Plastikspur

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Lara Elaina Whitman

Plastikspur

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Zum Buch

Eine Leiche im Wohnzimmer

Ein gelöschter Blog

Sie hätten nichts tun können

Traurige Nachricht

Ein mysteriöser Anruf

Schon wieder Überstunden

Selbstmord?

Maulkorb

Noch eine Leiche

Eine unruhige Nacht

Erinnerungen

Eine merkwürdige Postkarte

Mordversuch

Datenwust

Ein Profi

Ein dubioses Angebot

Abfahrt

Eine lange Autofahrt

Stürmische Überfahrt

Erwürgt

Die reinste Schnitzeljagd

Schlimme Folgen

Eingesackt und abtransportiert

Wo ist sie?

Eingesperrt

Tod auf der Klippe

Halsbrecherische Aktion

Entschlüsselt

Eine Spur aus Plastik

Danksagung

Über die Autorin

Romane von L. E. Whitman

Rechtliche Hinweise

Impressum neobooks

Zum Buch

Lara Elaina Whitman

Plastikspur




eBook

Thriller

Umfang: 317.494 Zeichen

Printausgabe: ca. 294 Seiten

Miriam Schlohwächter ist Journalistin bei einer regionalen Tageszeitung in Filderstadt, einer kleinen Stadt in der Nähe von Stuttgart. Dann geschieht in der Nachbargemeinde ein mysteriöser Mord an einem Umweltaktivisten. Dass die Polizei Selbstmord als Todesursache feststellt, findet Miriam merkwürdig. Irgendetwas stimmt hier ganz und gar nicht. Zusammen mit ihrer Freundin Tamara Damarow, einer Rechtsmedizinerin, beginnt die Journalistin den Fall zu recherchieren, der sie schließlich nach Helgoland führt.

Auf der Suche nach Antworten geraten die beiden Frauen immer tiefer in ein Netz aus Korruption und Mord, denn jemand hat ein Interesse daran, dass die Wahrheit nicht ans Licht kommt.


Eine Leiche im Wohnzimmer

Die Morgensonne schickte ihre warmen Strahlen über den Rand des Horizonts. Erst zeigte sich nur ein schwacher Schimmer, kühl und hell, doch dann stieg der Feuerball empor, so wie jeden Tag. Allerdings nicht um die gleiche Zeit, sondern immer um ein paar Minuten versetzt. So wurde es jeden Morgen etwas früher hell. Nicht dass Miriam Schlohwächter dies jemals bemerkt hätte, sie war ja kein Morgenmensch, deshalb war für sie der morgendliche Sonnenaufgang auch keine einzigartige Sache, so wie für ihre Freundin Tamara. Für Miriam war er eher ein Ärgernis. Sie mochte die Nacht, denn da lief sie zu Höchstform auf. Leider musste sie auch in ihrem Job morgens aufstehen, um an ihrem Arbeitsplatz zu erscheinen, wollte sie ihn behalten. Zum Glück war das nicht immer so, denn Miriam war Journalistin, freie Journalistin, und konnte somit ihre Arbeitszeit selbst festlegen. Dies tat sie auch ausgiebig und nutzte dafür am liebsten die Zeit, in der die meisten Leute vor dem Fernseher saßen, oder bereits schliefen. Doch heute war einer der Tage, an dem sie aus dem Bett musste und das in aller Herrgotts Frühe.

Es war Freitag. In der Redaktion war heute Redaktionsschluss für die Ausgabe am Samstag. Miriam hatte extra den Rollladen oben gelassen, damit sie nicht schon wieder verschlief. Die Morgensonne schien ihr nun in die Augen. Am liebsten hätte Miriam sich unter ihrer Bettdecke vergraben und weitergeschlafen, aber das ging leider nicht. Ein wenig missmutig schwang sie die Beine über den Bettrand und stand auf. Ein Kaffee würde ihr helfen. Ihr Weg führte sie deshalb als erstes in die Küche.

Ihre Küche war nicht besonders groß und hatte nur ein kleines Fenster. Miriam, die nicht besonders gerne kochte, hatte nicht viel Geld in die Ausstattung gesteckt. Es gab nur einen weiß gestrichenen Schrank, einen einfachen Herd, eine Spülmaschine, auf die sie keinesfalls verzichtet hätte, einen Kühlschrank, einen kleinen Tisch und zwei Stühle. Die meisten dieser Möbelstücke hatte sie gebraucht gekauft, aber die Zusammenstellung ging gut als shabby schick-Stil durch. An der Wand über dem Klapptisch hingen ein Kalender und ein Poster von Umberto Levis wunderschönem Venediggemälde, das sie besonders mochte. Die nächtliche Kanalszene, dunkles Wasser, morbide aussehende Häuserwände, eine Gondel, der Mond und die Wolken, hatte etwas Friedliches an sich. Den Kalender hatte Miriam von ihrer Mutter geschenkt bekommen. Es waren Katzen darauf. Ihre Mutter liebte Katzen, aber Miriam war sich sicher, dass sie sich bestimmt keine anschaffen würde. Sie war einfach zu gerne unterwegs und da waren Katzen extrem unpraktisch, da man die nicht mitnehmen konnte. Den Venedigmaler mochte sie, weil ihr die Art und Weise wie er den Farben Leuchtkraft verlieh gut gefiel und weil sie wahnsinnig gerne einmal nach Venedig fahren würde, sobald sie sich das leisten konnte. Kunst war ihre Leidenschaft, vor allem die Malerei. Miriam mochte so ziemlich alles und sie kannte sich bestens aus. Dieses Wissen hatte ihr auch ihren Zweitjob in der Galerie eingebracht.

Mit einem Seufzen drehte Miriam sich um, holte ihre Lieblingstasse aus dem Schrank und stellte den Wasserkocher an. Urlaub wäre schön, aber es ging nicht, vor allem wegen ihres chronischen Geldmangels, aber nicht nur deswegen. In letzter Zeit hatte sie ziemlich viel zu tun gehabt und deshalb entglitten ihr die Tage einfach so. Manchmal wusste sie nicht einmal mehr, welcher Wochentag eigentlich gerade war, so beschäftigt war sie. Das kennt vermutlich jeder. Schwupp ist schon wieder eine Woche vorbei und du weißt nicht, wo sie hingekommen ist. Miriam goss das kochendheiße Wasser über ihren Kaffee. Sie hatte keine Kaffeemaschine, nur einen weißen Porzellanfilter. Heiß wie er war, trank sie ihn rasch aus und verschwand dann unter die Dusche, um ihrer Morgenmüdigkeit endgültig den Garaus zu machen.

Das Telefon läutete, kaum hatte sie den Schaum aus den Haaren gewaschen. Fluchend sprang Miriam aus der Dusche, schlang sich hastig ein Handtuch um ihre tropfnassen Haare und tappte auf Zehenspitzen in den Flur. Wo war denn das Telefon schon wieder? Endlich entdeckte sie es unter einem Berg alter Zeitungen. Nach einem raschen Blick auf die Nummer, es war die Redaktion, ging sie dran.

Bevor sie etwas sagen konnte, meldete sich Karl Müller, der Redaktionsleiter der regionalen Tageszeitung, bei der Miriam arbeitete.

»Guten Morgen Miri, ausgeschlafen?«

»Karl! Es ist 8:00 Uhr«, nuschelte Miriam ins Telefon, während sie ein weiteres Handtuch um ihre Hüften schlang. Miriam konnte sich sein Grinsen im Gesicht gut vorstellen. Karl Müller wusste ganz genau, dass sie es hasste morgens so früh aufzustehen.

Karl Müller war, im Gegensatz zu Miriam, ein Frühaufsteher. Jeden Tag war er bereits um 5:00 Uhr morgens unterwegs, Kühe füttern und melken, Pflanzen gießen und was sonst noch alles anfiel, denn Karl Müller war im Nebenberuf Landwirt, da er von dem mageren Gehalt, welches ihm die Zeitung bezahlte, auch nicht leben, geschweige denn eine Familie davon ernähren konnte. In den letzten Jahren waren die Gehälter der Medienschaffenden schon wieder geschrumpft. Für Miriam, die als freie Journalistin arbeitete, war das sowieso so eine Sache mit dem Verdienst, denn bezahlt wurde sie erst, wenn sie etwas Brauchbares abgeliefert hatte. Das bedeutete zwar auch viel Freiheit, aber ohne den Zweitjob hätte sie ihren Lebensunterhalt nicht finanzieren können. Die kleine Galerie in der Innenstadt von Stuttgart, war für Miriam eine wichtige Einnahmequelle. Sie bekam zwar auch nicht viel dafür, dass sie Kunstgegenstände an den Mann, beziehungsweise an die Frau brachte und das vorzugsweise von sieben Uhr abends bis elf Uhr nachts, aber ohne diesen Job hätte sie nicht einmal ein Auto. Alles in allem kam sie über die Runden, aber toll war es nicht.

 

»Vielleicht sollte ich mir endlich einmal einen richtigen Job mit einer festen Anstellung suchen«, überlegte Miriam und rubbelte ihre Haare trocken.

Das würde aber bedeuten, ihr freies Leben aufzugeben und das mochte sie einfach zu gerne, auch wenn sie des Öfteren am Hungertuch nagte. Hoffentlich hatte Karl Müller etwas Interessantes für sie, wenn er schon so früh anrief. Er schien aber immer noch zu überlegen, wie er es sagen wollte, so lange wie er brauchte, mit der Sprache herauszurücken.

»Also, was ist los?«

Miriam warf ihr nasses Handtuch mit Schwung in die Badewanne, während sie rasch in ihre Wäsche schlüpfte. So ganz nackt wollte sie nicht telefonieren, auch wenn Karl Müller das nicht sehen konnte.

Karl Müller räusperte sich ein paar Mal, bevor er loslegte.

»Miri, es gab einen Mordfall. In Echterdingen-Stetten. Heute früh. Ein gewisser Volker Röhn. Die Polizei ist noch da. Häng dich dran!«

Miriam konnte die Hoffnung heraushören, endlich einmal über etwas anderes in dem Käseblatt, für das sie beide arbeiteten, berichten zu können, als über das nächste Hagelunwetter oder nicht abgeholten Biomüll.

Doch gleich ein Mordfall? Und sie sollte dies übernehmen? Miriam verspürte leichten Druck in ihrer Magengegend. Sollte sie jetzt etwa begeistert sein?

»Also gut, Karl. Schick mir die Adresse auf mein Smartphone. Wir sehen uns später in der Redaktion«.

Miriam blieb ein paar Sekunden stehen und starrte ihr Spiegelbild an. Eigentlich hatte sie heute vorgehabt nur kurz in die Redaktion zu gehen, danach endlich einmal einzukaufen, denn ihr Kühlschrank war ratzeleer. Danach wollte sie sich irgendwo, an irgendeinem See, eine Tasse Kaffee gönnen. Mit Karls Anruf fiel ihr Faulenzertag nun wohl ins Wasser. Wenigstens musste sie nicht weit fahren. Miriam wohnte in Filderstadt, der Nachbargemeinde von Leinfelden-Echterdingen, da lag der Tatort praktisch vor ihrer Haustür. Seufzend zog sie sich an, schnappte sich ihre Handtasche und lief die Treppe hinunter. Ihr Auto stand in der Tiefgarage. Sie tippte die Adresse in das Navi, während sie losfuhr.

Wenig später war sie an dem Haus am Ortsrand von Echterdingen-Stetten angekommen. Stetten war ein kleiner Stadtteil, der oben auf der Weidacher Höhe lag, einem vierhundertsiebzig Meter hohen Bergkamm. Hinter dem Ortsteil gab es nur noch Felder und den Wald. Auf der anderen Seite des Waldes ging es steil nach unten, in das Siebenmühlental. Der Bergkamm ragte wie ein Schiff in die Filderhochfläche hinein. Kein Wunder, dass die Kelten gefallen an dieser Gegend gefunden hatten. Der Ausblick über die Filderebene war großartig. Bei klarem Wetter konnte man von hier oben sogar die drei Kaiserberge Hohenstaufen, Rechberg und Stuifen am Rand der Schwäbischen Alb erkennen, Zeugenberge einer Jahrmillionen andauernden Verwitterung.

Die Polizei war noch da, so wie Karl gesagt hatte. Von den anderen Pressevertretern, die sich sonst an so einem Tatort herumdrückten, war nichts zu sehen. Der Tipp musste ziemlich heiß sein, den Karl Müller da bekommen hatte. Das Ermittlungsteam der Mordkommission war gerade dabei, das Haus zu sichern. Das Haus war nichts besonderes, eher einfach gehalten, schon etwas älteren Baudatums, mit einem kleinen Garten rundherum, umgeben von einem niedrigen Zaun. Frühjahrsblumen blühten auf gut gepflegten Beeten. Die Büsche waren geschnitten und mit frischem Grün übersät. Es gab nur einen einzigen hohen Baum in dem Garten hinter dem Haus. Seine Zweige ragten über das Dach hinaus, so als wollten sie es beschützen.

Miriam stellte ihr Auto am Straßenrand gegenüber ab, stieg aber nicht aus. Stattdessen überlegte sie, wie sie es anstellen sollte, in das Haus hineinzukommen. Vermutlich hatte sie gar keine Chance. Vielleicht sollte sie fahren und einen offiziellen Besichtigungstermin beantragen. Doch dann entschied sie sich anders, denn sie erspähte Bernd Obermeier an der Einfahrt zum Haus neben seinem Polizeiauto stehend. Vielleicht konnte sie doch noch einen Blick auf den Tatort werfen. Sollte sie wirklich so viel Glück haben? Bernd Obermeier war ein alter Bekannter von ihr, aus der Schulzeit, und er hatte schon seit damals eine kleine Schwäche für sie. Miriam gedachte, das ein wenig auszunutzen. Ein paar Fotos vom Tatort wären toll, bevor die Spurensicherung das Haus versiegelte. Miriam stieg aus dem Auto, zupfte ihren kurzen Rock zurecht, während sie sich verstohlen umsah. Durch die offenen Fenster des Hauses konnte sie die Leute von der Spurensicherung sehen, die offenbar gerade dabei waren zusammen zu räumen. Langsam schlenderte sie näher. Jetzt bloß nicht den falschen Eindruck erwecken. Ihre Kamera hatte sie vorsorglich nicht ausgepackt. Bernd mochte das nicht. Er wollte nicht überrumpelt werden und das konnte sie gut verstehen. Bernd sah ihr wie immer mit gespielt genervtem Gesichtsausdruck entgegen. Miriam lächelte ihn freundlich an.

»Miri, so früh?«, sagte Bernd Obermeier gedehnt, grinste aber zurück.

»Hi, Bernd. Du kennst mich doch. Wenn es etwas Interessantes gibt, dann bin ich zur Stelle. Ihr seid schon fertig?«

Miriam gab sich Mühe ihre Stimme samtig und ein wenig rauchig klingen zu lassen.

»Du kannst nicht hinein. Ist eine ziemliche Sauerei. Und nein, die Spurensicherung ist noch nicht durch.«

Er warf einen Blick zu seinen Kollegen hinüber, die gerade aus ihren Anzügen schlüpften, was seine Aussage Lügen strafte.

»Hm, für mich sehen deine Kollegen aus, als wären sie fertig. Nur ein Foto, ok?«

»Miri, du weißt, dass ich das nicht darf.«

»Du könntest bei denen dort ein Wort für mich einlegen. Immerhin ist der „Filderstädter“ eine regionale Zeitung und die Menschen kennen uns. Bitte!«

Miriam klimperte ein wenig mit den Wimpern. Nicht zu viel, sonst würde er das möglicherweise noch falsch verstehen. Immerhin wollte sie ihn nicht auf abwegige Ideen bringen. Sie mochte Bernd zwar gern, aber mehr war da nicht.

Bernd Obermeier seufzte resigniert, drehte sich um und ging zu den Kollegen von der Spurensicherung hinüber. Es gab einen längeren Disput, doch schließlich winkte er Miriam zu.

»Nur ein Foto und du stimmst den Bericht mit uns ab, bevor er erscheint.«

Miriam zog eine Schnute. Was sollte das denn heißen? Und wo blieb denn da die Pressefreiheit? Trotzdem nickte sie und ging dann ins Haus. Sie machte ihre Aufnahmen, natürlich mehr als eine, während ihr Bernd Obermeier nicht von der Seite wich.

Im Haus sah es schrecklich aus. Das Wohnzimmer war total verwüstet. Das Sofa war umgeworfen worden, die Stühle zerschlagen. Der Fernseher lag auf dem Boden, ein einziges Trümmerfeld. Sämtliche Bücher waren aus den Regalen gerissen worden. Es sah aus, als wäre ein Hurrikan durch den Raum gezogen und hätte alles kurz und klein geschlagen. Neben dem Sofa war eine Menge Blut auf dem Boden. Der Leichnam wurde gerade in einen Sack verpackt und dann hinausgetragen. Miriam konnte nur einen kurzen Blick darauf erhaschen, da es zu schnell ging, aber es war tatsächlich ein älterer Mann. Volker Röhn. Sein Gesicht war blutüberströmt und verzerrt, die Augen weit aufgerissen, ebenso der Mund. Er musste einen schrecklichen Tod gestorben sein. Miriam schluckte ein paar Mal, um die Übelkeit, die sie befiel zu vertreiben. Das ging ihr ziemlich nahe. Es war wirklich furchtbar. Außerdem war dies hier ihr erster Mordfall. Sie hatte noch nie eine Leiche gesehen und schon gar keine, die durch Gewalt zu Tode gekommen war.

Bernd Obermeier zog Miriam sachte am Arm wieder nach draußen.

»Genug jetzt!«

Besorgt betrachtete der Kommissar Miriam, weil sie so blass geworden war.

Miriam nickte nur stumm, drückte ihm ein Küsschen auf die Wange und ging zu ihrem Auto. Das musste sie jetzt doch erst einmal verdauen. Im Schneckentempo fuhr sie in die Redaktion nach Bernhausen und versuchte währenddessen die blutigen Bilder wieder aus ihrem Kopf zu bekommen.

Ein gelöschter Blog

Die Redaktion des „Filderstädter“, so hieß die Zeitung, bei der Miriam arbeitete, befand sich in einem schon etwas älteren Gebäude im Zentrum des Stadtteils Bernhausen. Filderstadt bestand aus mehreren, auf der Filderebene liegenden Gemeinden, gleich hinter dem Stuttgarter Flughafen. Leider hatte die Stadt kein richtiges Zentrum, so wie Tübingen oder Reutlingen, was schade war. Manche Stadteile, Bernhausen zum Beispiel, waren aber ganz nett. Dafür war es, trotz der Nähe zu Stuttgart, sehr ländlich. Die Ausläufer des Schönbuchs boten eine Menge Freizeitmöglichkeiten, sofern man Wandern oder Radfahren mochte, oder gerne Tiere beobachtete. Auch zum Flughafen war es nicht weit und auch sonst war die Gemeinde ziemlich gut an das öffentliche Verkehrsnetz angebunden, was den Mangel an alter Bausubstanz wieder ausglich, zumindest in den Augen von Miriam Schlohwächter.

Das Haus, in dem sich die Redaktion befand, gehörte Michael von Lebenhardt, der auch der Eigentümer des regionalen Blattes war. Wenn die Zeitung noch Miete zahlen müsste, wäre das bestimmt nicht zu schaffen, denn die Auflagenstärke belief sich gerade einmal auf fünfzehntausend Stück im Monat.

Miriam parkte ihren uralten, rostigen und vor Altersschwäche ächzenden Opel Kadett direkt vor dem Haus. In den Büros brannte bereits Licht, welches träge durch die schon ein wenig angestaubten Jalousien nach draußen sickerte. Die Eingangstür knarzte wie immer leise, als sie sie aufdrückte. Dahinter befand sich ein schmaler Flur, der in die Büros führte, eines rechts und eines links von ihm. Die Büros waren klein, vollgestopft mit Schreibtischen und technischem Equipment. Miriam stellte ihre Tasche neben einen der Tische auf den Boden. Es gab keine fest zugeordneten Arbeitsplätze für die Mitarbeiter. Jeder nahm den, der gerade frei war. Miriam gähnte verhalten. Das war wirklich nicht ihre Zeit. Ihre fünf Kollegen waren natürlich schon alle da. Sie waren alle mehr oder weniger Freiberufler, wie sie selber auch. Miriam loggte sich ein und begann zu recherchieren. Natürlich hatte sie schon von Volker Röhn, dem Toten, gehört, so wie die meisten Leute hier in der Gegend. Er war zu Lebzeiten der Prototyp des verschrobenen Wissenschaftlers gewesen und zudem ein Anhänger zahlreicher Verschwörungstheorien und natürlich hatte er auch alle Vorurteile erfüllt, die man solchen Menschen gegenüber so pflegte. Volker Röhn war am Ende des zweiten Weltkrieges in dem zerbombten Frankfurt geboren worden, war also bereits Mitte siebzig. Er hatte Geologie und Physik studiert und war in den siebziger Jahren nach Baden-Württemberg gekommen, um an der Universität in Stuttgart zu unterrichten. Nach seiner Pensionierung zog er mit seiner Frau nach Leinfelden-Echterdingen, in die Nachbargemeinde von Filderstadt. Neben Vulkanismus und Plattentektonik schien er sich vor allem für die Umweltverschmutzung zu interessieren. Letzteres war aber erst vor etwa zwei Jahren hinzugekommen. Nach dem Tod seiner Frau war er nicht mehr viel unterwegs gewesen, stellte Miriam überrascht fest. Es musste ihn wohl ziemlich getroffen haben, denn davor war er recht aktiv gewesen. Miriam scrollte durch die Einträge zu diversen Kongressen und Demonstrationen, bei denen er als Gastredner aufgetreten war. Doch nach dem Tod seiner Frau gab es kaum noch Einträge von dem Mann auf den einschlägigen Seiten, keine Interviews und keine Vorträge mehr. Auch Kinder hatten die beiden keine, zumindest konnte Miriam nichts finden. Sie runzelte nachdenklich die Stirn. Bis vor ein paar Monaten war Volker Röhn dann wohl nur noch zuhause geblieben und hatte ein zurückgezogenes Leben geführt. Unspektakulär. Aber warum hatte sich das dann plötzlich wieder geändert? Miriam stutzte und zog erstaunt die Augenbrauen hoch. Grübelnd betrachtete sie die Termine. Es begann etwa um Weihnachten letzten Jahres herum. Erstaunlicherweise hatte der Mann eine Facebookseite. Das hätte sie bei einem Menschen dieses Alters gar nicht erwartet. In seinem Terminkalender, den er öffentlich pflegte, was Miriam ziemlich befremdlich fand, befanden sich eine Menge Einträge zu irgendwelchen Demos, Vorträgen und sogar Einladungen zu Flashmobs und das ohne Ausnahme zum Thema Umwelt. Im Wesentlichen alles in den letzten sechs Monaten. Woher kam diese plötzliche Besessenheit? Eigentlich hatte sie von Volker Röhn den Eindruck, dass er ein etwas weltfremder, älterer Herr war, aber ein Aktivist? Das war er bis dato nie gewesen. Dieses offensive Verhalten passte nicht so recht ins Bild, zumindest für Miriam nicht und schon gar nicht über diese Themen. Früher hatte der Mann sich doch überwiegend mit geologischen Fragen beschäftigt. Miriam begann das Internet nach Artikeln jüngeren Datums von Volker Röhn zu durchforsten und stieß schließlich auf seinen Blog. Doch als sie die Internetseite aufrufen wollte, bekam sie nur den Hinweis, dass er soeben gelöscht worden war. Wieso gelöscht? Was war das denn? Stirnrunzelnd lehnte Miriam sich im Stuhl zurück. Hatte das etwas mit dem Mord zu tun? Vielleicht war es nur Zufall, sie sollte keine voreiligen Schlüsse ziehen.

 

Grübelnd dachte sie eine Weile nach. Für einen richtigen Artikel waren ihre Informationen entschieden zu spärlich. Sie brauchte unbedingt mehr Futter, aber für einen kurzen Absatz über den Tod des Mannes in der morgigen Ausgabe des „Filderstädter“ würden die Informationen reichen. Mit fliegenden Fingern schrieb sie einen mehrzeiligen Abriss über das Leben von Volker Röhn und über sein schreckliches gewaltsames Ableben, natürlich ohne jegliche Spekulationen. Miriam schilderte lediglich, was am Tatort passiert war und überließ den Rest der Fantasie der Leser und Leserinnen. Immerhin hatte sie versprochen den Artikel vorher der Polizei zu zeigen und sie wusste ja, wie empfindlich die waren, wenn im Vorfeld der Ermittlungen zu viel verraten wurde. Natürlich hätte sie das nicht gemusst, schließlich gab es ja noch so etwas wie Pressefreiheit, aber sie wollte beim nächsten Vorfall ja wieder fotografieren, also arrangierte sie sich damit und beschränkte sich auf das Offensichtliche. Nicht sehr aufregend, aber vorerst musste das genügen. Natürlich rebellierte ihr Innerstes dagegen, aber sie war eben nicht der Typ, der sich gegen staatliche Institutionen stellte. »Feigling«, schimpfte sie sich trotzdem im Stillen und verschob den Rest auf später, sobald die Polizei bestätigt hatte, dass es sich tatsächlich um einen Mord handelte.

Doch irgendwie hatte sie der Fall gepackt. Miriam hatte das dumpfe Gefühl, dass da mehr dahintersteckte. Vielleicht konnte sie mit ein paar Leuten sprechen, die zuletzt Kontakt zu Volker Röhn gehabt hatten. In seinem Terminkalender auf Facebook standen ein paar Einträge. Sie notierte sich rasch die Namen, doch als sie weiterblättern wollte, wurde sie auf eine andere Seite umgeleitet und die Nachricht erschien, „diese Seite wurde soeben gelöscht.“

Verblüfft betrachtete Miriam die schmale Zeile. Schon wieder? Wer löschte hier die Informationen? Volker Röhn war das jedenfalls nicht. Der war ja tot. Wer hatte noch Zugang zu seiner Facebookseite? Miriam schimpfte sich einen Narren, weil sie nicht gleich nachgesehen hatte, ob noch jemand Administrationsrechte hatte, aber jetzt war es zu spät. Doch sie wäre nicht Miriam Schlohwächter, wenn sie so leicht aufgeben würde, denn das Internet vergaß nichts wirklich, man musste nur länger suchen. Das würde wohl aufwändiger werden, als sie gedacht hatte.

Miriam stürzte sich ins Gewühl des Netzes, ging jedem kleinsten Hinweis nach, verfolgte jede Spur, doch irgendjemand war ihr immer einen Schritt voraus. Frustriert lehnte sie sich zurück. Wenn das so weiterging, dann bekam sie gar nichts zusammen. Wer immer das tat, musste einen Grund haben, die Spuren auszulöschen. Ein wenig unheimlich, oder nicht? Jeder Mist blieb stehen, aber das hier verschwand.

Vielleicht sollte sie mit einem Freund von ihr sprechen. Er kannte sich mit so etwas gut aus, war sogar manchmal im Darknet unterwegs und hatte definitiv keinerlei Respekt vor den Ordnungshütern. Hastig griff sie zum Telefonhörer und rief Roger Montez auf seinem Handy an. Er ging natürlich nicht dran. Miriam hinterließ ihm eine Nachricht in Form eines Pfeiftons, denn natürlich sprach sie ihm nicht auf die Box. Das Zeichen hatten sie schon vor langer Zeit vereinbar, denn Roger Montez litt, neben seinem Hang die staatliche Ordnungsmacht zu ignorieren, an einem ausgeprägten Verfolgungswahn.

Ein paar Minuten später erhielt sie eine SMS mit nur zwei Wörtern. Roger war wirklich paranoid. Er wollte sie am Bahnhof von Bernhausen auf einer der Wartebänke der Bushaltestellen treffen.

Hastig packte sie ihre Tasche, nachdem sie den Artikel über Volker Röhns Tod dem Redakteur hingelegt hatte und stürzte aus dem Büro. Es war ja nicht weit.

Der Bahnhof in Filderstadt-Bernhausen war eigentlich recht hübsch. Sauber gepflastert und übersichtlich angelegt, reihten sich die Bushaltestellen um ihn herum auf. Ein großes Verwaltungsgebäude, in dem sich diverse Firmen eingemietet hatten, nebst einem Parkhaus und einem Kiosk, der Zeitungen und Tabakwaren verkaufte, begrenzte den Platz auf der einen Seite. Auf der anderen Seite stand ein kleines Gebäude, in dem das Bürgeramt untergebracht war und ein weiteres kleines Haus, das ein Café beherbergte.

Um diese Zeit war nicht viel los. Roger Montez saß schon da, seine Baseballkappe tief in die Stirn gezogen. Offenbar hatte er heute nicht viel zu tun, denn so schnell war er sonst nicht, auch wenn er im Zentrum von Bernhausen wohnte. Miriam kannte das Haus, ein unscheinbarer blockartiger Bau in einer Seitenstraße unweit des Friedhofs. Sie war auch schon ein paar Mal bei Roger zum Kaffee gewesen. Das war wirklich ein großer Vertrauensbeweis, denn Roger lud normalerweise nie jemanden zu sich ein und schon gar keinen von der Presse.

»Hi, Roger. Schön dass du Zeit hast«, rief sie schon von weitem.

Er runzelte die Stirn.

»Hallo Miri! Ja, du hast Glück. Ich war gerade zu Hause.«

Miriam setzte sich neben ihn auf die Bank. Es war heiß. Die Sonne brannte unbarmherzig herab und heizte die Steinplatten am Boden auf.

»Mensch, können wir nicht in eine der Eisdielen gehen? Ich bräuchte einen Kaffee«, murrte sie und blinzelte gegen die Sonne an.

Bernhausen besaß zusätzlich zum Peter-Bümlein-Platz am Bahnhof noch eine kleine Fußgängerzone mit diversen Cafés, Restaurants und Eisdielen. Miriam mochte am liebsten die gleich neben der Bibliothek, aber die hatte leider keine Tische auf der man sein Eis abstellen konnte, deshalb liebäugelte sie mit der anderen in der Fußgängerzone, doch Roger Montez zog ein Gesicht wie Sauerbier. Sie verschob das Eis auf später.

»Kommt drauf an, was du von mir willst. Ich denke aber, es hängt mit dem Todesfall zusammen«, antwortete Roger Montez ruhig und sah sich vorsichtig um.

Überrascht blickte Miriam ihn an. Woher wusste er davon? Hatte sich das etwa schon herumgesprochen? Das konnte doch nicht sein. Der Artikel war ja noch nicht einmal erschienen.

»Wovon sprichst du?«

»Verschwörungstheoretiker kennen sich!«, bemerkte Roger Montez kurz angebunden.

Tatsächlich, es ging um Volker Röhn, aber was sollte das denn nun wieder heißen? Ein fragender Blick in Rogers Gesicht ließ Miriam verstummen. So verängstigt hatte sie ihn noch nie gesehen.

»Was ist da los, Roger?«

»Miri, halt dich da heraus. Das ist gefährlich. Volker Röhn war da einer ganz großen Sache auf der Spur«

Miriam zog die Augenbrauen hoch, denn Roger klang irgendwie gehetzt. »Warst du schon bei der Polizei?«

Roger Montez lachte nur leise.

»Miri! Die stellen die falschen Fragen und du kennst mein Verhältnis zu den Bullen.«

»Ja, ja. Nicht alle sind so. Es gibt auch ganz nette«, bemerkte Miriam ein wenig gereizt. Roger hatte vor ein paar Jahren einen bösen Zusammenstoß mit einem übereifrigen Kommissar gehabt. Seitdem war sein Verhältnis zur Polizei nicht das beste.

»Worum geht es hier eigentlich? Ich habe versucht Informationen über Volker Röhn herauszufinden, aber es geht nicht. Irgendjemand löscht die Spuren aus dem Internet.«

»Was sagst du da?«

»Ja, jedes Mal, wenn ich etwas gefunden habe, verschwindet es plötzlich. Das ist doch komisch, findest du nicht?«, Miriam betrachtete Roger aufmerksam. Er war anders als sonst, noch ein wenig paranoider.

»Dann ist das noch schlimmer, als wir dachten.«

»Wir? Wer ist wir? Woran hat Volker Röhn gearbeitet? Ich habe ein paar Umweltthemen gefunden. Die üblichen Dinge wie Abholzung, Chemiegifte und irgendetwas von Wasserverschmutzung. Leider konnte ich es nicht lesen, weil sein Blog just in dem Moment gelöscht wurde.«

»Ja, das dreckige Dutzend, Blei, Cadmium, Cäsium, dann noch Plastik und so weiter. Er hat ein paar Theorien aufgestellt, zur Schädlichkeit für den Menschen«, antwortete Roger ein wenig ausweichend.

»Aha!«, entfuhr es Miriam verständnislos. Was war daran so Besonderes? Sie hatte sich mit dem Thema noch nicht so wirklich beschäftigt.

»Du solltest dich wirklich einmal mit den wichtigen Dingen befassen, Miri.«

Roger schüttelte verständnislos den Kopf.

Miriam wusste, dass Roger ihr mäßiges Interesse an Umweltthemen nicht gut fand, deshalb erwiderte sie trotzig, »ich habe davon gehört. Letztens war ein Bericht über den vielen Dreck im Meer im Fernsehen.«

In Wahrheit hatte sie das nur halbherzig verfolgt und konnte sich kaum an die Inhalte erinnern. Außerdem fuhr sie selten ans Meer. Sie mochte die Berge lieber.

»Mensch, Miri! Du solltest wirklich mal was anderes lesen als Liebesromane. Das ist sogar schon im Trinkwasser.«

»Ich lese doch gar keine Liebesromane«, stieß Miriam ein wenig beleidigt hervor, auch wenn am Liebesromanlesen doch gar nichts schlechtes dran war. »Jedenfalls nicht andauernd. Wie kommt das Zeug in unser Trinkwasser?«

»Die Kläranlagen können die Schadstoffe nicht ausfiltern. Außerdem schmeißen die Leute überall ihren Abfall hin. Das landet schließlich in den Bächen und Flüssen.«