Gegenkulturelle Tendenzen im postdramatischen Theater

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2.1.4. Das Orgien-Mysterien-Theater und die aktuelle soziokulturelle Situation

Das Orgien-Mysterien-Theater ist innerhalb der aktuellen soziokulturellen Umstände für die Mehrheit ein tabubrechendes und somit hochproblematisches Gesamtkunstwerk, das Verdrängtes in der Lebenswelt mit extremen, künstlerisch-devianten Ausdrucksmitteln aktionistisch vor Augen führt. Abgesehen von der kulturellen Ausgangslage bezüglich der „Rahmenbedingungen und Referenzpunkte des Wiener Aktionismus in Österreich“1 sowie der neoavantgardistischen künstlerischen Strömungen der 1950er- und 1960er-Jahre (wie Fluxus, Happening, Action Painting etc.) wurzelt Nitschs Orgien-Mysterien-Theater auch im Tachismus. Durch den Surrealismus und Dadaismus bedingt, lässt sich der Tachismus als eine andere künstlerische Schaffensweise auffassen – mit dem Ziel, nichts zu reproduzieren oder abzubilden, was bereits in der Natur vorhanden ist. Für Nitsch bedeutet dies künstlerisches Schaffen und intensives Erleben neuer Wirklichkeitsbereiche.2 Dieses besondere Verständnis des Tachismus verbindet er mit dramatischen sowie aktionistischen Arbeitsweisen, um die Grundrisse seines Orgien-Mysterien-Theaters festzulegen.3 Dies führt ihn nicht nur zum Rückgriff auf die Tragödie der griechischen Antike und auf deren kultisch-religiöse Vorstufen, sondern auch auf das Gesamtkunstwerk von Richard Wagner, Friedrich Nietzsche und Antonin Artaud.4 Zugleich distanziert er sich vom dramatischen/klassischen Theater Europas wegen des für ihn wichtigen, intensiven Erlebens neuer Wirklichkeitsräume mit der einhergehenden tragischen Erfahrung:

mich störte die trennung zwischen drama und lyrik, ich wollte letztere wesentlich stärker als bisher in den spielablauf bringen, aber ohne seine dramatische kraft zu vermindern. dies führte zu einer fast barock wuchernden, dem expressiv surrealen nahestehenden wortschöpferischen sinnlichen intensität, welche die sprache durchbrechen musste, um zum gestalten mit der wirklichkeit zu gelangen.5

Nitschs Theaterkonzept als Kritik an der Form des klassischen Theaters kommt in diesem Zitat zum Ausdruck, indem er sich, wie im nächsten Punkt ausführlich aufgezeigt wird, mit der europäischen Theatergeschichte auseinanderersetzt. Dies bewegt ihn gleichzeitig zur intensiven Beschäftigung mit dem Wesen der Tragödie und der kultisch-religiösen Vorstufen in der griechischen Antike sowie mit der Opferhandlung in der christlichen Religion. In diesem Zusammenhang steht das Orgien-Mysterien-Theater der Institution der christlichen Religion institutionskritisch gegenüber. Von Anfang an werden Nitschs ekstatische Aktionen mit Fleisch, Blut und Gedärmen aus einer in die Tiefe der menschlichen Psyche lotenden, bewusstmachenden Abreaktion vollzogen. Das Ziel sei dahingehend gewesen, Verdrängtes nach außen zu bewegen und bewusst zu machen. An den alten religiösen Opfern interessiert Nitsch ihr Abreaktionscharakter, die instinktive Suche nach sinnlich intensiven Erlebnissen, welche die Opfervorgänge einst charakterisiert haben. Das Orgien-Mysterien-Theater ist außerdem ein Beispiel postdramatischer Theaterpraxen, die das adäquate Darstellungsmedium des Entsetzens6 bestätigen, welches im Sinne von Lehmann wiederum das Theater brauche und das Drama aber hinter sich lassen müsse.7 Für die entsetzlichen Gegebenheiten, die zu Wiederaufnahmen der Grundmotive sowie Strukturen der Tragödie und ihrer religiösen Vorstufen in der griechischen Antike bewegen, fallen – z.B. in der aktuellen Lebenswelt – die fortwährenden Auseinandersetzungen mit ebenso tragischen „Unfällen, Katastrophen in der Natur und Technik, Terrorattacken, Amoklauf, […] «Schicksalsschlägen» wie Krankheiten, schweren Verlusten und Sterben“ an. „Tragödie und mit ihr die Erfahrung von Niederlage, Scheitern, Zusammenbruch wird öffentlich nach Kräften verleugnet, bleibt aber im seelischen Erleben virulent.“8 1989 ist nach dem Fall der Berliner Mauer die Lebenswelt erneut in Konflikte gestürzt, die unter anderem auf den Trojanischen Krieg rückprojiziert werden könnten. Währenddessen wird in der aktuellen Theaterpraxis die rituelle, soziokulturelle sowie politische Dimension blutiger Opfer sowie tragischer Erfahrungen in der antiken griechischen Tragödie wiedergewonnen – wegen ihrer öffentlichen Aushandlung und Darstellung von Gewalt, Terror, Rache und Machtverhältnissen etc.9 Hierfür werden z.B. ungewohnte und fremd gewordene künstlerische sowie ästhetische Ausdrucksmittel verwendet, die bestehende institutionelle und kulturelle Konventionen erschüttern.

2.1.5. Institutionskritische Teilentwicklungen von Nitschs Theateransatz
2.1.5.1. Von der klassischen Malerei zum Aktionstheater

Wie bereits angedeutet, bezieht sich Nitsch in den ersten Entwicklungsphasen seines Orgien-Mysterien-Theaters explizit auf traditionelle Ausdrucksmittel der Malerei und der klassischen Gattung des Theaters. Die traditionellen Parameter des Tafelbildes in der Malerei und der Struktur im dramatischen Theater erweitert er sogleich.1 Fünf entscheidende Schritte markieren die gesamte Entwicklung seines Theaterkonzepts – von der Idee bis zur Realisation des Sechstagespiels. In Eva Badura-Triskas Artikel „Die Erweiterung der Malerei. Vom Tafelbild zur Aktion“ kann der erste Schritt in der traditionellen Malerei verortet werden: Während seines Studiums 1957 an der Wiener Grafischen Lehr- und Versuchsanstalt ist Nitschs Idee des Orgien-Mysterien-Theaters entstanden. Bereits seine frühesten figürlichen Malereien, in denen er Werke alter Meister teilweise reproduziert hat, zeigen religiöse Themen – vor allem das Leid und Kreuz Christi. Diese religiösen Motive werden seiner Theatervision entsprechend auf den Kult des Seinsmysteriums erweitert: Die Intensivierung der Lebenserfahrung durch die künstlerische Übernahme kultischer und religiöser Funktionen soll in Form eines Gesamtkunstwerks konkretisiert werden. Um das Hauptanliegen seines Theaterentwurfs – Katharsis, Abreaktion, intensives Erleben, Schaffen neuer Wirklichkeitsbereiche, äußerst sinnliche Beanspruchung, exzessive Orgiastik – hervorrufen zu können, nimmt er Bezug auf die Psychoanalysearbeiten von Sigmund Freud und Carl Gustav Jung. Außerdem sieht Nitsch in religiösen performativen Ausführungen die prägnante Manifestation seiner künstlerischen Vision.2

Auf dieser Basis sucht Nitsch ab der zweiten Teilentwicklungsphase die passende künstlerische Formulierung: Das Kennenlernen des Tachismus im Jahr 1959 während einer Ausstellung im Wiener Künstlerhaus bewegt Nitsch 1960 zur Wiederaufnahme der malerischen Tätigkeit, mit der er zwischenzeitig aufgehört hatte. Den Tachismus habe Nitsch als Möglichkeit begriffen, um sein Anliegen der Vermittlung intensiver sinnlicher und psychischer Erfahrung in diesem Medium zu realisieren. Für Nitsch selbst habe das innerste, vielleicht gar nicht erkannte Anliegen des Tachismus im Dionysisch-Dynamischen gelegen: die Erregung, die Lustaufwallung, die Enthemmung, die Ekstase, die Lösung tief liegender Stauungen sollten gezeigt werden.3 Seine malerische Aktivität betont ab diesem Zeitpunkt die sinnlichen Qualitäten des verwendeten Materials und den Entstehungsprozess seiner abstrakten Bilder: Wie Badura-Triska feststellt, trägt er Ölfarbe und manchmal Wachs in zahlreichen Schichten auf bzw. lässt sie vom oberen Bildrand nach unten rinnen. So gelangt er zu rahmenüberschreitenden Schüttbildern, die den Malprozess mit Schütten von Farben – mit dünnem Farbauftrag und Konzentration auf rote Farbe – überwiegend hervorheben, indem die Farbe in einem Schwall und explosionsartig spritzend auf die Leinwand aufschlägt. Für Badura-Triska markierte Nitsch mit diesen beiden, letztlich diametral entgegengesetzten Gestaltungsmodi „jene polar einander gegenüberstehenden elementaren psychischen Erfahrungspole, die beide in seinem Schaffen immer eine Rolle spielen: das Ekstatische und das Kontemplative.“4

In der dritten Teilentwicklungsphase geht es Nitsch stärker um eine theatrale Inszenierung des sich motorisch bewegenden menschlichen Körpers bei den bildgenerierenden Vorgängen in malaktionistischer Form, die überwiegend aus Bewegung, Schütten und Rinnenlassen von Farben besteht. Bis zu diesem dritten Entwicklungspunkt verwendete Nitsch ausschließlich traditionelles Arbeitsmaterial der Malerei. Nur den Gestaltungsmodus und das Ausmaß der Bilder hatte er radikal verändert:

Auf riesige Malgründe spritzt und schüttet er rote Farbe. Er arbeitet mit Pinseln und Schwämmen ebenso wie mit den Fingern und schüttet die Farbe auch direkt aus verschiedenen Gefäßen. Wesentlich ist ihm der üppige Umgang mit Farbmaterie als ins Extrem gesteigerte sinnliche Erfahrung, aber auch die zunehmend raumgreifende Dimension der Malerei wie des Malaktes als Möglichkeit körperlichen beziehungsweise psychischen Ausagierens und Abreagierens. Erstmals bei seiner 4. Malaktion – wie dann auch bei der 5. und 6. – agiert Nitsch an allen vier, mit weißem Packpapier bespannten Wänden des Raumes. Er ist dabei erstmals mit einem weißen, kuttenartigen Gewand bekleidet, das er und seine Akteure in der Folge oft bei Aktionen tragen sollen.5

Hier hat sich Nitsch deutlich zur informellen Aktionsmalerei hinbewegt, die auf dem Tachismus beruht. Dabei wurde das Malen selbst zum anschaubaren Prozess, wie das Action Painting zum Schaumalen wurde. Für Nitsch wird somit die Malerei zum Theaterereignis, weil eben die Malerei einen Zeitablauf beansprucht. Aber nicht nur das: Bei dieser theaterereignishaften Aktionsmalerei bzw. informellen Malerei werden triebhafte, elementare sinnliche Intentionen, unbewusste Energien, Begierden und Empfindungswünsche besonders in die Form umgesetzt.6 Um dieses Anliegen zu erreichen, lässt Nitsch seine informelle Triebbefriedigungsmalerei mit provoziertem, sinnlich exzessivem Genießen zunehmend konkreter werden, sodass er die gesamten Produktions- sowie Rahmenbedingungen der Malerei ins Reale erweitert. Die rasch hintereinander durchgeführten vierten und fünften Schritte haben zum Meilenstein das Manifest Die Blutorgel. Wurden in den vorherigen Entwicklungsphasen trotz der radikal veränderten Gestaltungsmodi nur Arbeitsmaterialien aus der traditionellen Malerei benutzt, bezieht Nitsch von nun an nicht nur reale Tier- sowie Menschenkörper, sondern auch unterschiedliche Gegenstände, Objekte sowie allerlei mögliche Substanzen in seine Kunst mit ein. Die als Blutorgel bezeichnete dreitägige Arbeitsklausur hat in diesem Sinne alle malerischen Produktionskonventionen sowie bestehenden künstlerisch-institutionellen und soziokulturellen Normen definitiv hinter sich gelassen und den Weg zur Verwirklichung seiner Theatervision geebnet:

 

[Schritt für Schritt] entsteht zunächst eine Aktionsmalerei mit roter Farbe auf einer zwei mal neun Meter großen, weiß grundierten Bildfläche […]. Danach spannt Nitsch weißen Stoff an eine Wand und hängt davor ein abgehäutetes totes Lamm, wie gekreuzigt, mit dem Kopf nach unten. Unter dieses wird ein mit einem weißen Tuch bedeckter Tisch gestellt, auf den Nitsch blutige Innereien und Gedärme legt, die mit Blut und heißem Wasser beschüttet werden. Die Malerei wird so in ein Agieren mit Objekten und Substanzen ausgeweitet.7

Auch wenn es in diesem Zusammenhang, wie Badura-Triska Nitschs Meinung wiederholt, um die Zurschaustellung der konkreten Objekte geht,8 möchte Nitsch Einblicke in verdrängte Wirklichkeiten der Lebenswelt verschaffen. Dies bestätigt Nitschs Betrachtungsweise der bis heute noch laufenden Tätigkeiten in Schlachthäusern – eine Betrachtung, die besonders mit seiner Vision des Aktionstheaters übereinstimmt: In der Tat hatte sich Nitsch bei einem Besuch des Wiener Schlachthofes stark ergriffen gefühlt und diesen als eigentliche Werkstatt der tragischen Erfahrung bezeichnet.9 Er ließ sich auf die Faszination, das Ekstatische und Kontemplative dieses intensiven Erlebnisses ein – wie er es sich für sein Orgien-Mysterien-Theater wünscht:

ich sah im schlachthaus wunderbare farben, farben wie von blumen. das blut floss und spritzte überall warm, heiss, hellrot herum; die frisch abgehäuteten, geöffneten kadaver dampften, heisser körperwarmer dunst stieg auf. die farben des fleisches waren abgestuft von rosarot über blutrot zu violettrot, zu einer perlmuttrigen farbkette. wurde ein tierleib geöffnet, aufgehackt, so war das, als würde man in volle weiche rosenhaufen greifen. rosenfarbiges fleisch zeigte sich, die gedärme quollen bläulich-grünlich, warm, schleimig aus den aufgehackten leibern; alle handlungen, alle objekte und substanzen im schlachthaus forderten zu sinnlich-intensivem registrieren auf. das rohe fleisch, die gedärme und blutlachen wurden aus schläuchen mit kaltem wasser bespritzt. die lachen von warmem, heissem, farbigem purpur- bis scharlachrotem blut wurden vom kalten wasserstrahl weggefegt, hin zu abfluss. ich sah, dass ich mit meinen partituren recht hatte. die aktion, das aktionstheater schien mir das richtige zu sein; nur in diese richtung wollte ich in zukunft meine arbeit verwirklichen. alle informelle malerei schien mir blass, meine eigene malerei schien mir nur ein vehikel zu sein, welches nur unzulänglich all diese lebendigkeit ausdrückt, die sich hier ins tragische wendet und mit dem tod vermischt. das leben selbst, das volles, gesundes leben vernichten muss, um bestehen zu können, demonstriert sich. die dionysische lebensaufwallung tötet leben, damit leben nahrung erhält. das tragische […] veranschaulicht sich.10

Diese Eindrücke aus dem Wiener Schlachthof sind entscheidend für Nitschs künstlerische Laufbahn gewesen. Er hat mehrfach Schlachthöfe besucht, um dort unter seiner Anleitung fotografieren zu lassen und dies jeweils als Aktion zu begreifen.11 Diese Einsicht infolge der Besuche der Schlachthöfe lässt vermuten, dass Nitschs Orgien-Mysterien-Theater vielleicht nur eine Fantasie geblieben wäre, wenn seine Grundgedanken keine Übereinstimmung mit der lebensweltlichen Realität erfahren hätten. Im Grunde genommen ist die permanente Präsenz von Tierkadavern und Blut, die Nitsch zur Darstellung des mystischen Leitmotivs verwendet, eine performative Problematisierung der sinnlichen und tragischen Erfahrung, die auf eine ausgeblendete und verdrängte Art und Weise als Bestandteil der modernen zivilisierten Lebenswelt fortbesteht. Die Tiere werden beispielsweise für die Befriedigung von Grundbedürfnissen oder wegen kapitalistischer Geschäftsgier und menschlicher Raubtierhaftigkeit massenhaft immer wieder geschlachtet.12 Das Blut, das Nitsch erstmals während der Blutorgel-Klausur als Malfarbe eingesetzt hat,13 geht auf diese gleichzeitige Ergriffenheit und Faszination von Farben in allen ihren Variationen im besuchten Schlachthof zurück. Der Einbezug des menschlichen Körpers im Dezember 1962 hat die Konstruktion des Fundaments seines Orgien-Mysterien-Theaters abgeschlossen: „Wie gekreuzigt, lässt er sich selbst mit Ringen an die Wand eines Raumes fesseln und mit Farbe beschütten.“14 Am 8. März 1963 findet anlässlich der Eröffnung der Galerie des Psychoanalytikers Josef Dvorak die entscheidende Aktion statt, die zugleich als die erste öffentliche Veranstaltung des Wiener Aktionismus gilt und den Übergang zum Aktionstheater sowie die intensive Beschäftigung mit dem Theater markiert. In diesem Konnex steht Theater für Nitsch als ein lebendiger und geeigneter Bereich, die tragische Erfahrung, die dionysische Lebensaufwallung, wiederzubeleben. Für sein Theaterkonzept hat er von nun an die wesentlichen Elemente und Motive zusammengetragen: Gestaltungsmodi der Rinn- und Schüttvorgänge, Einsatz von Blut, Substanzen, Innereien und Gedärmen, Hereinnahme des menschlichen Körpers sowie das Opfertier Lamm.15 Diese Elemente und Motive bilden zugleich das Fundament seiner im Orgien-Mysterien-Theater kritischen Auseinandersetzung mit der Institution des dramatischen Theaters, mit der christlichen Religion sowie mit dem Wesen der Zivilisation. Angesichts der prozessualen Entwicklung des Orgien-Mysterien-Theaters, das wiederum Akzent auf künstlerische prozessuale Produktionsvorgänge und nicht auf das Kunstwerk als Endprodukt legt, würde es gerade in der gegenwärtigen Rezeption aufschlussreich sein, wenn das Orgien-Mysterien-Theater auch aus der Perspektive eines wirkungs- und erfahrungsästhetischen Prozesses, eines immerwährenden Prozesses von intensiven Realitätserlebnissen betrachtet werden könnte.

2.1.5.2. Vom dramatischen/klassischen bis zum aktionistischen Theatermodell

Auch die konventionellen Produktionsbedingungen des klassischen Theaters hat Nitsch schrittweise hinter sich gelassen: Von 1957 bis Mitte der 1960er-Jahre wandeln sich die Ausdrucksmittel des Orgien-Mysterien-Theaters radikal. Seine ersten Entwürfe lehnen sich an die Strukturen der klassischen Gattung des dramatischen Theaters an, obgleich Nitsch bereits damals das Theater reformieren und erneuern wollte. In seinem Aufsatz „Unterwelten. Die Zeichnungen als Planungen konkreter Architektur“ stellt Frank Gassner fest, dass Nitschs frühere Aktionen – wie z.B. die „Abreaktionsspiele I, II und III“ oder das „Bruststück“ – ihrer Struktur nach als Theaterstücke konzipiert worden seien.16 In seinen Theatertexten wolle Nitsch, die gesamte Schöpfungs- und Menschheitsgeschichte durchlaufend, die Entwicklung der Psyche und des Bewusstseins, in welchem sich zahlreiche Schichten überlagern, ausloten.17 Nicht nur die frühen Ergebnisse seiner informellen Malaktionen haben Nitsch zum Aktionstheater bewogen. Von 1957 bis 1962 gibt es in diesen früheren Texten Bemühungen, mit dem geschriebenen sowie gesprochenen Wort – der klassischen Gattung des dramatischen Theaters entsprechend – das dramatische Fest des Orgien-Mysterien-Theaters zu entwerfen. Dies sei missglückt – Nitsch habe 1962 die Texte beiseitegelegt und sich dem reinen Aktionstheater zugewandt.

aber schon ein jahr später erkannte ich den entwicklungsgeschichtlichen wert meiner verbalen versuche. ihre veröffentlichung zeigt die wurzeln des o. m. theaters. die frühen dichtungen enthalten durchaus unzulänglichkeiten, andererseits habe ich von der entstehungszeit bis zur drucklegung ständig versucht, die texte zu überarbeiten, zu verbessern, ohne aber ihre grundsubstanz zu verfälschen oder zu verleugnen. der sprung vom darstellungstheater (innerhalb welchem ereignisse gespielt, dargestellt werden) zur aktion, durch welche sich alles tatsächlich ereignet und nichts mehr gespielt wird, war mit jenem vergleichbar, den kandinsky von der gegenständlichen zur abstrakten malerei tat, und jenem, welcher schönberg von der tonalen zur atonalen musik brachte […]. einen ähnlichen entwicklungsweg hatte ich zu gehen. ich missbrauchte und strapazierte das wort, um etwas auszudrücken, was hinter dem wort lag, was sich mit dem wort nicht mehr bewältigen liess, und gelangte dadurch zum gestalten mit der wirklichkeit. es ging einfach nicht mehr, meine sprache noch mehr vollzupferchen mit bildhaften, intensiven, sinnlichen eindrücken. hauptwörter waren mit eigenschaftswörtern überhäuft, sinnliche assoziationen wurden immer differenzierter dargestellt und drängten zu wirklichkeit.18

Als Beispiel sei die Handlung seines Stückes „Bruststück“ wie ein unmittelbares Geschehen konzipiert, das nicht als So-als-ob, sondern als So-sein zu begreifen ist.19 Außerdem schwingen in seinen dichterischen Arbeiten bzw. Theaterstücken die Themen und Motive seiner frühen (während des Studiums an der Wiener Grafischen Lehr- und Versuchsanstalt entstandenen) Malereien mit: religiöse, figürlich thematische Zeichnungen, Opfer, Leiden, Kreuz Christi etc.20 Diese Texte deuten zugleich auf die bereits behandelten tabuisierten Elemente und auf die prozessualen bildgenerierenden Gestaltungsmodi seiner Malaktionen deutlich hin.

Gleich am Anfang der Urfassungen der ersten „Abreaktionsspiele“ merkt er z.B. in Klammern an, dass der jeweils eingefügte theoretische Text eine erweiterte Regieanweisung darstelle. Sie solle die jeweils vom Spiel geforderte Expression der Schreie und Aktionen verständlich machen.21 In der Folge entwickelt sich Nitschs Theater in Umfang und Dauer derart, dass es den Rahmen der denkbaren vorhandenen Aufführungsräume sprengen würde. Daher habe Nitsch begonnen, die Räume für seine Aktionen zu entwerfen. Außerdem sollen die damaligen gesellschaftlichen Gegebenheiten wenig günstig gewesen sein, damit eines seiner Stücke in einem Theaterhaus gezeigt werden könnte. Es sei nicht nötig gewesen, sich den architektonischen Gegebenheiten der bestehenden Theatergebäude anzupassen. Daher habe Nitsch in seinen Konzeptionen auf den konventionellen Theaterraum rasch verzichtet. Als alternativen Ort der Aufführung seiner Aktionen habe er z.B. Saal, Turnsaal, Veranstaltungshalle etc. erwähnt und dabei auch mit jedem unmittelbar narrativen Inhalt gebrochen.22

Bei Nitschs Suche nach geeigneten Räumen und Theaterreferenzen für die Verwirklichung seines Gesamtkunstwerks erscheinen ihm Richard Wagners sowie Antonin Artauds Theaterentwürfe und die antiken griechischen Ursprünge der Theaterereignisse als Sprungbrett. Die Wurzeln des antiken griechischen Theaters liegen zum einen, wie Brigitte Marschall in „Das Orgien Mysterien Theater und die europäische Theatergeschichte“ schreibt, in zahlreichen religiösen Kulten. Zum anderen halten wiederum diese kultischen praktizierten Riten die menschliche Gesellschaft zusammen, regulieren das Ordnungsgleichgewicht zwischen privatem und öffentlichem Leben und halten schließlich das Verhältnis des Menschen zum Universum strukturierend aufrecht. Sie seien deswegen an der Schnittstelle von Religion, Politik und Kunst angesiedelt.23 In dieser Hinsicht ist für Nitsch Richard Wagners „Parteinahme für eine Revolutionierung von Staat und Gesellschaft“24 ein Bezugspunkt. Wagner setzt sich in seinem Gesamtkunstwerkkonzept mit der altgriechischen Polis sowie mit ihren öffentlichen Theaterfesten auseinander. Daraus hat er sein Musikdrama entwickelt, in dem Kunst und Gesellschaftsutopie eng miteinander verbunden sind.25 Nitsch sieht bei Wagner eine Übereinstimmung mit vielen Punkten seiner künstlerischen Idee „der ästhetischen Dimension eines gigantischen, zeitlich ausgedehnten und alle Sinne ansprechenden episch-weihevollen Kollektiverlebnisses, das Läuterung bewirken soll.“26 Bei Wagners Schaffung des mystischen Musikdramas als akustische, optische und sprachliche Ausdrucksformen sowie beim zusammenführenden Gesamtkunstwerk mit seiner Hoffnung auf eine grundlegende Veränderung der Gesellschaft im Sinne einer Rückkehr zum Naturzustand27 bleibt Nitsch jedoch nicht stehen: Wagners Theaterbau in Bayreuth, „der strikt zwischen Publikum und Bühne trennt“, so Frank Gassner, „und einer klassischen Guckkastenbühne entspricht“,28 stellt Nitsch nicht zufrieden. Auch die wagnerische Zeitdimension – fünf Stunden Spieldauer – erscheint ihm als sehr gering, wenn man eine Analogie zu dem bereits beschriebenen Sechstagespiel zieht:

 

angeregt durch die musikdramen richard wagners, die griechische tragödie und die lyrik georg trakls, wollte ich, sicherlich bestimmt durch jugendlichen überschwang, alles bisher am theater dagewesene übertreffen. ich wollte die tatsache drama ins epische ausweiten. ich kannte die monumentalmalereien der alten meister des 16. und 17. jahrhunderts. lebensgrosse darstellung, auch auf dem theater, interessierte mich. ich fragte mich, warum das von richard wagner gesetzte mass von 5 stunden spieldauer nicht überschritten werden könnte. ich trug mich mit dem gedanken, ein drama zu schreiben, dessen aufführungsdauer tage beanspruchen sollte. es entstand der entwurf zu einem drama, dessen ablauf 6 tage benötigt, dies in analogie zur alttestamentarischen schöpfungsgeschichte.29

In dieser Hinsicht ist Antonin Artauds visionäres Theaterkonzept für Nitsch in vielfältiger Weise produktiver sowie weiterführend. Und wie Gassner es auf den Punkt bringt, ist Nitsch den Ideen von Artaud nicht nur zeitlich näher.30 In seinem ersten Manifest „Das Theater der Grausamkeit“ plädiert Artaud für ein Theater der Aktion, in dem die Abschaffung des Zuschauerraums wie der Bühne und die Ersetzung beider „durch eine Art von einem einzigen Ort ohne Abzäunung oder Barriere irgendwelcher Art […]“31 erfolgen soll. Zugleich sprechen Artaud und Nitsch mit nur wenigen Ausnahmen von dem gleichen Theateransatz: Einerseits geht es darum, mit einem anderen Theater Kritik an der bestehenden Institution des dramatischen Theaters, an der Zivilisation sowie Kultur zu üben und das Scheitern der Logik und des Wortes als rationale Ausdrucksmittel aufzuzeigen sowie die Kluft zwischen Körper und Geist32 zu füllen. Andererseits handelt es sich darum, Theater in ein magisches Ritual zurückzuwandeln, das an Zuschauer_innen – besser: an Teilnehmer_innen – einen Übergangsritus („rite de passage“) vollziehe.33

Obschon das Orgien-Mysterien-Theater „unabhängig von Artauds Theaterkonzept entstanden ist und [Nitsch] erst in den späten 1960er-Jahren dessen Schriften gelesen hat“,34 zeigt Nitschs Theateransatz deutliche Parallelen zu Artauds Schriften: „Das Theater und sein Double“ und „Pour finir avec le jugement de Dieu“. Ungeachtet seiner Originalität und Eigenartigkeit kann der institutions- sowie zivilisationskritische Anteil des Orgien-Mysterien-Theaters anhand einiger Schriften bzw. unverwirklichter oder utopisch gebliebener Theatervisionen Artauds aus postdramatischer sowie transkultureller Perspektive größtenteils veranschaulicht werden.

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