Steinmondsaga 1

Text
Read preview
Mark as finished
How to read the book after purchase
Steinmondsaga 1
Font:Smaller АаLarger Aa

Inhaltsverzeichnis

Prolog: Magische Ebene 1 – In Zeiten der Eroberung

Unsere Welt – Jetztzeit

Justus

Nella

Blutlettern

Magische Ebene 2 – Jetztzeit

Nachtschattenwelt

Die Feste der Tränen

Unsere Welt – Jetztzeit

In der Küche

Die Prüfung

Die Herausforderung

64 schwarz und weiß

Eröffnung

Caissa

Aufbruch

Magische Ebene 1 – Jetztzeit

Justus' Reise

Die Herrscherin der weißen Wüste

Magische Ebene 1 – Jetztzeit

Nellas Reise

Der Spion

Justus' Reise 2

Magische Ebene 2 – Jetztzeit

Justus und Caissa

Magische Ebene 1 – Jetztzeit

Nellas Reise 2

Die Wächter

Drachenreiter

Die Wasserzauberin

Unsere Welt – Jetztzeit

Das Geheimnis

Hubertus erzählt

Magische Ebene 1 – Jetztzeit

Feuerfunken

Die Rettung

Im Verlies

Orkans bester Freund

Caissas Weg

Nerones

Die Hirtin

Luftlinien

Der verwunschene Steinbruch

Der Verräter

Lina

Der Prozess

Die Stadt der Trümmer

Die Hirtin 2: Der Beutel der Unendlichkeit

Im Haus des Raben

Der beste Plan

Der Turm

Nellas Aufbruch

Der Turm 2

Schlacht

Justus

Nella

Magische Ebene 2 – Nach dem Kampf

Unsere Welt – Nach dem Kampf

Der Brief

Prolog: Magische Ebene 1 – In Zeiten der Eroberung

Dieser Abend roch nach Gefahr. Die Erdhennen scharrten unter dem Boden. Es waren mehrere, das hörte Muna, die Lichtalbin. Sie ging in der Hütte wie gewohnt ihrer Arbeit nach. Erdhennen bedeuteten nichts Gutes, sie waren die Vorboten des Todes und wer sie hörte, sollte schleunigst das Weite suchen. Doch ihre Herrin war noch nicht bereit, zu fliehen. Muna pustete den Staub von den Spinnweben und fegte die Asche vom Lehmboden, die der Feuervogel bei seiner Wiedergeburt hinterlassen hatte. Der Phönix hatte sich neu erschaffen und war nun ausgeflogen, um den Jungen in Sicherheit zu bringen. Wohin, wusste die Albin nicht, vielleicht war es besser so.

Sie blieb unruhig. Zwar war das Kind außer Gefahr, doch ohne den Vogel an ihrer Seite war die Schattenfee Petruna, ihre Herrin, schutzlos. Lumus, der Phönix, bewachte sie und hatte sie schon meilenweit von ihren Feinden davon getragen. Doch die Flammenritter verfolgten sie. An keinem Ort im ganzen Reich war Petruna sicher. Solange der Vogel fort war, war sie für die Feinde eine leichte Beute. Die kurze Zeit bis zu Lumus' Rückkehr würde den Schergen des Roten ausreichen. Schon oft hatten sie Lebewesen in diesem Wald auf Nimmerwiedersehen verschwinden lassen. Viele schmachteten in dunklen, zugigen Kerkern und sahen das Sonnenlicht bis zum Ende ihres Lebens nicht mehr.

Der Rote und seine Schergen – wie lange dauerte diese Herrschaft noch? Die Albin strich sich das weißblonde Haar aus dem Gesicht und seufzte. Nerones, der Grausame, hatte die Burg des Lichts besetzt und sie zur Feste der Finsternis gemacht. Seine Schergen zogen mordend und plündernd durchs Land. Valena, die Stadt der Farben, hatten sie innerhalb eines einzigen Tages in einen Trümmerhaufen verwandelt. Auch die Lebewesen in den Wäldern lebten in ständiger Furcht vor den Flammenrittern. Doch all das Leid war Nerones nicht genug. Er wollte Malorien, die fröhlichen Wälder und die Hauptstadt Valena dem Erdboden gleichmachen. Er stammte aus dem Vulkanland und brauchte nichts zum Leben als Rauch und Asche. Muna schauderte.

In diesen dunklen Stunden flüsterte der Wald die Geschichte der Rettung. So oft hatte die Albin sie schon gehört. „Eines Tages", tönte es von Bäumen und Blättern, „eines Tages", knackte das Geäst. Eines Tages würde der Tapfere kommen und den eingerissenen Schutzbann flicken. Und das gütige Königspaar würde aus dem Exil zurückkehren auf die Burg und alles wäre gut. „Ein schönes Märchen zwischen all dem Blut", flüsterte die Albin. Mit Bitternis dachte sie an die vielen Hoffnungen, die sich in den vergangenen Lichtwenden nicht erfüllt hatten.

Unter dem Boden scharrte es wieder. „Die Erdhennen, wir müssen fliehen!", mahnte sie ihre Herrin. Doch die hörte nicht. Sie saß da und webte. Seit Tagen ging das schon so. Die Schattenfee Petruna schien auf ihrem Webstuhl festgewachsen zu sein. Es ging um Leben und Tod und Petruna wob mit wunden Fingern Meter um Meter, Quadrat um Quadrat zu einem riesigen Ganzen. Die Meisterin verwob die Schatten der Burg, der Wege, der Wälder, der Gefangenen zu einer neuen Welt, der Nachtschattenwelt. Eine traurige Kopie dieses Landes, doch immerhin eine, in der der König geschützt war. Der Schutzzauber hatte einen Riss bekommen. Doch solange das Königspaar lebte, egal in welcher Welt, wirkte er weiter über den Wäldern. Der Rote konnte es sich in der eroberten Burg zwar gut gehen lassen, erlangte aber nicht die volle Macht. Nur ein paar Handgriffe noch und das Werk wäre vollendet. Die gewobene Kopie dieses Landes würde in wenigen Minuten fertig sein.

Sie suchten sie, das wusste Petruna. Sie hatte dem König zur Flucht verholfen und würde das mit ihrem Leben bezahlen, wenn sie in die Fänge der Schergen geriet. Aber wenigstens war ihr Sohn in Sicherheit. Und ihr Mann.

Der Phönix kam zu spät zurück. Muna, die Albin, schrie, als sie die Erdhennen sah. Eine ganze Schar kroch gackernd und scharrend aus dem Boden. Die Erdhennen waren harmlos, doch sie zeigten sich ausschließlich den Todgeweihten. Petruna verknotete ruhig ihren letzten Schatten und sah den Angreifern entgegen, die in die Hütte eindrangen. Die Schergen des Roten machten sich nicht einmal die Mühe, die Klinke herunterzudrücken, sondern traten die Tür mit ihren schweren, schwarzen Stiefeln einfach ein. Ihre Rüstungen hatten die Farbe frischen Blutes und sie kannten kein Erbarmen.

Der Phönix saß auf dem Ast der großen Eiche und weinte, während die Hütte in Flammen loderte. Er hatte Petruna nicht retten können. Doch in diesem Moment schwor sich der Feuervogel, die Nachkommen der Schattenweberin zu beschützen, und wenn dies sein eigenes Leben kosten würde.

 

Unsere Welt – Jetztzeit
Justus

Der Himmel war in dieser Nacht zu dichtem tiefblauem Tuch gewoben, bestickt mit funkelnden goldenen Punkten, den Sternen. Der Vollmond tauchte den Brunnen und seine steinernen Figuren in milchweißes Licht. Es war kurz nach Mitternacht und vor ein paar Minuten hatten sich die Straßenlaternen automatisch abgeschaltet.

Justus stand am Fenster seines neuen Zimmers und beobachtete das seltsame Mädchen da unten schon eine ganze Weile. Sie trug kurze, wuschelige Haare und ihre Kleidung wirkte verwahrlost und abgerissen. Sie stand einfach da und starrte in die sternklare Nacht als erwarte sie jemanden. Aber niemand kam.

Ihr Alter ließ sich von hier oben schlecht schätzen. Justus hoffte insgeheim, sie wäre vielleicht so alt wie er selbst, eine Nachbarin, die er bald kennenlernen könnte. Sie wohnten erst seit ein paar Tagen hier und Justus vermisste seine Freunde. Vielleicht konnte die da unten ja auch nicht schlafen, so wie er. Vielleicht hatte sie auch Albträume oder einen Traum, der immer wieder kam und ihr keine Ruhe ließ, so wie es bei ihm seit einiger Zeit war.

Sein Traum war seltsam real, obwohl er die Umgebung, in der er spielte, aus seinen Erinnerungen nicht kannte: Wald, nachtschwarze Schatten und diese Schreie, diese schrecklichen Schreie. So schrien nur Lebewesen, die in Todesangst waren. Und er? Er wurde verfolgt, von wem, wusste er nicht. Aber er raste Nacht für Nacht durch das Unterholz, ließ sich von kleinen spitzen Ästen tiefe, brennende Wunden ins Fleisch schneiden. Sie schmerzten ihn körperlich so, als befände er sich wirklich in dieser Welt, als sei dies alles mehr als nur ein Traum. Er roch den beißenden Geruch verbrannten Fleisches, hörte das Klirren der Schwerter in unmittelbarer Nähe.

Dann war da diese Stimme, gellend und verzweifelt: „Lauf Justus, lauf! Renn um dein Leben! Diese Welt braucht dich! Flieg, flieg!"

Jedes Mal versuchte es Justus, versuchte, die Flügel auszubreiten. Doch er konnte nicht fliegen. Er war ein Mensch und hatte keine Flügel, auch nicht im Traum. Er strauchelte, stürzte, sein Herz hämmerte. Sie waren ganz nah. Und sie wollten seinen Tod, das spürte er. Wer waren sie?

„Du musst es finden, du musst es finden, du musst leben, lauf!"

Da war wieder die Stimme, die ihn antrieb, die ihn anflehte, sich zu retten. Wer sprach? Wer rief ihn? Er wusste es nicht.

Der Traum riss Justus Nacht für Nacht aus dem Tiefschlaf. Sein Herz weckte ihn. Es pochte wie nach einer wirklichen Flucht durchs Unterholz. Sein ganzer Körper nahm Anteil an dem Albtraum. Anfangs war er immer stumm und fröstelnd in seinem Bett liegen geblieben, gefesselt von der Beklemmung, die diese Bilder in ihm auslösten. Jetzt schaffte er es immerhin, aufzustehen. Die Angst wurde kleiner, wenn er etwas tat.

Meistens schlich Justus zum Fenster und suchte den Mond. Am liebsten waren ihm Nächte wie diese, wenn er rund und prall am Himmel zu sehen war. Justus stellte sich vor, er sei ein großer Spiegel, der die Erde, alle Straßen und Häuser und alle Lebewesen in sich aufsog, sie beschützte. Der Mond war groß. Alles andere erschien dagegen klein und unwichtig, auch sein Traum. Das tröstete ihn.

Anfangs dachte er, der Traum würde mit dem Umzug zusammenhängen. Seine Eltern, die beide als Waldforscher in Toronto arbeiteten, hatten sich entschieden ihre Forschungen in einer deutschen Kleinstadt fortzusetzen anstatt in Kanada. Sie hatten Heimweh nach Deutschland und die Stadt war zwar klein, aber das Institut renommiert. Justus' Bitten, in Kanada zu bleiben, hatten sie abgeschlagen.

„Deutschland, das wird dir gefallen, du musst es nur besser kennenlernen", hatten sie behauptet.

Aber Justus wollte nicht fort. Im Gegensatz zu seinen Eltern war für ihn Toronto die Heimat. Dort war er aufgewachsen und seine beiden kleinen Zwillingsschwestern Ada und Ida waren dort geboren.

Eigentlich waren es nur seine Halbschwestern, denn Justus war ein Findelkind, das seine Zieheltern Rosalie und Markus Semmelbrot einst als Biostipendiaten zwischen einer Lieferung seltener Proben im Institut gefunden und heimlich mit nach Hause genommen hatten. Er war damals ein verwaistes Baby und die vorsichtigen Versuche der beiden, mehr über seine Herkunft herauszufinden, liefen alle ins Nichts. Hinweise waren verwischt wie Spuren nach einem Sandsturm. So zogen sie ihn auf wie ein eigenes Kind. Deutschland kannte er nur von Besuchen in den Ferien. Kaum vorstellbar, dass dies sein Zuhause werden sollte. Aber Rosalie und Markus Semmelbrot hatten sich nicht erweichen lassen. Nach langen Jahren im Ausland sehnten sie sich nach ihrer Heimat.

Seit ein paar Tagen wohnten sie nun hier, in dieser Stadt, die klein war und bis in den hintersten Winkel nach fader Langeweile roch. Seine Freunde hatte Justus in Kanada zurückgelassen. Die Einsamkeit bohrte sich von Tag zu Tag tiefer in seine Seele, saß als dicker, schwerer Klumpen in seinem Bauch. Einzig der schlimme Traum war ihm aus Toronto gefolgt und quälte ihn sogar in dieser Nacht, obwohl der Mitternachtsschlag seinen Geburtstag eingeläutet hatte. Trost suchend blickte Justus ins Mondlicht. Das würde ein trauriger Geburtstag werden, ohne Freunde. Er fühlte sich allein in dieser neuen Stadt. Vielleicht könnte er das seltsame Mädchen da unten zu einer Mitternachtsparty einladen.

Wo war sie überhaupt? Justus' Blick blieb am Brunnen hängen, ein, zwei, drei Sekunden länger als nötig. Das Erstaunen riss ihn aus seinem Selbstmitleid. Für einen Moment hatten ihn seine Gedanken blind gemacht. Das Mädchen war verschwunden. Er hatte aus dem Fenster gestarrt, ohne zu sehen. Ohne zu sehen, wohin sie ging.

„Schade", dachte Justus. Die da unten hatte zwar einen seltsam verwahrlosten Eindruck gemacht, aber er hatte sich ihr nahe gefühlt. Vielleicht, weil sie dieselbe Einsamkeit ausstrahlte, die auch ihn seit Tagen begleitete. Wohin sie wohl gegangen war? Was wollte sie so mutterseelenallein nachts am Brunnen? Sie wirkte nicht wie eine Bewohnerin dieser gutbürgerlichen, sauberen Siedlung, in der sogar die steinernen Wasserspeier aussahen, als schrubbten sie sich einmal am Tag gründlich ab.

Erst jetzt fiel Justus das seltsame Leuchten auf. Zuerst hielt er es für eine Spiegelung des Mondlichts. Die Oberfläche des Brunnens funkelte wie eine Scheibe aus feinem Silber. Nein, dieses Strahlen konnte nicht vom Vollmond stammen, dafür war es viel zu intensiv. Plötzlich regte sich etwas in der Mitte des Silberwassers. Blau funkelnde Blasen stiegen auf, erst wenige, dann immer mehr. Sie formatierten sich zu Ringen, die im silbernen Wasser schwammen. Der Junge starrte auf den Brunnen. Er konnte sich nicht erklären, was dort unten los war. In den Nächten zuvor war dieses Licht nicht da gewesen, da war er sich sicher. Er stand schließlich öfter hier, um sich von seinem Albtraum zu erholen. Eine Brunnenbeleuchtung wäre ihm aufgefallen.

Justus blickte hinab auf die silbernen Wassertropfen und die blauen Blasen, die aus der Mitte emporstiegen, sprudelten und sich dann verteilten als folgten sie einer geheimen Ordnung. Seltsamerweise beruhigten ihn die gleichmäßigen Bewegungen. Sie scheuchten die letzten Gedanken an seinen schlimmen Traum beiseite. Auch die Beklemmung, die Justus seit Wochen Nacht für Nacht gefesselt hatte, löste sich. Sie wich einer Entschlossenheit, die er von sich nicht kannte. Das Licht zog ihn zu sich. Justus wollte los, nach unten. Dies alles, das wusste er mit plötzlicher Sicherheit, ging ihn etwas an. Dies war für ihn bestimmt! Das Mädchen war nicht zufällig da gewesen. Sie war wegen ihm gekommen! Doch wer war sie? Er hatte sie nie zuvor gesehen. Und was wollte sie?

Leise zog sich Justus eine Trainingshose und ein T-Shirt über seinen kurzen Schlafanzug und schlich die Treppe hinab. Im Kinderzimmer von Ada und Ida war alles still. Die beiden schliefen und atmeten ruhig. Die Zimmertür seiner Eltern war angelehnt. Das gleichmäßige Schnarchen seiner Ziehmutter kam Justus plötzlich fremd vor, fern wie aus einer anderen Welt. Er schlüpfte auf bloßen Füßen aus der Haustür, ohne entdeckt zu werden.

Die Luft war angenehm kühl. Justus atmete tief ein. Zum ersten Mal seit Tagen fühlte er sich gut, obwohl ihm diese Siedlung auch mitten in der Nacht nicht gefiel. Selbst im Schein des Mondlichts sah hier alles geordnet aus. Blitzeblank gefegte Straßen verliefen an Vorgärten, die den Eindruck machten, als würden sie täglich von einer Horde Putzfrauen gewienert. Alle Bäumchen am Weg hatten die gleiche Größe und Form. Sie waren zu jeder Jahreszeit mit dem passenden Schmuck dekoriert. Gerade hatten bunte Bänder die Plastikostereier abgelöst. Mit Sicherheit würden Herbstschmuck und Weihnachtsanhänger folgen. Selbst der Kinderspielplatz machte einen wohlgeordneten Eindruck. Verwunderlich, dass am Eingang kein Schild stand, man möge doch bitte Hausschuhe auf dem Gelände tragen.

Die Häuser schienen ebenso im Tiefschlaf zu liegen wie ihre Bewohner. Sie sahen alle genauso aus wie das Haus, in dem er neuerdings wohnte. Alle waren dezent pfirsichfarben gestrichen und hatten grüne Fensterläden. Den einzigen Unterschied machten die Namensschilder an den Türen. Alle Straßen führten in der Mitte auf den Brunnen mit den steinernen Figuren zu. Ihre Schatten wirkten bedrohlich, irgendwie zu groß und falsch. Aber Justus hatte keine Angst.

Jetzt, weit nach Mitternacht, war hier niemand zu sehen. Der Junge blickte sich suchend um. Das seltsame Mädchen war immer noch fort. Er war enttäuscht. Insgeheim hatte er gehofft, es würde zurückkommen. Er hätte sie so gerne gefragt, wer sie war und warum sie sich nachts hier herumtrieb. Er hatte das unbestimmte Gefühl, sie hätte ihm mehr über das komische Licht sagen können. Von Neugier getrieben setzte sich Justus auf den Brunnenrand. Probehalber tauchte er seine Füße in das silberhelle Wasser. Nichts passierte. Lediglich ein paar Tropfen perlten wie glitzernde Funken auf. Er bewegte die Beine und versuchte mit den Zehen einen Ring aus blauen Blasen zu erwischen. Als er ihn berührte, stieb eine Fontäne aus der Brunnenmitte. Justus zuckte vor Schreck zusammen und zog seine Beine hastig auf den steinernen Rand zurück. Die Blasen quollen plötzlich überall hervor. Sie sprudelten wütend, zischten, schlugen kleine Wellen und übermalten das silberne Wasser dunkelblau, bis es aussah wie Tinte.

Justus sah vom Brunnenrand aus zu. Er bewegte sich nicht und wagte kaum zu atmen. Er starrte in den Brunnen. Wie lange? Er hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Was ging hier vor? Irgendwann stiegen keine Blasen mehr auf. Die Farbe verzog sich nach und nach. Als nur noch ein paar Schlieren das Wasser durchzogen, bemerkte der Junge, dass auf dem Grund etwas lag, ein kleines Ding, das leuchtete.

Ein Feigling war Justus nicht! Seine Hosenbeine saugten sich bis über die Knie mit Wasser voll, als er in den Brunnen kletterte. Er fischte und griff mehrmals ins Leere. Das funkelnde Ding war schwer zu fassen. Endlich hielt er es in den Fingern. Er hätte nicht gedacht, dass es so klein war. Es fühlte sich an wie ein Stein und war gleichzeitig auf seltsame Art lebendig.

Der Junge umschloss seinen Fund mit der Faust und kletterte aus dem Brunnen. Auch die Ärmel seines T-Shirts waren inzwischen klamm und nass. Aber so beschäftigt, wie er war, bemerkte er das nicht.

Auf der Straße sah er sich seinen Fang näher an. So etwas hatte er noch nie gesehen. Das Ding hatte die Form eines Halbmondes, der an der Innenseite ausgefranst war, so als existiere eine zweite Hälfte, die jemand gewaltsam abgerissen hatte. Justus fühlte sich seltsam. Er konnte sich nicht erklären, was er da in den Händen hielt. So etwas hatte er noch nie gesehen. Und doch gefiel ihm dieser Steinmond auf eigenartige Art und Weise. Er hatte ihn gefunden. Er gehörte ihm ganz allein. Justus fühlte sich so glücklich wie seit Langem nicht mehr. Der Stein leuchtete immer noch. Aber ein Lämpchen war nicht zu erkennen. Und einen Schalter zum an- und ausknipsen gab es anscheinend auch nicht. Justus sah sich seinen Fund von allen Seiten an, drehte ihn, suchte, ob irgendwo doch ein Batteriefach versteckt war. Und da veränderte sich das Licht. Das dunkle Blau wurde heller und heller, bis es schließlich gleißend weiß strahlte wie eine Neonröhre. Justus brannten die Augen beim Hinsehen. Das Gefühl, er hielte etwas Lebendiges in den Fingern, verstärkte sich. Der Steinmond schien zu atmen, so kam es Justus vor. Und plötzlich erschienen auf der Oberfläche Buchstaben in blutroter Farbe. Sie waren so winzig wie Reiskörner und Justus hatte Mühe sie zu entziffern: „Dieses Kleinod hat verloren", begann er leise. Und dann schrie er vor Schmerz.

 

Die Eule war im Sturzflug vom Himmel gekommen. Sie rammte ihn mit voller Wucht. Normalerweise hätte Justus den Angriff gut parieren können. Das Tier war verhältnismäßig klein und er hatte eine sportliche Statur. Aber die Eule hatte ihn überrascht. Justus stolperte, fiel zu Boden und biss die Zähne zusammen. Sein Knie fühlte sich an, als sei es beim Aufprall auf den Asphalt in tausend Teile gesprengt worden. Geistesgegenwärtig hielt er sein Fundstück fest in der Faust. Er wollte sich wieder aufrappeln. Da kam die Angreiferin ein zweites Mal. Sauste über ihn hinweg, zauste sein kurzes blondes Haar, schrammte sein Gesicht mit ihren Klauen und streifte seine Faust. Justus ignorierte die Schmerzen und umklammerte fest den Steinmond.

„Du bekommst ihn nicht, das kannst du vergessen!", zischte er. Er hatte keine Zeit sich zu wundern, woher seine Aggression kam. Normalerweise löste er Probleme ruhig. Aber dieser leuchtende Stein machte etwas mit ihm. Er fühlte sich anders, seit er ihn gefunden hatte, irgendwie größer. Und er fühlte, dass er seinen Fund um jeden Preis verteidigen musste. Er wollte ihn unbedingt behalten!

Die Eule wollte den Stein ebenfalls um jeden Preis. Beim nächsten Angriff hackte sie nach seiner geschlossenen Faust. Justus schrie auf, sah nachtschwarzes Blut seinen Daumen herunter rinnen. Die Angreiferin nutzte diesen Moment, packte mit ihrem Schnabel den kleinen, funkelnden Gegenstand und flog davon.

„Na warte!" Justus rappelte sich auf. Er ignorierte seine schmerzende Hand und das aufgeschrammte Knie und stürmte der Eule hinterher.

Natürlich hatte er keine Chance, sie zu erwischen. Im Mondlicht sah er sie nur als schwarzen Umriss in der Luft, der sich immer weiter entfernte. Zum Glück funkelte der Stein in ihrem Schnabel wie ein kleiner Stern und wies ihm den Weg. So rannte Justus die Sommerstraße entlang hinter der Eule her. Seine Schritte klangen dumpf auf dem nächtlichen Asphalt.

Verwunderlich, dass von dem Lärm ihres Kampfes niemand wach geworden war. Aber keiner trat auf die Straße und sah den blutenden Jungen, der wie besessen eine Eule verfolgte. Vielleicht konnte er wenigstens herausfinden, wohin sie ihre Beute brachte. Vielleicht bewohnte sie eine Höhle im Baum oder so etwas.

Dass die Sommerstraße am Ende in einer Sackgasse mündete, bemerkte der Junge erst, als er direkt vor dem Zaun stand. Das Tier war darüber geflogen und war nicht mehr zu sehen. Vermutlich hatte es sich in einem Baum versteckt. Vielleicht in der alten Kastanie, die die anderen Bäume überragte und so groß war, dass ihre Äste den Mond zu berühren schienen. In der Breite spannten sie sich ausladend über den großen Garten.

Hätte Justus tagsüber über den Zaun geblickt, dann wäre er überrascht gewesen, von der üppigen grünen Wiese und den bunten Blumen. Sie wuchsen so zahlreich und wild als habe ein Riese seine Hand geöffnet und wahllos unzählige Blumensamen auf die Erde regnen lassen. Auch das windschiefe purpurne Haus mit den schokoladenfarbenen Ziegeln hätte ihm gefallen. Es sah ganz anders aus als die ordentlichen Reihenhäuser in dieser Siedlung. Doch momentan interessierte sich Justus überhaupt nicht dafür. Alles, was er wollte, war sein Steinmond. Und dafür musste er wissen, wohin sich die blöde Eule verkrochen hatte.

Er hielt sich die schmerzende rechte Hand und lief am Zaun entlang. Irgendwo musste doch der Eingang sein! Da vorne war das Gartentor, jetzt würde er sich leise auf das Grundstück schleichen und... „Ahhhh!" Zum zweiten Mal in dieser Nacht schrie Justus vor Schmerz. Der Schlag kam mit voller Wucht. Etwas Schweres rammte seinen Kopf. Ohnmächtig sank Justus zu Boden.