigen Formationen, weil dabei eine Aerodynamik entsteht, die es den Vögeln ermöglicht, mehr als siebzig Prozent weiter zu fliegen, als wenn sie jeder für sich unterwegs wären. Der Flügelschlag jedes Vogels produziert Auftrieb für den jeweils dahinter fliegenden. Wird der Vogel, der vorneweg fliegt, müde, dann wechselt er die Position und ordnet sich weiter hinten in der Formation ein. Die Gänse kommen sehr viel weiter, indem sie zusammenarbeiten. Genau darum geht es in einer geistlichen Elternschaftsbeziehung: Auch kommen wir geistlich sehr viel weiter, wenn wir in familienartigen Einheiten zusammenarbeiten, um die Welt zu erreichen.

Ein geistliches Vermächtnis hinterlassen

Haben Sie schon einmal von den Shakers („Schüttlern“) gehört? Die Shaker waren eine religiöse Gruppe, deren Blütezeit im frühen 19. Jahrhundert lag und die im Osten der Vereinigten Staaten große Gemeinden aufbaute. Shaker nannte man sie, weil sie den speziellen Brauch pflegten, während ihrer Versammlungen ins Zittern zu geraten.

Heute sind die Shaker Geschichte. Die letzte und sichtbarste Spur dieser Leute sind die schlichten, solide gearbeiteten Möbel, die sie hergestellt haben. Wie kam es, dass diese einst blühende Gruppe so rasch ausstarb? Weil die Shaker an den Zölibat glaubten und ihn über die Ehe stellten. So konnten sie sich kaum vermehren. Schon bald verloren sogar die religiösen Erweckungen, die dem Shakertum viele Neubekehrte zuführten, an Schwung, und im späten 19. Jahrhundert kam es zum Niedergang der Gruppierung.

Wenn wir keine Kinder in die Welt setzen, wird unser Vermächtnis ausgebremst und wir haben eben keine Nachkommenschaft, ganz ähnlich wie die Shaker. Wenn es keine geistlichen Väter und Mütter gibt, die die nächste Generation großziehen, laufen wir ernstlich Gefahr, auszusterben. Dann bleibt nichts weiter übrig als religiöses Mobiliar, das man irgendwo in einer Ecke aufstapelt und von Zeit zu Zeit mit ebenso nostalgischen wie wehmütigen Gefühlen bewundert.

Meine erweiterte Familie versammelt sich jedes Jahr zu einem Familientreffen: Tanten, Onkel, Brüder, Schwestern, Cousins und Kusinen, Neffen und Nichten, allesamt Leute, die eine Verbindung zum Kreiderschen Familienstammbaum haben. Als meine Großeltern noch lebten, konnte ich beobachten, wie sie sich bei diesen Familientreffen immer wieder verschmitzt ansahen. Sie wussten, dass es uns alle nur ihretwegen gab, und ihre Nachkommenschaft versammelt zu sehen, verschaffte ihnen eine tiefe Befriedigung.

Der Herr möchte geistliche Familien sehen, die sich fortwährend von Generation zu Generation reproduzieren. Der Apostel Paulus dachte über vier Generationen hinweg, als er Timotheus seinen Sohn nannte und ihn ermahnte, sich seinerseits vertrauenswürdige Männer auszusuchen, an die er weitergeben konnte, was Paulus ihm anvertraut hatte: „… was du [zweite Generation] von mir [erste Generation] in Gegenwart vieler Zeugen gehört hast, das vertraue treuen Menschen an [dritte Generation], die tüchtig sein werden, auch andere [vierte Generation] zu lehren!“ (2 Tim 2,2). Paulus dachte an sein geistliches Vermächtnis und sprach als geistlicher Vater zu seinem Sohn, von dem seine geistlichen Enkel und Urenkel kommen sollten. Die gesamte Bibel ist mit einer Familienperspektive geschrieben. Für Paulus war es ganz natürlich, in der Kategorie geistlicher Nachkommenschaft zu denken, denn die biblische Gesellschaft war in Familienverbänden organisiert. Das hatte Gott so gewollt. Er hat eine Generationenperspektive, und auch wir müssen diese Sicht einnehmen.

Das eigene Erbe multiplizieren

Gott hat uns berufen, in unserer Generation geistliche Väter und Mütter zu werden. Damit verbindet sich die Erwartung, dass unsere geistlichen Kinder wieder ihre eigenen geistlichen Kinder hervorbringen werden und diese wieder andere, sodass sich unsere Nachkommenschaft beständig vermehrt.

Ihr Erbe wird aus all den geistlichen Kindern bestehen, die Sie eines Tages Jesus Christus werden vorstellen können. Egal, welcher Arbeit Sie nachgehen, ob Sie nun Hausfrau, Student, Fabrikarbeiter, Gemeindepastor, Missionar oder Chef eines großen Unternehmens sind, auf Ihnen liegen der Segen und die Verantwortung von Gott her, geistliche Kinder, Enkel und Urenkel zu gebären. Sie sind berufen, anderen das reiche Erbe weiterzugeben, das Gott verheißen hat.

Während meiner Dienstzeit als Pastor wurde ich einmal gebeten, ein Trainingsseminar zu halten, um Gemeindeleiter zu wirkungsvollen geistlichen Vätern und Müttern zuzurüsten. Veranstaltungsort des Seminars war eine seit vier Jahren bestehende Gemeinde unter dem Pastorat von Daren Laws in Lincoln, Kalifornien. Was ich dort erlebte, begeisterte mich. Über achtzig Prozent der Gemeindemitglieder waren neubekehrt. Selbst der Bürgermeister und seine Frau waren zum Glauben an Jesus gekommen. Die quicklebendige Gemeinde umfasste bereits 600 Menschen und legte ihren Schwerpunkt darauf, geistliche Väter und Mütter zu trainieren, damit sie jungen Christen dienen konnten. Daren und seine Mitarbeiter konzentrierten sich nicht auf Gemeindeprogramme, sondern auf Jesus und auf geistliche Elternschaft.

Wenn jemand zu Jesus kam, wurde er sofort zu einer Hauskirche (bzw. Kleingruppe) eingeladen. Dort wurde der neue Christ durch Beziehungen in den Leib Jesu eingebunden. Ein geistlicher Vater oder eine geistliche Mutter nährte den neuen Gläubigen so lange, bis er selbst Vater oder Mutter in Christus sein konnte. So wurde eine neue Generation von Gläubigen geboren! Diese kalifornische Gemeinde weiß, wie sie ihr Erbe vervielfachen kann.

Mir gefällt die Reaktion Abrahams, als der Herr ihm die Sterne am Himmel zeigte und ihm Nachkommen so zahlreich wie diese Sterne versprach: „Und er [Abraham] glaubte dem HERRN“ (Gen. 15,6). Was glaubte er dem Herrn? Dass er ihm ein Erbe verschaffen würde! Auch wir müssen „dem Herrn glauben“, dass er uns viele geistliche Kinder geben will. Wir dürfen Gott zutrauen, dass er es tut. Vielleicht verwirklicht es sich nicht über Nacht, aber wenn wir auf Gottes Treue vertrauen und unserer Berufung zur geistlichen Mentorenschaft gehorchen, wird es geschehen.

Nachdem ich in einer Gemeinde in Dallas/Texas gepredigt hatte, kam ein junger Mann mit einer Bibel in der Hand auf mich zugestürmt und erzählte mir seine Geschichte:

Meine Familie ist nicht christlich, aber neulich hab ich diese Bibel aufgeschlagen, die ich auf dem Couchtisch gefunden hatte. Nachdem ich darin gelesen hatte, erkannte ich, dass ich Jesus brauchte. Ich gab ihm mein Leben, und dann fuhr ich mit meiner Bibel in der Hand durch die Gegend und suchte nach einer Gemeindefamilie. Ich stieß ganz in der Nähe von zu Hause auf ein Kirchengebäude und ging hinein.

Die erste Person, der ich begegnete, war eine junge Dame. Nachdem ich ihr meine Geschichte erzählt hatte, rief sie ihren Vater herbei und sagte: „Erzählen Sie meinem Vater, was Sie mir erzählt haben.“

Der Vater hörte sich mein Zeugnis mit Interesse an und besah sich dann die Bibel, die ich in der Hand hatte. Schließlich sagte er: „Vor 15 Jahren habe ich einem Mann Zeugnis gegeben, mit dem ich beim Militär zusammen war. Er wollte den Herrn nicht annehmen, aber er ließ sich die Bibel schenken, die du gerade in der Hand hältst. Der Mann, dem ich Zeugnis gab, war dein Vater!“

Auch den Rest seiner Geschichte erzählte mir der junge Texaner noch. Mittlerweile war er mit der jungen Frau verlobt, die er in dem Gemeindehaus getroffen hatte. Beide arbeiteten mit Begeisterung als Kleingruppenleiter mit. Die geistliche Linie, die bei dem Vater der jungen Frau ihren Ausgang genommen hatte, ging also weiter. Welch eine tolle Geschichte von geistlicher Nachkommenschaft im Reich Gottes!

Familien multiplizieren sich

Der Herr möchte, dass wir fruchtbar sind und uns vermehren (vgl. 1 Mo 1,28). Unser Gott ist ein Gott der Multiplikation.

Multiplikation ist ein Naturgesetz. Auf dem Bauernhof aufwachsend, zählte ich als Junge einmal die Maiskörner an einer einzigen gesunden Pflanze. Ergebnis: 1200 Körner in der ersten Generation. Jetzt denken Sie nur: Würde man jedes dieser Körner aussäen, so hätte man in der folgenden Generation 1 440 000 Stück! Genauso multiplizieren sich gesunde Körperzellen mit dem Ergebnis, dass der Körper wächst. Eine lebende Zelle ist ständig dabei, sich zu reproduzieren.

Die frühe Kirche, von der uns die Apostelgeschichte berichtet, multiplizierte sich rapide, weil ihre Glieder in engen Beziehungen zueinander lebten – eine gesunde Aktivität und Interdependenz, in deren Ergebnis Multiplikation stand (vgl. Apg 2,47). Die Christen der Urgemeinde erkannten, wie wertvoll Kleingruppen in den Häusern waren, wenn es darum ging, Gläubige im Rahmen geistlicher Familienverbindungen zu nähren.

Da der Herr heute in seinem Reich dabei ist, geistliches Familienleben wiederherzustellen, wird sich die Gemeinde Jesu wiederum rapide multiplizieren. Wir müssen bereit sein. Wir müssen geistlichen Eltern, Söhnen und Töchtern ein angemessenes Training zukommen lassen, damit Christus in ihnen Gestalt gewinnt. In Römer 8,19 heißt es: „Denn das sehnsüchtige Harren der Schöpfung wartet auf die Offenbarung der Söhne Gottes.“ Wenn Christus in seinem Volk völlig Gestalt gewinnt, wird ein Ruck durch die Schöpfung gehen, und sie wird aufmerken!

Paulus hatte Sehnsucht nach seinen geistlichen Kindern in Thessalonich, als er ihnen schrieb: „Denn wer ist unsere Hoffnung oder Freude oder Ruhmeskranz – nicht auch ihr? – vor unserem Herrn Jesus bei seiner Ankunft? Denn ihr seid unsere Herrlichkeit und Freude“ (1 Thess 2,19-20). Einige Verse weiter vorne hatte der Apostel den Gläubigen in Thessalonich gerade mitgeteilt, dass er für sie ein geistlicher Vater sei (vgl. V. 7-11). Darauf stellte er klar, dass seine geistlichen Kinder seine Herrlichkeit und Freude waren – sein Erbe! Beim Gedanken an die geistlichen Kinder und Enkel, die er Christus vorstellen würde, freute sich Paulus wie einer, der bei sportlichen Wettkämpfen den Siegeskranz empfängt. Er wusste bis ins Mark, dass unsere geistlichen Söhne, Töchter und Enkel unsere geistliche Nachkommenschaft sind.

Vor einigen Jahren war ich auf Barbados, um Gemeindeleiter und -mitglieder zum Thema geistliche Elternschaft zu schulen. Am Tag meines Rückflugs in die USA, ehe ich zum Flughafen aufbrechen musste, lud mich der Missionar Bill Landis, der Regionalverantwortliche von „Jugend mit einer Mission“ für die Karibik, zu sich nach Hause ein. Bill, seine Familie und ein Leiterteam waren dabei, einheimische Christen zu geistlichen Leitern zuzurüsten. Als ich bei ihm zu Besuch war, erzählte Bill mir ein paar interessante geschichtliche Tatsachen über dieses winzige Inselvolk.

Er erklärte, dass viele Einwohner von Barbados einst als west­afrikanische Sklaven auf die Insel gelangt waren. Zu ihren Herkunftsländern gehörte auch Gambia. Inzwischen waren Bill und seine Mitarbeiter dabei, Christen aus Barbados als Missionare zu schulen, damit sie nach Gambia, das Land ihrer Vorfahren, zurückkehren und dort Muslime zu Jesus führen konnten. Für solch ein Vorhaben gibt es nichts Besseres als ein gemeinsames Erbe.

Dann sagte Bill etwas, das mich tief bewegte: „Larry, ist dir klar, dass die Menschen, die in Gambia erreicht werden, ein Teil deines geistlichen Erbes sind? Du warst einer meiner geistlichen Väter, deshalb hast du einen Anteil an dem Vermächtnis, das dort weitergereicht wird.“

Im Flugzeug auf dem Rückweg in die USA erkannte ich verblüfft, was Bills Worte bedeuteten. Vor vielen Jahren, lange vor meiner Zeit als Pastor, Buchautor oder Gemeindeleiter, war ich ein junger Hühnerzüchter aus Lancaster County, Pennsylvanien, der einen Jugendbibelkreis leitete. Damals war ich für Bill ein geistlicher Vater.

Bill war nun ein geistlicher Vater für die Menschen, die er auf Barbados in Jüngerschaft unterwiesen hatte. Die Leute von dort, die jetzt nach Gambia gingen, um dort Einheimische zu Christus zu führen, waren quasi meine geistlichen Enkel, und die geistlichen Kinder, die sie in Gambia gebären und heranziehen würden, würden meine geistlichen Urenkel sein. Generationen, die erst noch geboren werden sollten, würden die Verheißungen Gottes empfangen, weil vor dreißig Jahren ein Hühnerzüchter dem Ruf Gottes gehorcht hatte, einen Haufen wilder Teenager in Jüngerschaft zu unterweisen. Jawohl, dies war ein Teil meines geistlichen Vermächtnisses. Während ich über diese Tatsache nachdachte, wurde ich tief bewegt. Ich wurde mit einem großen Erbe gesegnet, das sich über meine kühnsten Träume hinaus vermehrt hatte!

Erntezeit

Wir leben in aufregenden Zeiten, was die Geschichte der Kirche angeht. Ich glaube, dass wir uns am Vorabend einer großen endzeitlichen Ernte befinden (vgl. Offb 7,9). Statistiken sagen uns, dass sich heute weitaus mehr Menschen bekehren als vor zwanzig Jahren. Keine Frage, der Wind des Heiligen Geistes durchweht unsere Welt wie nie zuvor! In den nächsten Jahren kommen wir dem letzten Kapitel der Weltgeschichte rasend schnell näher, und wir müssen uns darauf vorbereiten, dass in unseren Städten und Dörfern Hunderttausende Menschen ins Reich Gottes kommen werden.

Jesus sagt, wir sollen beständig wachsam und bereit sein: „Sagt ihr nicht: Es sind noch vier Monate, und die Ernte kommt? Siehe, ich sage euch: Hebt eure Augen auf und schaut die Felder an! Denn sie sind schon weiß zur Ernte“ (Joh 4,35). Ich bin auf einem Bauernhof aufgewachsen. Ich weiß, dass verschiedene Früchte zu verschiedenen Zeiten des Jahres geerntet werden. Wir mussten immer wachsam sein, unsere Scheunen und Maschinen in Bereitschaft halten, damit wir eine Ernte immer genau dann einholen konnten, wenn die beste Zeit dafür gekommen war.

In allen Zeitaltern hat der Herr kontinuierlich Menschen zu sich gezogen – es waren viele, die in sein Reich hinein geerntet wurden. Doch zuweilen ging ein großer Teil der Ernte verloren, weil es Christen gab, die nicht wachsam und bereit waren. Mir scheint, eine solche Riesenernte, auf die die Kirche nicht vorbereitet war, fiel in die Zeit zwischen den späten sechziger und den mittleren 1970er-Jahren: die Jesus-People-Bewegung. Diese Ernte setzte ein, als einige Christusgläubige zu den Kommunen der Hippie-Aussteiger gingen und diesen Menschen das Evangelium von Jesus Christus brachten, woraufhin sich große Zahlen von jungen Leuten aus dieser Subkultur zum Christentum bekehrten. Anfang 1971 gab es in jedem Bundesstaat bzw. jeder Provinz der Vereinigten Staaten und Kanadas Kaffeehäuser, Kommunen und verschiedenste Unternehmungen der Jesus People.

Aber weite Teile der Kirchen waren auf diesen neuen, radikalen Schlag von Christen nicht eingestellt. Die Spannungen zwischen den Jesus People und den etablierten Kirchen waren eine Quelle von Irritationen sowohl für die Jesus People, die die Kirchen als träge und in Traditionen und Gesetzlichkeit erstarrt ansahen, als auch für die Mitglieder der institutionellen Kirchen, die jene jungen Leute mit ihren langen Haaren und „Jesus-Latschen“ allzu oft überhaupt nicht verstehen konnten. Auch wenn einige Kirchen und Gemeinschaften diese Neubekehrten mit offenen Armen aufnahmen und in Jüngerschaft unterwiesen, fiel doch eine Menge neuer Gläubiger hinten runter und wurde desillusioniert – so lange, bis diese Menschen für den Leib Jesu verloren waren.

Wäre die Kirche vorbereitet gewesen und hätte sie während dieser gewaltigen Erweckung mehr Verständnis und Mitgefühl für jene jungen Leute aufgebracht, dann, so glaube ich, hätte die Ernte weitaus größer ausfallen können. Meiner Meinung nach gab es schlicht und einfach nicht genug geistliche Väter und Mütter, die willens gewesen wären, ihre Arme um diese „Jesus-Freaks“ zu legen und sie als Neugeborene in Christus so lange zu erziehen, bis sie auf eigenen Beinen hätten stehen können – ein Fehler, der uns auf keinen Fall in dieser Generation noch einmal passieren darf!

Der Herr hält Ausschau nach Tausenden geistlichen Vätern und Müttern, um jetzt die kommende Ernte vorzubereiten. Ich glaube, Mentoring ist eine von Gott gewollte Entwicklung, die unmittelbar mit dem Missionsauftrag des Herrn zu tun hat und die wir aufgreifen müssen, um das ganze Potential der großen Ernte zu realisieren. Ich glaube, Mentoring ist ein wichtiger Teil der Strategie Jesu zur Verwirklichung von Jüngerschaft; und wenn wir uns in andere investieren, wird das große Dividenden abwerfen, und zwar in Form eines multiplizierten geistlichen Erbes.

Denken Sie darüber nach: Als jemand, der „Jünger macht“, können Sie zahllose Menschen beeinflussen und durch eine anhaltend wachsende Investition die Welt verändern. Wenn Sie sich nur für einen einzigen Menschen als Mentor zur Verfügung stellen, dieser Mensch wiederum einen anderen in Jüngerschaft unterweist, der Dritte wieder einen anderen, und so jeder, der in Jüngerschaft unterwiesen wird, seinerseits einen weiteren Menschen als Mentor begleitet, ergeben sich verblüffende Multiplikationseffekte!

Sind Sie dazu bereit, Ihre Ressourcen in den Aufbau der geistlichen Kraft anderer Menschen zu investieren? Es handelt sich dabei um eine Investition, die wahrscheinlich ohne Dank bleibt und auch keine sofortigen Erträge bringt. Gott aber verspricht: Wo Sie investieren, werden Menschenleben verändert. Sie haben die Chance, so in das Leben anderer Menschen zu investieren, dass es nicht nur eine große Auswirkung auf die Welt hat, sondern ewig bleibt!

1 Jimmy Stewart, Called to Worship: The Man Behind Michael, Charisma Magazine 4/2000, S. 54 f.