Gegenkulturelle Tendenzen im postdramatischen Theater

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2.1.2.2. Elemente und Organisation des Sechstagespiels

Damit die Durchführung des Sechstagespiels gelingt, wird eine sorgfältige Struktur und Organisation festgelegt. In diesem Zusammenhang ist Folgendes anzumerken: Obgleich sich Nitsch von den Regeln des konventionellen Theaters distanziert, hält er an konventionellen Organisationskriterien fest, welche die erfolgreiche und reibungslose Aufführung seiner ersten vollständigen Verwirklichung des Orgien-Mysterien-Theaters garantieren sollen.

Das Sechstagespiel ist eine theatrale Ästhetisierung des täglichen Lebens, die gesellschaftliche Alltagshandlungen in allen Erscheinungsformen präsentiert: essen, trinken, feiern, Sexualität, Leben sowie die Polarität der Daseinsfrage mit extremen Glücks-, Verzückungs- und Erregungszuständen, religiösen Praxen, opferrituellen Vorgängen, mit Hang zur Tötung und Destruktion, Verdrängungsmechanismen. Dafür stehen die Schlossanlagen in Prinzendorf als geeigneter Schauplatz. Die Aktionen des Sechstagespiels wurden mit vorbereiteten Geschmacks- und Geruchswerten möglichst synchron in Verbindung gebracht und so übermittelt, dass sie von den Zuschauer_innen registriert wurden. Wie noch gezeigt wird, ist das Orgien-Mysterien-Theater voller Anspielungen auf Elemente bzw. Vorgänge der christlichen Religion.

Die Realisation des Sechstagespiels geschah sechs Tage lang wie im realen Alltagszeitablauf – nicht im Sinne der aristotelischen Zeit. Es ereignete sich in realer gelebter Zeit – in Tag- sowie Nachtstunden – und fand bei jedem Wetter statt. Alle Alltagsaktivitäten begannen etwa um 04:45 Uhr oder 05:00 Uhr vor dem Sonnenaufgang oder währenddessen und gingen mit Sonnenuntergang oder nachts gegen 02:00 Uhr oder 03:00 Uhr zu Ende. Außerdem sollte diese Zeitdimension an die Schöpfungsgeschichte erinnern, in der erzählt wird, Gott habe sechs Tage lang ohne Ruhe die Welt geschaffen, bevor er das Wort Fleisch – sprich Realität – werden ließ. Das Sechstagespiel, das zum ersten Mal im Sommer 1998 vom 3. bis zum 9. August vollständig aufgeführt wurde, sammelte alle seit Beginn der 1960er-Jahre im Rahmen des Wiener Aktionismus duchrgeführten Aktionen des Orgien-Mysterien-Theaters. Alle früheren Aktivitäten stehen für Teilverwirklichungen des gesamten Sechstagespiels.

Dass das Schauspiel keine Rolle im Orgien-Mysterien-Theater spielt, ist an der Gestaltungsform erkennbar. Irritierend ist, dass Nitsch keine künstlerische Repräsentation, sondern eine radikale ästhetische Präsentation von Vorgängen schafft. Dabei bedient er sich der klassischen Gattungen der Malerei, der Musik und des Theaters – von denen er ausgeht –, bevor er sie nicht nur gattungsüberschreitend vermischt sowie transformiert, sondern den Wirkungsintentionen seines Theateransatzes entsprechend auf eine institutionskritische Art und Weise neu schöpft.

2.1.2.3. Interaktion zwischen Musik und Aktionen

Das Element Musik im Orgien-Mysterien-Theater ist eine Lärmmusik im wahren Sinn des Wortes und wirkt wie eine überwältigende Kakofonie. Nitschs Lärmmusik führt auch auf Dionysos zurück, auf den er häufig rekurriert – obgleich nicht explizit im Zusammenhang mit der Musik. In der Tat nannten die Griechen und Römer Dionysos wegen des Lärmes, für den sein Gefolge sorgte, auch Bromios und Lärmer. Im Orgien-Mysterien-Theater wird eine einstudierte Lärmmusik veranstaltet. Anthropologisch betrachtet, liegt der Schrei vor dem gesprochenen Wort, von dem sich Nitschs Theaterkonzept löst. Die Lärmmusik des Orgien-Mysterien-Theaters geschieht in einer Art Wechselwirkung mit den Aktionen. In diesem Sinne intensiviert sie die Aktionen und umgekehrt wird die Musik stets von den Vorgängen aktiviert. Neben dieser funktionellen Musik sind die Gattungen der Malerei und des Theaters, die ebenso einer radikalen Umwandlung bei Nitsch unterzogen werden, im Orgien-Mysterien-Theater am wichtigsten, wobei beide während des Schüttens von Farben und Blut, der Ausweidung von Tierkadavern und des direkten Umgangs mit Fleisch, Gedärmen etc. in ästhetischen Vorgängen verschmelzen.

2.1.2.4. Beschreibung des Sechstagespiels

Neben der Verwendung von Film- und Textquellen (z.B. Inszenierungs- und Aufführungstext) liefert die theaterikonographische Perspektive auch reichliche Informationen über vergangene Theatervorgänge. Als einer der Disziplinzweige der Theaterwissenschaft befasst sich die Theaterikonografphie mit der Bildforschung. Ihre Aufgabe besteht darin, auf der Grundlage z.B. von Vasenmalerei (Antike), illustrierten Manuskripten (Mittelalter), „Skizzen, […] Karikatur und Fotografie“ etc. „Bildquellen (im Gegensatz zu schriftlichen oder mündlichen Quellen)“ zu erfassen bzw. zu erschließen, „die über die Theaterkultur einer Epoche Aufschluss geben.“8 Die folgende Beschreibung des Sechstagespiels sowie die gesamte Analyse von Nitschs Theaterkonzept beruht demnach auf einer Kombination von Inhalten aus schriftlichen Quellen (Nitschs theoretischen Texten und Inzenierungstext) und dem Bildmaterial. Den Bildquellen der 100. Aktion (des Sechstagespiels)9 und Dokumenten „gesamtkonzeptionen des 6-tage-spiels“ und „vorläufige, unverbindliche gesamtkonzeption für das vom 3. bis 9. August 1998 in prinzendorf geplante 6-tage-spiel“ 10 ist die nachstehende Beschreibung aufgrund der Übersichtlichkeit entnommen worden.

Als szenisch-performativer Schauplatz des Sechstagespiels waren alle Ecken des Schlosses in Prinzendorf vom 3. bis zum 9. August durchgehend in Aktion: Hof, Park, Stallung, Schüttboden, Weinkeller, Obstgarten, Presshaus, Umgebung, Kellergasse der Eselsstadt. Tische und Bänke wurden entsprechend aufgestellt. Wanderungen und Spaziergänge wurden dabei beliebig unternommen.



Abbildung 4 & 5:

Überblick über die Gesamtanlage und den Vielort-Schauplatz des Sechstagespiels

Nach Sonnenaufgangsmusik fand bereits am ersten Tag die Schlachtung und Ausweidung eines Stieres statt. Die Motive von Ur- sowie Grundexzess, Uranfang, Mutter-, Vater-, Brudermord sowie Mord am Kreuz, Erbsünde, Sündenfall, Entstehung der Urschuld und der Zeit standen im Mittelpunkt. Dabei wurden die genannten Motive in einem Wechselspiel von Schöpfung, Sein, Exzess, Ereignis und Mord in Verbindung gebracht und erfahrbar gemacht. Auch die ewige Vergegenwärtigung des Opfers Christi durch Messopfer wurde in den Aktionen exponiert. So wurden vor dem Mittagessen Ausweidungs- und Kreuzigungsaktionen mit Fleisch, Blut, Tierkadavern und menschlichen Körpern szenisch-dynamisch durchgeführt. Nach dem Mittagessen wurden die Aktionen in Form von Prozessionen mit Tragbahren fortgesetzt: Passive Akteur_innen und Tierkadaver von Stier, Schwein und Schaf wurden mit Tragegeräten transportiert. Der erste Tag erreichte mit dem Hochziehen eines geschlachteten Stieres an der Schlossmauer in Begleitung aller Orchester und Blaskapellen seinen Höhepunkt. Der zweite Tag begann ebenfalls mit einer Sonnenaufgangsmusik. Im Anschluss umrundeten die Blasmusikkapellen in entgegengesetzter Richtung das Schloss. Danach fanden am Schüttboden im dritten Stock des Schlosses Mal- und Ausweidungsaktionen statt, bei welchen Nitsch und Akteur_innen weiße Flächen mit Blut beschütteten und ein geschlachtetes Schwein ausweideten. Nach dem Mittagessen wurden drei weitere Schweine geschlachtet, womit die Ausweidungs- sowie Beschüttungsaktionen unter dem mystischen Leitmotiv fortgesetzt wurden. Nach Beschüttungs-, Ausweidungs- und Kreuzigungsaktionen fanden als Finale des zweiten Tages Spaziergänge sowie Wanderungen zum Presshaus des Schlosses und zur Eselsstadt statt. Darauf folgten das Abendessen und bei Sonnenuntergang die zweite Malaktion: Blutige Leinwandflächen wurden von Nitsch und den Akteur_innen zusätzlich mit roter Farbe beschüttet, bespritzt und beschmiert. Es folgten Ausweidungsaktionen mit einem geschlachteten Schwein. Wie die beiden vorangegangenen Tage startete der dritte Tag mit Sonnenaufgangsmusik. Dieser Tag war auf den Mythos des Gottes Dionysos mit der Formel „Dionysos gegen den Gekreuzigten“ ausgerichtet: Der Gekreuzigte wurde mit einem verdrängten Dionysos assoziiert, der zum einen als Prinzip des ekstatischen Werdens und zum anderen als das der Zerstörung sowie als Gott der Weltenauflösung und der Wiedergeburt feierlich zelebriert werden sollte. In diese Richtung tranken und feierten alle Spielteilnehmer_innen hemmungslos, exzessiv und rauschhaft. Es fand zudem ekstatisches Trampeln auf Weintrauben, Obst und Tomaten, auf Tierlungen, Fleisch, Gedärmen, Tierlebern etc. in den mit Blut und Wein gefüllten Sautrögen, begleitet von einem extremen Lärmorchester, statt. Nach Sonnenuntergang wurden ein Stier und ein Mann, der vor dem Stier ans Kreuz gebunden und auf einem Tragegerüst befestigt worden war, von vielen Akteur_innen zur Eselsstadt getragen, wo auf den Wiesen der Rausch seine Kulmination erreichen sollte. Die ganze Aktion wurde von Musik begleitet. Der vierte Tag verlief mehr oder minder so wie die vergangenen Tage mit Aktionenfolgen des mystischen Leitmotives: Installationen mit Fleisch, Gedärmen, Blut, geschlachteten Tierorganen, Tierkadavern und nackten menschlichen Körpern. Zur Schau gestellt wurden außerdem einige sakrale sowie medizinische Geräte in den vielen Räumen des Schlosses und der Stallungen. Nach der üblichen Sonnenaufgangsmusik erwiesen sich die Aktivitäten am fünften Tag des Sechstagespiels als der Höhepunkt des mystischen Leitmotivs mit Erreichung des Grundexzesserlebnisses. Nach Prozessionen wurde eine Messe abgehalten, die während der Eucharistie in ein orgiastisches Fest umschlug: Das mystische Leitmotiv, das dabei die Orgie und den Exzess als bittere Daseinsessenz und explosives Aufeinanderprallen von Energiegefügen offenbarte, bedingte das chaotische Grundexzessereignis als ebenso unkontrollierbaren wie unvorhersehbaren Kräftestrudel. Diese Sachlage drückte sich mehrfach durch Schlachtungen von einem Stier und zwei Schweinen aus, die auch an diesem Tag exzesshaft sowie aktionistisch ausgeweidet wurden. Dabei balgten sich die Akteur_innen in Blut, Fleisch und Gedärmen. Sie zerrissen Fleisch und Tierkadaver als Steigerungszeichen des vergangenen dritten Tages. Ein bombastischer Lärm wurde von allen Orchestern als Höhepunkt des orgiastischen Abreaktionsfests veranstaltet. Der sechste und letzte Tag war folglich der Auferstehungstag und wurde durch festliche Prozessionen bestimmt. So geriet das Orgien-Mysterien-Theater zu einem Volksfest. Die gesamte Anlage des Schlosses wurde mit Blumen aller Farben geschmückt. Die Spielteilnehmer_innen wurden fröhlich und feierlich gestimmt. Nach Sonnenuntergang kehrte wieder Ruhe ein. Der nächste Sonnenaufgang wurde in Ruhe erwartet. Erst dann konnten sich die Spielteilnehmer_innen umarmen und küssen.

 

Mit dem ersten, vollständig verwirklichten Sechstagespiel hat Nitsch nicht nur die innewohnende Destruktion seines Orgien-Mysterien-Theaters gebändigt.11 Er hat sich zugleich in einer stark normativen Ordnung der Gesellschaft durchgesetzt und weist bis heute eine gewisse Dauerhaftigkeit auf.

2.1.3. Das Orgien-Mysterien-Theater im Spannungsbogen des Wiener Aktionismus

Das Orgien-Mysterien-Theater und der Wiener Aktionismus sind im Zusammenhang mit internationalen Praxen institutionskritischer Kunst zu denken, die sich gegen Ende der 1950er- und Anfang der 1960er-Jahre zunehmend ausgebreitet haben. Zur gleichen Zeit legte Nitsch die Grundstrukturen seines Orgien-Mysterien-Theaters fest: Überwindung der Sprache, reales Registrieren von Gerüchen, Geschmackswerten, Temperaturen sowie Tastempfindungen und Inszenierung realer Geschehnisse, wie die Beschreibung des Sechtagespiels zeigt. Parallel dazu befassten sich die österreichischen Künstler Otto Muehl, Günter Brus und Rudolf Schwarzkogler mit ungewöhnlichen sowie irritierenden theatralen Vorgängen. Die vier Künstler (Brus, Muehl, Nitsch und Schwarzkogler) lernten sich schließlich kennen, befruchteten sich gegenseitig, lernten viel voneinander und wurden vor allem von der Psychoanalyse beeinflusst. Während ihre künstlerischen Aktivitäten noch nicht unter dem Namen „Wiener Aktionismus“ bekannt waren, wiesen die vier Protagonisten jedoch einen gemeinsamen Nenner auf: die Inszenierung sinnlich intensiver und exzessiver Realgeschehnisse.

Die Bezeichnung „Wiener Aktionismus“ ist jünger als die jeweiligen Aktivitäten von Brus, Muehl, Nitsch und Schwarzkogler. Im Juni 1965 soll der Name „Wiener Aktionismus“ von Brus in einer Sonderausgabe der Zeitschrift Le Marais1 verwendet worden sein, in der die vier Protagonisten Erwähnung fanden. In seinem 1970 veröffentlichten Artikel „Wien. Bildkompendium Wiener Aktionismus und Film“ geht Peter Weibel von den frühen 1940er- und 1950er-Jahren über die künstlerischen Arbeiten Arnulf Rainers und der Wiener Gruppe aus. Danach befasst er sich mit den Wiener Aktionisten, ohne zu einer Definition zu kommen. Rüdiger Ergerths Artikel „Wiener Aktionismus“ wurde ebenfalls 1970 im Kunstmagazin veröffentlicht. Er setzt sich mit dem Wiener Aktionismus auseinander, ohne ihn begrifflich zu bestimmen.2 Es steht fest, dass sich die Bezeichnung „Wiener Aktionismus“ Anfang der 1970er-Jahre etablierte, ohne jedoch eine allgemeingültige Definition angesichts der Vielfalt der zu fassenden künstlerischen Realgeschehnisse anzuführen. „Wiener Aktionismus“ als Begriff lässt sich eher in einer ausdifferenzierten Vorgehensweise beschreiben: Während die vier Protagonisten des Wiener Aktionismus von der Sprache als Kommunikationsmittel ihres künstlerischen Tuns Abstand nehmen, sind sie auf die verbale Sprache angewiesen, um ihre theoretischen Grundgedanken zu vermitteln:

es geht darum, durch intensives erleben neue wirklichkeiten zu finden und zu schaffen, damit unser lebensbereich erweitert wird. der staat, das erlaubte, die abgebrauchten regeln setzen fest, was wirklichkeit ist. so kann die aktion als reaktion auf den wirklichkeitsverlust begriffen werden, dem wir ausgesetzt sind. sie ist der ausbruch aus der umschnürung in richtung lebendigkeit und existenz. die aktion stellt unsere verlorene sinnlichkeit wieder her, indem sie die zu erfassende wirklichheit demonstrativ vor unsere sinne stellt. unsere wirklichkeit zeigt sich als etwas ständig sich veränderndes. wir stossen uns ab von wirklichkeitsbereich zu wirklichkeitsbereich, leben uns stets in eine wirklichkeit hinein, die wir uns schaffen. die futuristen, die dadaisten, die surrealisten mussten ausbrechen aus den ordnungen, aus der sprache, aus einer festgefahrenen wirklichkeit. immer geschah ein ausbruch zu einer neuen wirklichkeit.3

In dieser Hinsicht ist der Wiener Aktionismus in der gesamten Zeit seines Bestehens im Gegensatz zu den bereits erwähnten institutionskritischen Kunstpraxen ein Spannungsbogen gewesen – für die Aktionisten selbst sowie die gesamte, einschließlich der staatlichen sowie internationalen Öffentlichkeit. Ohne Vergleich ist der Wiener Aktionismus als eine drastische Reaktion auf die soziokulturellen sowie politischen Tatbestände der österreichischen Nachkriegszeit zu verstehen. Er ist wiederum je nach Prägung und Künstlerperson ausdifferenzierend aufzufassen. Im Sinne von Klocker bezieht sich das Verständnis des Terminus Aktionismus als „politisch, agitativ“ auf die künstlerische Arbeit von Muehl, Oswald Wiener und teilweise auf die Arbeit von Brus. Eine andere Ausdifferenzierung ist nach Klocker die formale Qualität, die von der gestischen Malerei (Action Painting) der ersten Nachkriegsavantgarde ausgeht; hier geht es um das Werk Nitschs und Schwarzkoglers, um den frühen Brus und um Teilaspekte der Arbeit Muehls. Für Klocker treffe Aktionismus auf die gesamte Spannweite des Wiener Aktionismus zu, wenn dieser als psychoanalytischer Begriff – abgeleitet von ausagieren, abreagieren – verstanden werde. Klocker schlussfolgert, dass der Begriff im weitesten Sinne auf den performativen Charakter dieser Bewegung hinweise und so die gesamte Breite ihrer Entwicklung umschließe.4 Es ist festzuhalten, dass sich der Wiener Aktionismus ursprünglich in der Wiener Nachkriegszeit an „den literarisch, performativen Experimenten der Wiener Gruppe und des Wiener Literarischen Kabaretts der 50er Jahre“5 direkt entzündete. Die Wurzeln des Wiener Aktionismus weisen vielseitige Einflussrichtungen auf: z.B. die sich „auf die expressionistische, dadaistische und surrealistische Sprachbehandlung“6 beziehende Wiener Gruppe. Die politische Verdrängung der österreichischen Verwicklung im Zweiten Weltkrieg gilt als unmittelbarer Entstehungskatalysator des Wiener Aktionismus; 1992 erinnerte Nitsch in seiner Rede zur Eröffnung der Galerie Krinzinger an die Entstehungsgeschichte des Wiener Aktionismus: „Der Wiener Aktionismus ergab sich, weil vier verschiedene Künstler, die verschiedene Ausgangspunkte und verschiedene Ziele hatten, aber doch viel gemeinsames aufwiesen, ähnlich auf ihre Gegenwart reagierten, die sie vorfanden und zu verändern suchten.“7

Peter Gorsen zufolge hat der Wiener Aktionismus in den 1960er-Jahren versucht, den Gegensatz von Kunst und Leben aufzuheben.8 Seiner Meinung nach hat z.B. Nitsch den Wiener Aktionismus so definiert, dass er mit den Intentionen des Orgien-Mysterien-Theaters zur Deckung gekommen sei.9 In der Tat hatte Nitsch 1971 in seinem Vortrag „Versuche zur Geschichte der Aktion“ an der Frankfurter Kunstakademie behauptet, dass die Kunst zum Leben durchgedrungen sei, weil nichts gespielt, simuliert oder interpretiert werde. Farben seien weder in abbildendem Sinn noch auf einer Bildfläche angeordnet. Alles sei Leben und ereigne sich tatsächlich, wobei das Leben selbst zu einem intensiveren Ereignis gebracht und die ästhetische Verdichtung vollkommen neu und weit ausholend verstanden sowie erhöht werde – in den Lebensprozess beschleunigt und vertieft.10 Tatsächlich hat sich der Wiener Aktionismus nicht nur von der herkömmlichen Malerei distanziert. Er ist zugleich im Sinne von Peter Gorsen die Verabschiedung der Ausstellungs- und Abbildungsästhetik, die „nur der Endpunkt einer kunsthistorischen Entwicklung“ sei, „die mit Braques Collages, Picassos Reliefkonstruktionen begann und über Schwitters ‚Merzbau‘, Rauschenbergs Combine Paintings und die Assemblages des ‚Nouveau Realisme‘ bis zur ‚Entformung‘ und Verzeitlichung der Materialien in der Prozesskunst führte.“11

Die malerischen Aktivitäten fanden öfters außerhalb der vorgesehenen Malateliers statt. Andere Räume wurden dafür gänzlich erobert, indem Malvorgänge vor dem Publikum prozessual durchgeführt wurden. Dabei wurden Menschenkörper sowie Materialien aus dem Alltagsleben aktionistisch, situationsbezogen und provozierend einbezogen: Provozierend und skandalös waren bei diesen Aktionen die besondere Ansprache sowie die Erweiterung aller menschlichen Sinneswahrnehmung zur Befreiung von soziokulturellen sowie künstlerischen Zwängen, die angeblich nicht nur auf den jeweiligen Protagonisten unterschiedlich lasteten, sondern auch auf der Gesellschaft. Die einzelnen künstlerischen Aktivitäten der Protagonisten, die als Vehikel zur Selbstbefreiung und zur (Selbst-)Erkenntnis eingesetzt wurden, erreichten die Öffentlichkeit – sei es direkt oder vermittelt durch die Presse: z.B. folgte dem Manifest „Die Blutorgel“, das für Nitsch als gedanklicher Anfang des Wiener Aktionismus gilt,12 eine skandalträchtige Malaktion. Gemeinsam mit Muehl, Adolf Frohner, Fritz Graf und dem Tiefenpsychologen Josef Dvorak hatte Nitsch anlässlich seiner Malaktion von 1962 „Die Blutorgel“ verfasst. Darauf erfolgte der aktionistische Umsetzungsgestus der Ablehnung herkömmlicher Darstellungs- und Abbildungsästhetik. Ihre aktionistischen Intentionen führten sie schließlich in einem gemieteten Keller in der Perinetgasse 1 im 20. Bezirk in Wien durch:

Die Akteure hatten sich für drei Tage im Kellergewölbe der Galerie einmauern lassen, um in einer Art Exerzitium sich vom Tafelbild, dem Hauptrequisit der traditionellen Darstellungsästhetik, zu verabschieden. Nitsch vollzog den Ausbruch aus der Fläche durch das gekreuzigte Schaf; Muehl und Frohner schufen „Gerümpelplastiken“ aus herumliegendem Schrott, den sie mit Farbe beschütteten. Es entstanden jene typischen „Materialaktionen“, die den Vernichtungsprozess von Form und Inhalt, das Informal, zum Thema erhoben.13

Aus dieser Aktion entstanden Gemälde und Plastiken, die den fixierten Gestus der Befreiung dokumentieren. Vermittelt durch vermeintliche Augenzeugen (kein Publikum soll im Aktionskeller gewesen sein) und durch die Presse machte sich dieses künstlerische Realereignis in der Öffentlichkeit breit. Diesbezüglich berichtete der Stern: „zentrales Ereignis der Drei-Tage-Klausur wäre die Schlachtung eines Lammes gewesen, mit dessen Blut man ein Bild an die Wand gemalt hätte.“14 In der Kronen Zeitung stand:

Drei Tage und Nächte war die Perinetgasse im 20. Wiener Gemeindebezirk der Ausgangspunkt wilder Gerüchte. Die Polizei intervenierte, der Tierschutzverein schickte einen Inspektor. Der Grund: Passanten wollten bemerkt haben, dass im Keller des Hauses Perinetgasse 1 wüste Orgien veranstaltet werden, bei denen Tiere gequält und geschlachtet worden sein sollen […]. Einem Inspektor war zu Ohren gekommen, dass bei der „Kellerpartie“ ein geschlachtetes Lamm eine nicht unwesentliche Rolle spielen sollte. Doch da gab es nichts, was gegen das Tierschutzgesetz verstieß. Sonntags stellten sich zwei Inspektoren der Kriminalpolizei ein. Sie erkundigten sich bei den drei „Kellerkindern“, ob sie überhaupt Österreicher seien. Was bejaht wurde. Dann sahen sie sich das Geleistete an: Draht- und Blechplastiken hingen von der Decke, riesengroße für den Normalverbraucher nicht ganz verständliche Gemälde zierten die Kellerwände.15

Aus diesen Auszügen aus der Presse wird ersichtlich, dass die Reaktionen der Öffentlichkeit mehrheitlich unterschiedlich waren. Diese als skandalös und rechtswidrig gesehene Malaktion markierte den ersten Meilenstein aller bevorstehenden, radikaleren Aktivitäten des Wiener Aktionismus. 1968 fanden diese Aktionen in der Gemeinschaftsaktion „Kunst und Revolution“ ihren Höhepunkt.

 

[…] der Einsatz des Körpers als Material, körperbezogene Aktionen, der aktionistische Einsatz von Sprache und der Einbezug des begleitenden sprachlichen Kommunikationsaufwands in die Aktion. Damit erhält die Aktion Kunst und Revolution einen paradigmatischen Charakter für den WA als Ganzes.16

„Kunst und Revolution“ schien alle bestehenden Grenzen überschritten bzw. ausgereizt zu haben, sodass die gesamte Aktion verurteilt wurde, während Brus, Muehl sowie Wiener verhaftet wurden. Die Gruppe zerfiel nach dieser gemeinsamen drastischen Aktion.17 Nitsch gelang es aber 1970, seine 32. Aktion im „Aktionsraum I“ in München durchzuführen, die seiner Ansicht nach zu diesem Zeitpunkt die vielleicht am besten verwirklichte Aktion18 gewesen sei. Seitdem führte Nitsch fortwährend Aktionen sowie Malaktionen durch: Die 144. Aktion fand am 25. März 2015 im Rahmen der Eröffnung der Ausstellung „ExistenzFest – Hermann Nitsch und das Theater“ im Wiener Theatermuseum statt, während die 70. Malaktion vom 17. bis zum 19. November 2014 in der Galerie Elisabeth & Klaus Thoman, ebenfalls in Wien, zu verfolgen war.19 Somit hat das nicht nur institutionskritische, sondern auch zivilisationskritische20 Orgien-Mysterien-Theater den beendeten Spannungsbogen des Wiener Aktionismus überlebt.