Gleichnisse

Text
Read preview
Mark as finished
How to read the book after purchase
Font:Smaller АаLarger Aa

2.4 Auswertung: Leitende Fragestellungen und Alternativen

Der obige Überblick über die Gleichnisforschung wird im Folgenden anhand der die Diskussion leitenden Alternativen systematisch ausgewertet.

2.4.1 Ein einziger vs. mehrere Vergleichspunkte

Jülicher sieht im Gleichnis das rhetorische Beweismittel für eine sittlich-religiöse ‚Satzwahrheit‘, die den Vergleichspunkt zwischen ‚Bildhälfte‘ und ‚Sachhälfte‘ darstellt. Die ‚Satzwahrheit‘ herauszufinden, sei das Ziel der Gleichnisexegese.1 Methodisch entsprechen dem die Rückgewinnung des Entstehungskontextes und die Rekonstruktion des Gleichnisses in seiner mündlichen Urgestalt. ‚Allegorische‘ Elemente (besser: Transfersignale) führt Jülicher auf das Missverständnis der Evangelisten zurück; die Auslegung solcher Elemente führe in die Irre.

Mit der Rehabilitation metaphorischer, das heißt bedeutungsoffener und deutungsbedürftiger, Redeweise erscheint Jülichers Auffassung überholt (→ 2.2.3). Methodisch leitend ist nunmehr die Rekonstruktion der ursprünglichen Verstehensbedingungen für Bildfelder, Metaphern, zeitgeschichtliche Anspielungen etc. sowie redaktionskritische Überlegungen zu Semantik und Sprachgebrauch des Autors (→ 2.2.6b-d). Die Deutungsoffenheit der Metaphern entspricht nach neuer Sichtweise der Deutungsoffenheit des Gleichnisses und der Annahme potenziell mehrerer Vergleichspunkte zwischen Bild- und Deutungsebene. Um der Gefahr allegorischer Auslegung zu entgehen, gilt die Pointe des Gleichnisses als kritisches Korrektiv (→ 2.5.5cd; 3.1).

2.4.2 Gleichnis vs. Allegorie

Jülichers Gleichnistheorie basiert auf der Entgegensetzung von Gleichnis/Vergleich (‚eigentlicher Rede‘) vs. Allegorie/Metapher (‚uneigentlicher Rede‘), von rhetorischem vs. po(i)etischem Zweck, von mündlicher Urform vs. verschriftlichter Gleichnisform, von einem einzigen vs. mehreren Vergleichspunkten sowie von methodischem Deutungspurismus vs. Auslegungsbedarf. Das dahinter stehende Jesusbild korrespondiert mit der Missverständnis- bzw. Verfälschungstheorie und dem Postulat eines Gleichnis-Idealtyps (→ 2.1.1f.; 2.5.5b). Die Beobachtung von Mischformen als Regelfall frühjüdischer meschalím, die ‚metaphorische Wende‘ und die Revision des Allegoriebegriffs1 erweisen den Gegensatz von Gleichnis und Allegorie als Scheinalternative (→ 2.2.1; 2.2.3; 2.2.5; 2.5.2a).

Allegorisierung wird heute weithin als historische und hermeneutische conditio sine qua non einer gelingenden Neukontextualisierung und Aktualisierung des ursprünglichen Textes verstanden.2 Die Allegorie gilt heute einerseits als Stilmittel auch im nicht-literarischen Bereich, andererseits als Gattungsbegriff, der auf Texte mit hermetischer Grundtendenz einzugrenzen ist (→ 2.2.5b; 2.5.2a).

2.4.3 Rhetorischer vs. po(i)etischer Zweck

Jülicher verstand Gleichnisse als rhetorische Argumentations- und Beweismittel, die durch die Rekonstruktion des tertium comparationis im Sinne einer sittlich-religiösen Satzwahrheit in nicht-vergleichende Rede zu überführen sei. Die ‚metaphorische Wende‘ führte zum Neuverständnis der Texte als poetischer, ja poietischer Gattung, deren Sinnpotenzial sich nicht in einer Satzwahrheit erschöpfe, sondern in die Neubeschreibung bzw. Neukonstituierung der Wirklichkeit münde (→ 2.2.3b; 2.5.4b). Gleichnisse gelten als erweiterte Metaphern und als hermeneutisch adäquate Form, von Gottes Wirklichkeit zu sprechen (→ 2.2.3c; 2.5.4c). Hieraus ergibt sich die Auffassung, Gleichnisse seien ein Offenbarungsmedium sui generis und die Realisierung des Reiches Gottes ein Sprachereignis (→ 2.2.3d; 2.5.4d).

Die Gleichnisform gilt in der Folge aufgrund ihrer Fiktionalität und Narrativität als unersetzbar, da nur sie einen ‚metaphorischen Prozess‘ in Gang setzen könne, der zur Entdeckung der Wirklichkeit Gottes führt. Dies gilt, so Harnisch, nur für die mündlichen Gleichnisse; die Verschriftlichung führe zu einem ‚Sprachverlust‘.1 – Die jüngste Gleichnisforschung betont das Wechselspiel zwischen rhetorisch-argumentativer und poetischer Gleichnisfunktion (→ 2.3c). Vergleichende Rede setze nicht-vergleichende Argumentation mit anderen Mitteln fort. Der Rückgriff auf vergleichende Sprache biete den Vorteil, dass das argumentative Lernziel nicht nur kognitiv, sondern auch affektiv-praktisch vermittelt wird. Gleichnisse seien Jesu Kampf um die Herzen der Menschen (vgl. → 2.2.6b).2

2.4.4 Kontextualität / Autorintention vs. ästhetische Autonomie / Leserzentriertheit

Für Vertreter der Kontextgebundenheit der Gleichnisse ist die Bedeutungsrichtung eines Gleichnisses durch seinen historischen bzw. literarischen Kontext und durch die Intention des Autors vorgegeben. Der Kontext gilt als die maßgebliche Instanz, die über den Textsinn entscheidet. Dem entspricht das Verständnis vom Gleichnis als einem rhetorischen Argumentationsmittel. Vertreter der po(i)etischen Sichtweise betonen hingegen die prinzipielle Deutungsoffenheit des Gleichnisses im Sinne ästhetischer Autonomie (→ 2.2.6g). Damit erscheint der Textsinn abgelöst von kontextuellen Faktoren; das Gleichnis entwickle als poetisches Kunstwerk eine Eigendynamik, was den Textsinn anbelangt. Die Sinnkonstitution ergebe sich im individuellen Rezeptionsvorgang jeweils neu und vielgestaltig.1 Diese Auffassung korreliert mit der vom Sprachereignis, das je und je in der Begegnung mit der Gleichnisbotschaft stattfinde. Die historische Analyse zur Erschließung des ursprünglichen Textsinns wird hier als inadäquat abgelehnt.2 Das, worum es im Gleichnis geht, sei überzeitlich und betreffe die Menschen aller Zeiten und Kulturen gleichermaßen. Die narrativ-poetische Gleichnisform sorge dafür, dass sich der theologische Bezugsrahmen je und je neu und unmittelbar, ohne Rekurs auf historische Gegebenheiten, ergibt (→ 2.2.3; 2.5.3a; 2.5.4d).3

2.4.5 Theologische Inhalte vs. ‚Sprachereignis‘

Ist das Gleichnis ein Sprachereignis, ist sein Inhalt ein Ereignis, das sich je und je im Hören oder Lesen des Gleichnisses einstellt – eine individuelle Begegnung mit der Gottesherrschaft und deren aktuelle Realisierung (→ 1.5.11; 2.2.3d). Der Akzent liege auf dem punktuellen Geschehen der Glaubenserfahrung bzw. Offenbarung Gottes im Gleichnis; das sei die poíesis des po(i)etisch wirkenden Textes.1 Hier einen theologischen Bezugsrahmen suchen zu wollen, wäre verfehlt. – Anders die rhetorisch-argumentative Sichtweise: Das Gleichnis transportiere als Teil eines historischen Kommunikationsgeschehens einen theologischen Inhalt (→ 2.2.6b; 2.5.6), woraus sich die Frage nach dem historischen Textsinn bzw. nach der Autorintention und den Rezeptionsbedingungen der Adressaten ergibt.

Diese Alternative spaltet nach wie vor die Gleichnisforschung in zwei Lager. Gegen die Theorie vom Sprachereignis wird kritisch eingewandt2: a) Die Realisierung der Gottesherrschaft im Vollzug des Hörens des Gleichnisses sei nicht überprüfbar; b) Nachprüfbar sei die Vermittlung komplexer religiöser Erfahrung; c) Die Rede vom Sprachereignis sei eine reine Glaubenswahrheit und apologetisch (Dokumentation der Einzigartigkeit der Predigt Jesu; → 2.4.6; 2.5.4d); d) Die Reduktion des theologischen Inhalts auf die Gottesherrschaft werde von den Gleichnissen nicht gedeckt (→ 2.5.6). – Die Alternative entpuppt sich bei näherem Hinsehen als Scheinalternative: Rhetorik und Poetik gehen beim Gleichnis Hand in Hand, historisches Verstehen und affektives Angerührtsein ebenso. Die Gottesherrschaft (oder was auch immer als theologischer Bezugsrahmen des Gleichnisses anzusehen ist) gewinnt im Gleichnis Konkretion; dieser poetische Aspekt der Gleichnisse ist jedoch nicht loszulösen von dem rhetorisch-argumentativen Aspekt (→ 2.5.3b).

2.4.6 Mündliche vs. schriftliche Gleichnisse

Diese Entgegensetzung schlug sich ab der ‚metaphorischen Wende‘ in der hermeneutischen Hochschätzung der mündlichen Gleichnisrede Jesu als Sprachereignis und in der Negativbewertung des Verschriftlichungsprozesses nieder (→ 2.2.3dg; 2.5.5b).1 Dem wird in der neueren Gleichnisforschung widersprochen; das Postulat einer kontextfreien Rezeptionssituation erscheint demnach ebenso fragwürdig wie die hermeneutische Abwertung der schriftlichen Endgestalt der Gleichnisse.2 Das apologetische Interesse, die Einzigartikeit der Gleichnisrede Jesu herauszustellen, deute außerdem auf dogmatische Voreingenommenheit der Exegeten hin (→ 2.2.4; 2.5.8).

2.4.7 Auslegungsbedarf vs. -abstinenz

Jülicher lehnte die Deutung der Gleichnisse ab, da sie ursprünglich keinerlei Deutung benötigten (→ 2.1). Vertreter der Sprachereignis-Theorie lehnen die Deutung ab, da weder der historisch-literarische Kontext noch die Autorintention für das Verstehen ausschlaggebend seien. Vielmehr sei die Wirkung der Erzählung im Sinne eines ‚metaphorischen Prozesses‘, in welchem sich Gottes Liebe und Herrschaft realisierten, entscheidend (→ 2.2.3). Auslegungsabstinenz ist, so gesehen, die Folge einer verengten Sichtweise (das Gleichnis als rhetorisch-argumentative oder als po(i)etische Sprachform). Demgegenüber plädiert der vorliegende Band für eine Verschränkung historischer und narrativer, rhetorischer und poetischer Betrachtungsweisen (→ 2.5.5c). Der jeweilige Textsinn eines Gleichnisses ist durch diachrone (historisch-sozialgeschichtliche, traditionsgeschichtliche, religionsgeschichtliche) und durch synchrone (kompositions- und redaktionskritische, textlinguistische, formkritische, textpragmatische) Methodenschritte zu erheben.

 

2.4.8 Reich Gottes vs. Vielfalt theologischer Inhalte

Ist das ‚Reich Gottes‘ bzw. die ‚Gottesherrschaft‘ das Passepartout der Gleichnisauslegung oder ist mit unterschiedlichen theologischen Bezugsgrößen zu rechnen? Die Gleichnisforschung nennt seit Jülicher stereotyp die basileía Gottes als ‚Sache‘ der Gleichnisse (zur Diskussion → 1.5.10). Da nur ein Teil der Gleichnisse die Gottesherrschaft explizit als Bezugsrahmen nennt und es sich bei der Rede von der basileía um eine Rahmenmetapher für Gottes Wirklichkeit handelt, erscheint es sachgemäß, nicht vom ‚Reich Gottes‘ als der einen ‚Sache‘, sondern von einem theologischen Bezugsrahmen zu sprechen, der unterschiedliche Aspekte der göttlichen Wirklichkeit enthält (→ 2.5.6).

2.4.9 Gleichnistypen vs. ‚alles Parabel‘

Die formkritische Einteilung der Gleichnisstoffe (→ 2.1.3) wurde schon früh mit Verweis auf zahlreiche Mischformen kritisiert (→ 2.2.1).1 In jüngster Zeit wird sie unter Verweis auf die antike Rhetorik und auf den biblischen Sprachgebrauch zurückgewiesen.2 Doch ist der Versuch, Gleichnistypen zu bestimmen, legitim, denn er entspringt dem Bedürfnis, das Phänomen Gleichnisse in seiner Differenziertheit zu erfassen.3 Zu fragen ist, ob es eine Alternative zur formkritischen Klassifikation gibt. Der vorliegende Ansatz versucht, von der Textpragmatik aus zu einer zumindest heuristisch tragfähigen Einteilung zu gelangen (→ 2.5.7).

2.4.10 Fazit: Der Erkenntnisgewinn aus hundert Jahren Gleichnisforschung
a) Bleibende Grundeinsichten Jülichers

Folgende Grundeinsichten Jülichers stehen nach wie vor in Geltung: Erstens, Gleichnisse sind nicht willkürlich, je nach theologischem Gusto, auszulegen; Allegorese verbietet sich im wissenschaftlichen Diskurs weitgehend (Ausnahme: → 2.5.5d). Dem entspricht die methodische Fokussierung auf den Zielgedanken (Pointe). Dies verhindert Allegorese. Zweitens, Jülichers Problemhorizont gibt nach wie vor den Rahmen der Gleichnisforschung vor. Drittens, die hohe Wertschätzung der Gleichnisse als Urgestein der Jesuserinnerung ist bis heute ein wichtiger und weithin unwidersprochener Impuls der Frage nach den Gleichnissen.1

b) Leitende Alternativen und Scheinalternativen

Die Gleichnisforschung bewegt sich seit Jülicher weitgehend in einem Raster von Alternativen bzw. Scheinalternativen, die die Diskussion befördern, aber auch behindern. Diese Alternativen lauten1:

 1. formkritischer Aspekt: Gleichnis [Vergleich] vs. Allegorie [Metapher] bzw. ‚eigentliche‘ vs. ‚uneigentliche‘ Rede (Frage der sprachlich-rhetorischen Grundunterscheidung).

 2. formkritischer Aspekt: Mündliche vs. verschriftlichte Gleichnisse (Frage des Gleichnis-Idealtyps).

 3. formkritischer Aspekt: Einzigartigkeit vs. religionsgeschichtliche Einbettung und Vergleichbarkeit (Frage des Alleinstellungsmerkmals Jesu).

 4. formkritischer Aspekt: Verschiedene Gleichnistypen vs. ‚alles Parabel!‘ (Frage der Binnendifferenzierung).

 1. hermeneutischer Aspekt: rhetorisch-argumentativer vs. po(i)etischer Zweck (Frage des Verhältnisses von Form und Inhalt).

 2. hermeneutischer Aspekt: Verfälschungsprozess bzw. Sprachverlust vs. notwendige Aktualisierung (Frage der historischen Adaption).

 3. hermeneutischer Aspekt: Vermittlung von Inhalten vs. ‚Sprachereignis‘ bzw. Offenbarungsmedium sui generis (Frage der Sprachkraft).

 4. hermeneutischer Aspekt: Kontextualität vs. ästhetische Autonomie (Frage der [un-]mittelbaren Wirkung).

 1. exegetischer Aspekt: Ein einziges tertium comparationis vs. mehrere Vergleichspunkte (Frage der Substituierbarkeit von Gleichnis / Metapher).

 2. exegetischer Aspekt: Rekonstruktion der Urform (diachron) vs. Betrachtung der Endgestalt (synchron).

 3. exegetischer Aspekt: Decodierung der Metaphorik vs. Auslegungsabstinenz (Frage der intentionalen Eindeutigkeit einer parabolḗ).

 4a. exegetischer Aspekt: Frage nach Autorintention vs. Leserzentriertheit.

 4b. exegetischer Aspekt: Reich Gottes vs. Vielfalt theologischer Inhalte.

Die tabellarische Übersicht zeigt die Erkenntnis leitenden Fragen und die innere Verflechtung der leitenden Alternativen der Gleichnisforschung auf:


Aspekte, Leitfragen formkritisch hermeneutisch exegetisch
1 Zweck bildhafter Sprache; Jesus als Pädagoge, Esoteriker oder Po(i)etiker Gleichnis/Vergleich vs. Allegorie/Metapher rhetorisch/argumentativ vs. po(i)etisch ein einziges tertium comparationis vs. mehrere Vergleichspunkte
2 Idealtyp; ipsissima vox Jesu als hermeneutisch letztgültig relevante Instanz mündliche vs. schriftliche Gleichnisse authentische, sachgemäße Aktualisierung vs. Verfälschung/Sprachverlust Rekonstruktion der Urform vs. redaktionskritische Betrachtung
3 Verhältnis von Form und Inhalt; Sprachkraft; mehrdimensionales Alleinstellungsmerkmal Jesu Einzigartigkeit vs. religionsgeschichtliche Einbettung und Vergleichbarkeit Vermittlung von Inhalten vs. Sprachereignis / Offenbarungsmedium sui generis Decodierung der Metaphorik vs. Verzicht auf Auslegung.
4 Unterschiedliches: Binnendifferenzierung // Frage nach der bedeutungsgebenden Instanz Verschiedene Gleichnistypen vs. alles Parabel Kontextualität der Gleichnisse vs. ästhetische Autonomie Autorintention vs. Leserzentriertheit. – Reich Gottes vs. Vielfalt theologischer Inhalte

c) Apologetische Tendenzen / Die Jesusfrage

Deutlich ist die Interdependenz von Gleichnisforschung und Jesusfrage. Als ‚Urgestein‘ der Jesusüberlieferung gelten die Gleichnisse zugleich als Schlüssel zum historischen, besser: erinnerten Jesus. Das erklärt apologetische, die Gleichnisse Jesu exklusivierende Tendenzen. Die Diskussion um die Gleichnisse ist zugleich eine Diskussion um den Kern der Botschaft Jesu und um ihr religionsgeschichtliches, formkritisches und hermeneutisch-theologisches Alleinstellungsmerkmal. Diese theologischen und apologetischen Tendenzen sind für die Gleichnisforschung problematisch. Es handelt sich (1) um das Postulat eines ursprünglichen Idealtyps von Gleichnis, verbunden mit (2) einem bestimmten Jesusbild, (3) die grundsätzliche hermeneutische Höherbewertung des Ursprünglichen gegenüber späteren Entwicklungen, (4) dogmatische Vorentscheidungen über den Inhalt der genuinen Botschaft Jesu sowie (5) apologetisch zu nennende Abgrenzungsversuche von der religionsgeschichtlichen Umwelt in formkritischer und theologisch-hermeneutischer Hinsicht.1 Der Verzicht auf diese dogmatisch-apologetischen Vorgaben ermöglicht eine differenzierte, religionsgeschichtlich und historisch verifizierbare Einbettung der Gleichnisse und ihrer Botschaft in ihren Entstehungskontext. Das ist der Ausgangspunkt des nachfolgenden gleichnistheoretischen Entwurfs.

2.5 Aspekte einer weiterführenden Gleichnistheorie

Die Bilanz der Gleichnisforschung führt folgerichtig zu integrativen Konzepten, die (Schein-)Alternativen zu überwinden und dogmatische bzw. hermeneutische Vorentscheidungen mit apologetischer Tendenz zu vermeiden suchen. Auf dieser Grundlage konturiert sich das folgende gleichnistheoretische Modell.

2.5.1 Sprachliche und narrative Merkmale

Gleichnisse sind eine äußerst pluriforme Textgattung; das Bedeutungsspektrum der zugrunde liegenden Begriffe (gr. parabolḗ; hebr. maschál) ist sehr breit (→ 1.4.1). Dass sie alle unter ein und demselben Begriff Platz finden, verdanken sie mehreren gemeinsamen Merkmalen.

a) Analogischer Charakter

Alle vergleichenden Formen, ob Tropen oder narrativ ausgestaltete Gleichnisse, leben von Analogie. Vergleichende Texte verbinden zwei ursprünglich selbstständige Wirklichkeitsbereiche miteinander (Bildspender, Bildempfänger).1 Narrativ ausgestaltete Gleichnisse haben zwei Bedeutungsebenen: die wörtliche Erzählebene und eine dahinter liegende Deutungsebene. Die Erzählebene ist grundsätzlich konterdeterminiert, das heißt, die Deutungsebene kommt im Erzählten nicht oder nur versteckt vor; das verleiht der Erzählung eine zentripetale Struktur: Die Adressaten des Gleichnisses fokussieren sich primär auf das Erzählte, nicht auf das Gemeinte. Der Grad der Konterdetermination kann freilich schwanken.

Beispiele: Das Sämanngleichnis Mk 4,3-9 ist extrem konterdeterminiert und provoziert damit Allegorese (Mk 4,14-20). Lukanische Gleichnisse verschränken zum Teil Erzähl- und Deutungsebene miteinander (Lk 10,30-37; 16,19-31; 18,9-14), ebenso die ‚Parömien‘ Joh 10,1-18 und Joh 15,1-8.

Der analogische Charakter hebt vergleichende Texte aus dem literarischen Kontext heraus. Der narrative Basisplot (Ausgangsebene, Jesus und sein sonstiges Wirken) wird unterbrochen, die Semantik wechselt zur Erzähl- bzw. Bildebene. Am Ende erfolgt die Rückkehr zur semantischen Ausgangsebene. Zwischen Ausgangs- und Erzählebene vermittelt bei Gleichnissen häufig, aber nicht immer, eine Übergangsebene (Einleitung, Weckruf, sentenzartiger Schluss, Anwendung).

Beispiele: Der Weckruf ‚Wer Ohren hat zu hören, der höre!‘ (Mk 4,9) weist im Nachgang auf einen tieferen Sinn des Sämanngleichnisses hin. – Die Einleitungsformel ‚Mit dem Reich Gottes ist es so, wie wenn …‘ (Mk 4,26) o.ä. verweist explizit auf den Deutungsrahmen. – Die Schluss-Sentenz ‚So werden die Letzten die Ersten und die Ersten die Letzten sein‘ (Mt 20,16) kennzeichnet das Weinberg-Gleichnis als Deutung der gleichlautenden Sentenz Mt 19,30. – Die Anwendung Lk 10,37 ‚Geh hin und tue desgleichen‘ markiert das Samaritaner-Gleichnis als Exemplum für das geforderte Tun.