Read the book: «Die Speckbemme und Konrads Radtouren»

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Kurt Thümmler

DIE SPECKBEMME

und Konrads Radtouren

Erzählungen

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2016

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.dnb.de abrufbar.

Copyright (2016) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2016

www.engelsdorfer-verlag.de

ISBN (mobi) 978-3-960083-33-7

ISBN (epub) 978-3-960083-23-8

INHALT

Cover

Titel

Impressum

Vorwort des Verfassers

Die Geschichte

Vater und Mutter

Die Schule – I. Teil

Reise nach Berlin

Die Schule – II. Teil

Der Landwirt Gericke

Kohlenhandlung Gericke

Die erste Speckbemme

Wandlung

Konrads Radtouren

Bad Düben

Bad Schmiedeberg

Kyffhäuserdenkmal mit Barbarossahöhle

Ostsee-Tour 1956

VORWORT DES VERFASSERS

Meine Geschichte handelt von einem kleinen Jungen, ich nenne ihn Konrad, der im Krieg geboren wurde und unter ärmlichen Verhältnissen in einer Kleinstadt in Ostdeutschland, später DDR, aufwuchs.

Wir schreiben das Jahr 1950, Konrad ist acht Jahre alt. Der Krieg war fünf Jahre her. Glücklicherweise hatte Konrads Heimatstadt keine größeren Kriegsschäden davongetragen, nur das Bahnhofsgebäude des Unteren Bahnhofs hatte eine Bombe abbekommen, wahrscheinlich zufällig von einem der Bomber gefallen, welche im letzten Kriegsjahr zu Hunderten über unsere Stadt in Richtung Leipzig flogen, um bekannterweise diese Stadt zu zerstören.

Die Erinnerungen an diese furchtbaren Ereignisse lasse ich in diesem Buch weg.

1950 war die DDR zwei Jahre alt. Die Kommunisten hatten unter der Führung der Russen, das heißt der Sowjetarmee einen Arbeiter- und Bauernstaat gegründet. Zu dieser Zeit kamen die Russen zu der Erkenntnis, die Produktionsanlagen Ostdeutschlands nicht weiter sinnlos zu demontieren, sondern wieder aufzubauen und zum Nutzen der Sowjetarmee produzieren zu lassen, und so liefen die Reparationszahlungen an die Sowjetunion ausschließlich aus der DDR bis in die Ewigkeit, wenn 1989 die Wende nicht gekommen wäre. 1950 herrschte bitterste Armut in der DDR. Es ging ums blanke Essen. Wir Kinder hatten ständig Hunger, Lebensmittel wurden mittels Lebensmittelmarken zugeteilt. Die Kinder bekamen in der Schule anfangs eine Grießsuppe, wir nannten sie Rennfahrersuppe. Später gab es dann einen Blechtopf, jeder musste ein Gefäß von zu Hause mitbringen, Milch und eine Semmel dazu. Das war die erste Errungenschaft der DDR.

Wir wohnten in der Nähe einer Erfassungsstelle für landwirtschaftliche Produkte (VEAB). Dieser wurde eigenartigerweise von Polen kontrolliert. Heute finde ich es richtig, dass die Bauern gezwungen wurden, möglichst viele Nahrungsmittel zu produzieren und abzuliefern. Ich kann mich noch sehr gut an die langen Schlangen der Pferdewagen, die meist mit Weißkohlköpfen beladen, an der VEAB, das heißt Volkseigener Erfassungs- und Aufkaufbetrieb, anstanden, um ihre Produkte abzuliefern. Für uns Kinder war das eine günstige Möglichkeit unseren unbändigen Hunger zu stillen – wir klauten Kohlköpfe. Von einem Kohlkopf konnte die Familie eine ganze Woche leben. Die Bauern tolerierten unsere Diebstähle, da sie ohnehin an die Kommunisten nichts liefern wollten. Dass das hungernde Volk dahinterstand, interessierte sie nicht. Es war die Zeit, als die Bauern ihren Kuhstall mit Teppichen auslegen konnten, weil die Städter ihr letztes Hab und Gut zum Bauern schleppen mussten, um etwas zu essen zu bekommen und der Bauer war erbarmungslos: Für ein Paar nagelneue Herrenschuhe gab es ein Kilo Kartoffeln. Hintenherum schlachtete der Bauer ein Schwein und verkaufte das Fleisch auf dem schwarzen Markt. Allerdings haben das die bösen Kommunisten auch hart bestraft, wenn sie das rausbekamen.

Ährenlesen und Kartoffeln stoppeln waren Möglichkeiten für die Menschen, etwas Essbares zu beschaffen. In den ersten Nachkriegsjahren kamen sogar unsere Verwandten aus Berlin zu uns in die Provinz, um ein paar Kartoffeln zu ergattern – wir hatten selbst nichts.

Nachdem sich die BRD gegründet hatte und der Marschallplan ins Leben gerufen wurde, wendete sich das Blatt, besonders für die Berliner, grundsätzlich. Ab jetzt waren wir aus der Ostzone die Bettler.

DIE GESCHICHTE

Konrad kam aus der Schule, endlich. Die Schule lag in der unmittelbaren Nähe seiner Straße. Vorher musste er eine große und gefährliche Kreuzung passieren. Die ersten paar Mal wurde er von der Mutter zur Schule begleitet und entsprechend belehrt. Hauptsächlich waren Pferdefuhrwerke, einige Lastkraftwagen, meist mit Kohlevergaser, sowie auch Pkws unterwegs. In der Mitte, das heißt über der Mitte der Kreuzung, hing eine Verkehrsampel, Ampel im wahrsten Sinne des Wortes. Diese Straßenkreuzung war für Konrad auf dem Nachhauseweg von der Schule erst einmal ein Zwischenstopp, viel zu interessant, als dass man da einfach vorbeigehen kann. Immer bewegte sich ein Fahrzeug, ob Pferdefuhrwerk, Lastkraftwagen oder Personenkraftwagen – immer fuhr etwas und Konrad musste, trotz seines ständigen Hungers, erst einmal seine Kreuzung, er nannte sie so, beobachten.

Vor allem die Ampel hatte es ihm angetan, die Farben Rot, Grün, Gelb. Was bedeuteten sie? In der Schule lernte man so etwas nicht. Um das zu ergründen, lief Konrad immer dort über die eine Straße, auf der die Fahrzeuge stillstanden, weil die Ampel „Rot“ zeigte. Bald bekam er mit, dass die Fahrzeuge auf der querenden Straße Grün an der Ampel hatten und fahren durften. Eine tolle Sache, empfand Konrad. Er konnte sich kaum von der Kreuzung trennen. Aber auch andere, interessante Dinge warteten auf ihn.

Auf dem Nachhauseweg befand sich eine Kohlenhandlung mit angeschlossenem bäuerlichen Betrieb, oder umgekehrt. Einzig und allein die beiden Pferde des Betriebes hatten es Konrad angetan. Diese beiden Zugtiere mussten für die Kohlenhandlung, sowie für den bäuerlichen Betrieb die wichtigste Arbeit leisten.

Meist sah Konrad die Pferde nur, wenn sie angespannt waren, entweder um Kohlen auszufahren oder um bäuerliche Arbeiten zu verrichten. Auf dem Bock saß der Chef persönlich, der Kohlenhändler und Bauer Albert Gericke, ein drahtiger alter Mann, der beim Atmen immer die Backen aufblies, wie ein Fisch die Kiemen, fand Konrad, wenn er den Mann beobachtete. Manchmal saß ein Junge in Konrads Alter neben Herrn Gericke auf dem Kutschbock. Wie beneidete Konrad ihn. Er war davon überzeugt, dass der Junge ein Verwandter von Gericke sein müsse, was aber nicht stimmte. Irgendwann kam Konrad mit ihm in Kontakt. Er hieß Helmut und wohnte mit seiner Mutter und mehreren Geschwistern in dem Wohn- und Geschäftshaus der Firma Gericke.

Konrad war am Tor der Firma Gericke angelangt. Es stand offen, die Pferde waren draußen. Nicht weit vom Hof entfernt verlief die Eisenbahnstrecke Halle-Sorau. Der Obere Bahnhof des Ortes hieß ursprünglich Sorauer Bahnhof, obwohl er eigentlich nur ein Haltepunkt war, allerdings mit einem schönen Bahnhofsgebäude im romanischen Stil. Interessant für Konrad war vor allem der Rangierbahnhof der oberen Bahnstrecke. Hier schnaufte Tag und Nacht die Rangierlok der Baureihe 94, wie Konrad schon lange wusste. Wenn er in seinem Wohnhaus auf dem Klo, welches sich auf der Treppe des Mehrfamilienhauses befand, saß, konnte er die Bahnstrecke, sowie das Ausziehgleis des Bahnhofs sehen und die Eisenbahn hören, Tag und Nacht. Vor allen nachts, wenn sich ein Güterzug mit bis zu sechzig Waggons durch den Bahnhof quälte, lag Konrad lange noch wach in seinem Bett. Hinzu kam dann der Rangierbetrieb mit dem andauernden Pfeifsignalen zum Abstoßen und Anhalten.

Damals liebte Konrad den Bauernhof wesentlich mehr als die Eisenbahn, vor allem, weil es da die Chance gab, etwas zu essen zu bekommen. Plötzlich tauchte ein Fuhrwerk auf, beladen mit Kohlen. Die Kohlen bekam die Firma Gericke per Eisenbahn geliefert. Auf einem entsprechenden Anschlussgleis wurde zu einer xbeliebigen Tages- oder Nachtzeit ein kurzfristig avisierter Waggon mit Briketts bereitgestellt. Dieser musste innerhalb einer bestimmten Frist vom Empfänger, also der Firma Gericke, entladen werden. Von so einer Entladung kam wahrscheinlich das Fuhrwerk an dem besagten Tag. Helmut saß neben Herrn Gericke auf dem Bock. Wie hat ihn Konrad beneidet. Vor der Hofeinfahrt hielt Herr Gericke das Gefährt an, stieg ab und begab sich ins Haus. Derweil blieb Helmut auf dem Bock sitzen und hielt voller Stolz die Zügel in der Hand. Kurz danach erschien Herr Gericke mit einigen Papieren in der Hand wieder und schwang sich auf den Bock, übernahm die Zügel von Helmut und beide fuhren davon, um offensichtlich eine Fuhre Kohle an einen Kunden auszuliefern. Sehnsüchtig sah Konrad dem Gespann hinterher.

VATER UND MUTTER

Um die nächste Ecke befand sich die Sackgasse, in welcher Konrad wohnte. In dieser Sackgasse standen genau acht Mehrfamilienhäuser. Am Abschluss dieser Straße befanden sich einige Eisenbahnergärten und gleich daneben verliefen die Rangiergleise des Oberen Bahnhofs.

Konrad bog in seine Straße ein und erreichte kurz danach sein Heim. Dieses befand sich im Mehrfamilienhaus seiner Großmutter Amanda. In diesem Haus wohnte die gesamte Familie seiner Mutter – ein Wahnsinn. Konrad kannte es nicht anders.

Die Oma Amanda hatte sechs Kinder. Fünf davon, einschließlich Ehepartner und Kinder, wohnten in diesem Haus. Eins davon war die Mutter von Konrad sowie zwei weiteren Geschwistern, und diese wohnten im ersten Stock des Vorderhauses. Es gab noch ein Hinterhaus, in welchem im zweiten Stock Tante Hilde, die zweitälteste Tochter von Oma Amanda, mit ihrem Ehemann Erich, Sohn Wilfried und Tochter Rita wohnten. Konrad bewunderte seinen Onkel Erich, denn der war Boxer. An den Wochenenden boxte er meist um ein Brot als Siegprämie. Damit war seine Familie erst einmal versorgt. Tante Hilde, seine Ehefrau, war immer dabei, wenn Erich boxte. Für das kleine Nest war das immer ein besonderes Ereignis. Onkel Erich wurde immer berühmter. Später gründete er sogar einen Boxklub in der Stadt, mit zunehmendem Erfolg. Konrad bewunderte ihn.

Desgleichen dessen Sohn Wilfried, welcher fast zehn Jahre älter als Konrad war. Als Boxer zu feige, aber gegenüber Schwächeren der Größte. Wilfried bekam von seinem Vater alles: einen echten Lederfußball, Skier, Fahrrad, Karl-May-Bücher usw. usw. Wenn Willi mit seinem mit Schuhcrem gewichsten, steinharten Fußball auf der Straße auftauchte, haben wir Stifte uns schleunigst verkrümelt.

Einmal hat er Konrad dazu bewegt, sich ins Tor, das war das Eingangstor des Hauses, zu stellen. Willi läuft Anlauf und schießt, Konrad vergeht vor Angst, der Ball kommt geflogen, aber nicht aufs Tor, sondern ans Fenster von Oma Amanda. Konrad fühlt sich gerettet. Willi haut ab. Amanda taucht mit einem Knüppel bewaffnet auf und jagt ihm nach. Natürlich kriegt sie ihn nicht, was bei allen anderen Kindern unbändige Heiterkeit auslöst. Amanda kehrte fluchend zurück. Konrad musste das kaputte Fenster zum Glaser zur Reparatur bringen.

Amanda hatte viele Enkel im Haus. Da waren die beiden erstgenannten. Konrad hatte noch einen großen Bruder und eine ältere Schwester. Des Weiteren gab es noch die zwei Söhne von Tante Edeltraut, Heinz und Dieter (Dille). Dille war ein Jahr jünger als Konrad und meist dessen Spielkamerad. Heinz war der ältere Bruder von Dille. Konrads Bruder Günter und Heinz waren auch fast gleichaltrig und hielten zusammen gegen Willi. Willi war überall unbeliebt – ein brutaler Kerl, von allen gefürchtet und gehasst.

Eigentlich hassten sich alle untereinander in dem Familienhaus der Oma Amanda, der Erbengemeinschaft Wirt. Nur die Mutter von Konrad war der ruhende Pol, bei ihr heulten sich alle aus, außer Amanda, die schimpfte nur, einmal auf diesen, einmal auf jenen.

Da waren auch noch zwei Onkel von Konrad im Haus. Der eine Onkel, Harry, war ein Erfolgsmensch und Glückspilz. Kam im Krieg beizeiten in amerikanische Kriegsgefangenschaft nach USA-Texas und kam von dort, dick und fett gemästet, nach Kriegsende nach Hause. Dem jüngeren Onkel, Rudi, ging es im Krieg irgendwo in Griechenland auch gut und er kam nach Kriegsende auch wohlbehalten wieder nach Hause.

Bloß Konrads Vater hatte es böse erwischt. Der kam als Krüppel aus dem Krieg zurück, beide Füße hatte er verloren, erfroren. Damit war der Leidensweg in der Familie Konrads vorprogrammiert. Schwerkriegsbeschädigt, das heißt keine Rente in der DDR, sondern leichte Hilfsarbeit für wenig Geld anzustreben. Wobei es in dieser Zeit ohnehin zu wenig Arbeit gab, vor allem für Kriegsversehrte.

Dann hatte Konrads Vater doch Arbeit in der örtlichen Schokoladenfabrik gefunden. Wenn er in der Schule oder auch von seinen Freunden gefragt wurde, was sein Vater sei, sagte er immer Schokoladenmacher. Irgendwie stimmte es ja auch.

Die Mutter war Hausfrau und ergänzte die schmale Haushaltskasse mit Nähen. Die Überlebensgrundlage der Familie bildete der Schrebergarten. Dieser befand sich innerhalb einer großen Gartenanlage „Am Wasserturm“, zirka fünf Minuten Fußweg von zu Hause entfernt. Für die Mutter war das Fahrrad das wichtigste Verkehrs- und Transportmittel. Es war ein Vorkriegsmodell und hatte schon viele Jahre auf dem Sattel. Dahinter war ein riesengroßer Gepäckträger angebracht. Bis zu einem bestimmten Alter wurde Konrad auf diesem in den Garten gefahren. Heimwärts musste er meist laufen, da der Gepäckträger dann Erntegut und anderes tragen musste. Für Konrad war es immer ein herrliches Erlebnis, wenn er auf dem Gepäckträger, welcher mit einer alten Decke etwas abgepolstert wurde, saß und die Welt an ihm vorüberflog. Zu schnell war die Fahrt immer vorbei. Die Gartenanlage befand sich praktisch auf der anderen Seite der bereits beschriebenen Eisenbahnstrecke. Die Querung der Strecke erfolgte für Fußgänger mittels einer kleinen Unterführung, der sogenannten Mausefalle. Radfahrer mussten vorher absteigen und laufen. Für Konrad war das das Zeichen, dass der Garten gleich erreicht war. Es war der erste Garten im ersten Gang der Anlage. Deshalb war er auch etwas größer als die anderen Gärten, nämlich siebenhundert Quadratmeter. Die anderen maßen nur sechshundert. Für einen Schrebergarten galten die Gärten als groß und der von Konrads Eltern als sehr groß, was Konrads Mutter aber nicht genügte, denn abwechselnd bearbeitete sie noch ein kleines Feld an der Berliner Bahnstrecke und eins am Werkstättenteich. Manchmal bearbeitet sie auch noch den Garten der Oma Amanda, welcher nicht weit von Konrads Garten entfernt lag. Konrads Mutter war ständig im Einsatz und wurde meist von den anderen kräftig ausgenutzt, vor allem von Amanda. Diese hatte die Charaktereigenschaft, mit Konrads Mutter solange schönzutun, bis der Garten gemacht war. Anschließend brach sie einen Streit vom Zaun und fuhr dann die Ernte mit Hilfe der anderen Familienmitglieder ein. Vor allem Konrads Cousin Wilfried bediente sich in Amandas Garten ständig. Ernten ohne anbauen, war seine Devise. Offensichtlich hatte er diesen Charakterzug von Amanda geerbt.

Als Konrad im Vorschulalter war, nahm seine Mutter ihn überall mit hin. Zuerst ging es in den Garten am Wasserturm. Sein großer Bruder, acht Jahre älter, und seine große Schwester, vier Jahre älter als Konrad, ließen sich im Garten nur selten blicken. Unter dem Vorwand, sie müssten für die Schule lernen, hatten sie nie Zeit, überhaupt für die Arbeit. Und wenn an den Sonntagen die ganze Familie im Garten zusammen war, faulenzten sie nur. Konrads Schwester Ruth saß die meiste Zeit auf der Schaukel. Der große Bruder Günter las andauernd, sogar beim Essen. Vom Vater wurden ihm dafür mehrmals Schläge angedroht, was er aber doch nicht wahrmachte. Die bekam dann Konrad.

Die Mutter rackerte sich auch sonntags im Garten ab, die Arbeit riss auch nicht ab. Siebenhundert Quadratmeter Nutzfläche mussten bearbeitet werden. Die Statuten des Gartenvereins ließen keine Faulenzerflächen (Rasenflächen) zu. Nur eine kleine Gartenlaube und eine kleine Sitzfläche waren erlaubt.

Konrads Vater sah man in seinen jüngeren Jahren seine Versehrtheit kaum an. Er trug Prothesen und lief an nur einem Spazierstock. Täglich ging er so zur Arbeit und wieder zurück. Anschließend meist in den Garten. Nicht nur Obst und Gemüse galt es hier anzubauen, auch die Kleintierzucht war eine wichtige Ernährungsquelle in der Nachkriegszeit. Konrads Vater war, trotz seiner Behinderung, meist mit dem Bau von Kaninchenbuchten, Hühnerställen und Zwingern beschäftigt. Konrad wollte von klein auf immer mithelfen, ob bei der Gartenarbeit oder beim Kaninchenställebauen. Diese mussten so konzipiert sein, dass die Kleintierhaltung auch über den Winter den entsprechenden Nutzen brachte. Da ging es auch im strengsten Winter in den Garten die Kaninchen und Hühner füttern. Und die Winter waren ausgerechnet in der Nachkriegszeit bitterkalt. Da waren die Kaninchen nicht nur wichtige Fleischlieferanten, sondern auch Felllieferanten.

Konrads Mutter konnte alles. Wenn der Vater ein Kaninchen geschlachtet und das Fell abgezogen hatte, spannte die Mutter es auf einen Rahmen und bestreute es mit Alaunsalz. Dann blieb es erst einmal liegen bis es zum Gerben bereit war. Nachdem die Mutter das Fell stundenlang gegerbt hatte, solange bis das Leder ganz weich war, nähte sie eine Mütze, Handschuhe oder eine Jacke aus dem Fell. Nichts hielt wärmer, als die Fellsocken aus Kaninchen. Leider haperte es am Hosen- oder Schuhenähen aus Fell, das können nur die Eskimos. Hosen und Schuhe waren ein Engpass in der Nachkriegszeit. Auch die Jungen trugen im Winter lange Strümpfe und kurze Hosen. Konrad konnte kaum die Schuhe von seinen älteren Geschwistern übernehmen, da der Altersunterschied zu groß war und deren Schuhe meist völlig verschlissen waren. Neue Lederschuhe gab es gar nicht. Es gab nur alte Bestände, die immer wieder geflickt wurden. Oft waren Schuhe ein beliebtes Tauschobjekt für Lebensmittel.

Es war wieder so ein harter Winter. Im Wohnhaus waren die auf der Treppe befindlichen Klos durch Unachtsamkeit der Bewohner eingefroren. Zur Strafe mussten alle ihre Notdurft auf Eimern und Schüsseln verrichten und anschließend über die Hofmauer aufs nachbarliche Gärtnereigrundstück entsorgen. Was für eine Schweinerei. Allerdings war es so kalt, dass alles gleich gefror und nicht einmal Zeit zum Stinken hatte. Im Frühjahr konnte der Gärtner den gesamten Kot dann als Dünger für seine Kürbisse verwenden. Das wurden wahre Riesen.

Um das Überleben der Haustiere im Garten zu sichern, baute Konrads Vater ein unterirdisches Hühnergelass, welches ebenerdig mit Glasfenstern abgedeckt war. Die Hühner konnten aus ihrem Außenzwinger durch eine Öffnung unterhalb der Kaninchenbuchten in die frostfreie Höhle gelangen. Die Kaninchenbuchten wurden mit Holzverschlägen, welche nur zum Füttern geöffnet wurden, gesichert. Zum Warmhalten wurden die Buchten mit viel Stroh ausgefüttert. Durch all diese Maßnahmen ist kein Tier erfroren, sondern zur richtigen Zeit geschlachtet und gegessen worden.

Für Konrad war das Schlachten immer sehr spannend. Da fiel jedes Spielzeug aus der Hand, wenn ein Kaninchen geschlachtet wurde. Angangs wehrte sich die arme Kreatur, ahnend, was auf sie zukommt, mit allen Mitteln. Wehrlos hing es dann an der Hand des Vaters mit seinen Hinterläufen. Mit zwei bis drei kräftigen Schlägen mit einem Knüppel hinter die Ohren des Hasen war Ruhe, das Tier war betäubt. Anschließend schnitt der Vater dem Tier die Kehle durch und ließ das Blut in eine Schüssel laufen. Dann spannte er den Körper mit gespreizten Beinen zum Fellabziehen und zur weiteren Bearbeitung an der Küchentür auf. Für Konrad war das unheimlich interessant, wie sein Vater das machte. Felle, die nicht für den Eigenbedarf bestimmt waren, wurden zum Fellhändler gebracht. Hierfür gab es ein paar Mark, die Konrads Mutter dringend für die knappe Haushaltskasse brauchte.

Konrad war meist dabei, wenn die Mutter einkaufen ging. Die klägliche Zuteilung auf Lebensmittelmarken war schnell aufgebraucht, also gab es beim Fleischer nur Wurstzippel, das waren die Wurstenden. Die Fleischermeisterin gab sie billig ab, aber nicht umsonst. Konrad hatte sogar eine Patentante, die mit ihrem Mann einen kleinen Lebensmittelladen führte. Hier kaufte Konrads Mutter meist das Lebensnotwendigste ein. Meist ließ sie anschreiben. Konrad bekam immer einen Bonbon. Die Patentante war lieb und auch mit der Mutter immer freundlich. Ihr Mann betrieb im städtischen Stadtgraben eine Fischzucht. Einmal im Jahr wurde abgefischt, das war ein großes Ereignis für die kleine Stadt. Viel Volk versammelte sich am Ufer des Stadtgrabens. Dieser war ein offener Ring. Die Fischer konnten somit mit Netzen von der Mitte aus nach beiden Grabenenden die Fische treiben, bequem mit Keschern fangen und in große Handwagen verladen. Massenweise Fische war die Ernte für ein Jahr Arbeit. Der größte Teil der Fische wurde sofort vor Ort verkauft. Ein großer Teil wurde an die örtliche Fischbackstube geliefert, ein weiterer ging in den Laden zum Verkauf über mehrere Tage und Wochen. Selbstverständlich kam auch bei Konrads Familie Fisch auf den Tisch. Alle konnten sich wenigstens einmal richtig satt essen, vor allen Konrad, der hatte immer Hunger.

Wenn die Mutter Kartoffeln gestoppelt hatte, gab es Kartoffelpuffer. Wenn die Kartoffeln alle waren, gab es Puffer aus den Schalen von den letzten Kartoffeln. Die schmeckten eklig, machten aber ein wenig satt.

Brot war auch nicht immer da. Um etwas Ähnliches zu schaffen, fuhr die Mutter mit dem Fahrrad, und Konrad auf dem Gepäckträger, raus aufs nächste Getreidefeld zum Ährenlesen. Bei glühender Hitze wurde das abgeerntete Feld nach Ähren abgesucht, welche beim Mähen und Ernten abgefallen waren. Dabei stachen die Halmstoppeln Konrads kleine Waden blutig beim Gehen über das Feld. Konrad ertrug es, genau wie die Mutter, stillschweigend. Ein Sack musste mit Ähren voll werden, sonst lohnte sich das alles nicht. Sie waren auch nicht alleine auf dem Feld. Manchmal tauchte auch ein niederträchtiger Bauer auf und vertrieb die Menschen von seinem Feld.

Wenn es gut ging, hatte Konrads Mutter nach vielen Stunden den Sack voll Ähren und band ihn auf den besagten Transportgepäckträger des Fahrrades. Jetzt schob sie das Fahrrad, denn Konrad nun auch noch aufs Rad, weil er nicht mehr laufen konnte. Meist waren das einige Kilometer. Von Zeit zu Zeit setzte die Mutter ihn ab und sie machten eine Pause am Feldrand. Völlig kaputt und verschwitzt kamen sie im Garten an. An der Wasserpumpe und dem dazugehörenden Bassin kühlten sich beide erst einmal gründlich ab. Gegessen wurde Obst, vor allem Süßkirschen Ein riesiger Kirschbaum war der Liebling Konrads. Jedes Jahr trug dieser Baum eine Unmenge der herrlichsten Früchte. Konrad war schon auf dem Baum, pflückte und aß abwechselnd Kirschen. Die Mutter nahm sich kaum Zeit zum Essen. Sie bereitete schon das Dreschen der Getreideähren vor. Hierzu wurden die gesammelten Ähren ausgebreitet und mit dem Dreschflegel kräftig bearbeitet, bis alle Körner aus den Ähren gedroschen waren. Anschließend wurde mit einem Tuch darüber gewedelt, um die leichten Rückstände der Ähren vom Korn zu trennen. Mittels Sieb wurde zu guter Letzt das reine Getreide gewonnen. Der ganze Sack brachte schließlich das klägliche Ergebnis von zirka einem halben Kilogramm reinen Getreide. Das lohnte sich natürlich für die Weiterverarbeitung noch lange nicht und somit waren für die folgenden Tage noch weitere Einsätze dieser Art von Konrads Mutter geplant, denn wenn einmal die Bauern begannen, die Felder umzupflügen, war alles zu spät.

Age restriction:
0+
Release date on Litres:
22 December 2023
Volume:
160 p. 1 illustration
ISBN:
9783960083238
Copyright holder:
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Draft, audio format available
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