Zwischen Baum und Borke

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Zwischen Baum und Borke
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- Es roch hier sogar wie früher, also kein Brandgeruch und keine Moderluft aus den Kellern der Ruinen, dafür frische Landluft und der unverkennbare Geruch von in Betrieb befindlichen Küchenherden. Er stellte sich vor, dass auf den Tischen jetzt eine Schüssel mit dampfenden Stampfkartoffeln und mit Speck durchsetzter Einbrenne stand und er wäre dabei beinahe gestolpert.

- Durch ihre Erlebnisse hatten sie alle ein Stück ihrer Kindheit verloren und waren viel zu früh, zu kleinen Erwachsenen geworden.


Zusammen mit den Einheimischen erlebten die Flüchtlingskinder nun die Nachkriegszeit in der Landschaft Angeln in Schleswig-Holstein.

Hier wurde ihnen, nach all dem Schrecken, doch noch eine Kinder- und Jugendzeit zuteil, in welcher sie vieles geschehene vergessen konnten.

Das auf der Umschlagseite dargestellte Foto zeigt den Marktplatz in Süderbrarup mit der Volksschule im Hintergrund. Dies war auch der Ort, wo viele Erlebnisse der Kinder stattfanden.

Inhaltsverzeichnis

Die Vorgeschichte

Die Kinder

Die Ankunft

Ihr erstes Quartier

Der Schaumlöffel

Die Volksküche

Der neue Mittelpunkt

Die Mittagesser

Edith, die Tischnachbarin

Mehr als nur Essenausgabe

Eine Wandzeitung

Rote Falken in der Volksküche

Die Gartenlaube

Das Flüchtlingslager im Anglerhof

Im großen Saal

Die Freiluftküche

Der Drang zur Sauberkeit

Das Nachtkonzert

Ährenlesen

Der Schulbeginn

Die Mitschüler

Das Kriminalstück im Saal

Von der Baracke ins Empfangszimmer

Gespräche in der Baracke

Herr Rahn

Das Mädchen und die Jacke

Eigen Herd ist Goldes wert.

Die vergebliche Vorstellung

Das Empfangszimmer der Fotografin

Häuslich Sanitäres

Die Kalamität, der erste Winter

Schnee und Kälte.

Die Lektüre an der Wand.

Die Eishöhle.

Es stirbt ein Baby.

Not macht erfinderisch.

Schlittenfahrten

Winter am Thorsberg.

Das Winterende

Der Stillstand

Der Wiener Kurier

Das Radio

Die Gestrandeten

Das Mütterproblem

Die Währungsreform

Die Wahlen

Treckfantasien

Noch einmal davon gekommen

Begegnungen mit Dr. Brackmann

Die Praxis

Ein neues Zimmer und TB-Verdacht

Bauchschmerzen der bisher unbekannten Art

Rheuma oder was?

Vergnügliches

Die Kinogänger von Berg's Filmpalast

Kino im Angler Hof

Die Kindergilde

Der Brarupmarkt

Alle Jahre wieder

Ein Bazar zu Weihnachten

Wo ist hier was los ?

Fußball

Die Angler

Die Badefreuden am Thorsberg

Der Heidberg

Hinterm Güderotter Wald

Auf nach Lindaunis

Die Aquarianer

Die Maler

Querfeldein.

Lerchenfeld

Lerchenfeld Gewässer

Das Heidbergrevier und die Oxbek

Der Westen

Die Westenstraße

Die Probleme des Wohnungsamtes

Wieder Herr Rahn

Alltag in der Westenstraße

Die Volksschule.

Die Klassenräume

Herr Johannsen

Herr Fiedler

Herr Bilet

Herr Hinz

Religion in der Schule

Schlussstrich

Die Konfirmation

 

Das Schulende naht.

Letzte Tage in Angeln

Ablenkungsversuche

Der lange Abschied

Die Vorgeschichte

Die meisten Flüchtlinge waren erst nach Kriegsende in Schleswig-Holstein eingetroffen. Sie hatten dort die Einwohnerzahl so stark ansteigen lassen, dass auf vier Einheimische drei Flüchtlinge kamen und viele von ihnen blieben, bis in den 50er Jahren die großen Umsiedlungsaktionen nach Westdeutschland einsetzten.

Das Thema wird heute meistens als erledigt abgehakt, obwohl sich das nur darauf beziehen kann, dass die meisten von ihnen mittlerweile verstorben sind.

Sich selbst auf die Schulter klopfend, wird diese Zeit heute meistens als gelungene Integration bezeichnet. Das wurde damals keineswegs so gesehen. Bestenfalls kann man heute rückblickend bestätigen, dass man miteinander auskam, ohne dass der teilweise offene Hass der ihnen entgegenschlug, Gewalt auslöste.

Wobei ihre persönlichen Geschichten sicher an allen Orten anders waren. Diese hier beginnt in Süderbrarup, einer Gemeinde im nördlichsten Teil Schleswig-Holsteins, in der schönen Landschaft Angeln, nahe der Ostsee.

Auch hier steht das Thema dieser Flüchtlinge heute natürlich nicht mehr im Mittelpunkt, obwohl sie für die Zeitgenossen, Flüchtlinge wie Einheimische, prägend waren. Aber selbst in der aktuellen Ortschronik wird darauf nicht besonders tiefschürfend eingegangen. Sie werden zwar erwähnt, aber ohne besondere Teilnahme, was angesichts der allgemeinen Tendenz auch nicht zu erwarten ist. Im Ortsbild deutet nichts mehr auf die großen Lagerkomplexe hin, die es hier einst gab, kein Hinweisschild oder Ähnliches gibt darüber Auskunft.

Ihr damaliges Erscheinen auf der Ortsbühne wird häufig nur noch als eine lästige und überstandene Episode der Geschichte angesehen, die man bald vergessen möchte, was auch verständlich ist.

Die Flüchtlinge kannten bei ihrer Ankunft meistens nur noch zwei Gefahren, den Hunger und im Winter die Kälte. Und damit wurden sie zu Konkurrenten der Einheimischen, da es für beide Gruppen um das gleiche Stück Brot auf den Lebensmittelkarten und das gleiche Dach über dem Kopf ging.

Die Bauern unter den Alteingesessenen, die man auch Selbstversorger nannte, brauchten keine Lebensmittelkarten. Und das waren in dem Agrarland Schleswig-Holstein nicht wenige und die meisten Einheimischen hatten natürlich ihre gewachsenen Beziehungen zur Verwaltung, welche die Einweisung der Flüchtlinge in Wohnraum realisieren sollte. Was aber wegen des wachsenden Widerstandes und mangels Masse oft erschwert wurde, sodass sich über viele Jahre ein Lagerleben etablierte. Damit konzentrierte sich das ganze Elend der Zeit auf die Flüchtlinge.

Nun gab es im Norden von Schleswig-Holstein noch etwas, was über die „normale“ Rivalität zwischen diesen konkurrierenden Bevölkerungsgruppen hinausging. Das war die dänische Minderheit. Diese wollte, offenbar ermutigt durch das Beispiel der Polen, die ihre Grenze nach Westen bis zur Oder verschoben hatten, ebenfalls gerne die dänische Grenze nach Süden bis zur Eider verschieben. Danach sollten alle Flüchtlinge ausgewiesen werden.

Die fast täglich neu hinzu Kommenden waren dafür natürlich hinderlich, sodass ihnen Ablehnung und Feindseligkeit entgegenschlug. Eben waren sie noch in ihrer Heimat verfolgt worden, weil sie deutsche waren und jetzt wurden sie hier deswegen erneut infrage gestellt. Sie saßen also wieder zwischen Baum und Borke.

Die Neuankömmlinge entstammten verschiedenen Flüchtlingswellen. Mit Schiffen oder auf dem Landweg waren die Ersten, meist unter dem Beschuss der heranrückenden Front, noch vor Kriegsende angekommen. Die Nächsten kamen direkt aus dem unmittelbaren Frontgeschehen und dann jene die man den so genannten „wilden“ und zum Schluss, die man den „regulären“ Vertreibungen zurechnete.

Sie alle mussten noch die Erlebnisse von Kampfhandlung, Plünderung und Exzessen verarbeiten, bevor sie in Schleswig-Holstein eintrafen. Was immer man hier mit Worten erklären wolle, es würde nicht reichen.

Hinzu kamen noch die Soldaten, die in Schleswig-Holstein in Gefangenschaft geraten waren und die nicht wieder in ihre mittlerweile von Russen und Polen besetzte Heimat zurück konnten.

Die ersten der Flüchtlinge konnten noch die schon vorhandenen Baracken der Wehrmacht und des Reichsarbeitsdienstes benutzen. Die später kamen wurden dann in Schulen, Säle von Gaststätten oder auch zwangsweise in Privaträume von Einheimischen untergebracht.

Viele waren traumatisiert und mussten jetzt versuchen unter Umständen weiterzuleben, die für sich alleine schon schwer waren. Das sie nicht willkommen waren wussten sie und dies bedrückte sie noch zusätzlich. Das war der Boden, das Substrat, auf dem sich dann alles Weitere entwickelte.

Die Kinder

Hier wird von den Menschen und ganz besonders von den Kindern erzählt, die im Juli 1946 mit ihren Müttern, als Flüchtlinge nach Süderbrarup in Schleswig-Holstein kamen.

Kinder haben es manchmal etwas leichter, weil vieles von den Alltagssorgen bei den Erwachsenen verbleibt. Aber durch ihre gemeinsamen Erlebnisse hatten sie alle schon ein Stück ihrer Kindheit verloren und waren dadurch viel zu früh, zu kleinen Erwachsenen geworden.

Es werden hier nur beispielhaft, die Erlebnisse von Klaus erzählt, der mit seiner Mutti seit dem Einmarsch der Russen in Pommern, eine Überlebensgemeinschaft gebildet hatte.

Sie hatten beide alles überlebt, wenn auch mit vielen Narben und Schrammen. Er kam als neunjähriger nach Süderbrarup und ging als sechszehnjähriger ins Rheinland. Über diese Zeit wird hier erzählt, aus der Froschperspektive des heranwachsenden Flüchtlingsjungen.

Wegen der bedrückenden Wohnverhältnisse in den Lagern und zugewiesenen Zimmern konnten die Kinder der Flüchtlinge meistens nur draußen spielen. Aber auch da lagen sie ständig auf der Lauer um etwas zu ergattern, dass ihnen und ihren Müttern das Überleben erleichtern würde. Ob bei der Kohle oder den Briketts nachgeholfen wurde, damit sie von den Zügen fallen oder wenn Zuckerrüben oder Kartoffeln auf dem Bauernhof vom Wagen stibitzt, wurden, wobei der stets wachsame Hofhund geschickt abzulenken war, stets vermischte sich ihr Überlebensdrang mit Abenteuerlust und ganz normalen kindlichen Verhaltensweisen. In diesem Zwischenraum von Spielen, Neugier, Vergnügen, Abenteuer und Not spielte sich ihr Leben ab.

Schon nach kurzer Zeit fanden sich wieder ganz automatisch gleichaltrige Kinder, meist Jungs, zusammen. Während sie früher den lästigen HJ-Streifen ausweichen mussten, die jedes Untätige herumlungern, wie sie es nannten, unterbinden wollten, konnten sie sich jetzt ungehemmt bewegen. Diese Selbstständigkeit waren sie gewöhnt, da sie doch schon nach Kriegsende oft entscheidend mit fürs Überleben der Familie gesorgt hatten, denn ihre Mütter konnten sich aus berechtigter Furcht vor schlimmsten Belästigungen kaum an die Öffentlichkeit trauen.

Dieses „zusammen cliquen“ der Flüchtlingskinder, wie Mutti es nannte, erfolgte zunächst nur, um zu erkunden, wo es etwas gab, das den täglichen Speiseplan ergänzen konnte. Später suchte man sich zusammen auch anderweitig zu beschäftigen, um nicht vor Langeweile, wie Georg Koppitsch es nannte, zu versauern. Denn es gab am Ort nichts, was man auch nur im entferntesten als ein Angebot zur Freizeitgestaltung, wie man es heute nennen würde, ansehen konnte. Sodass alle auf sich und ihrer eigenen Fantasien angewiesen waren. Da dies ein allgemeines Problem war, zog die Clique der Flüchtlingskinder natürlich auch einheimische Kinder an.

Die Wiederaufnahme des Schulbesuchs, zusammen mit den einheimischen Kindern, sorgte dann für etwas Normalität. So erlebten sie, nach all dem Schrecken doch noch eine Kinder- und Jugendzeit in dem noch dörflichen Charakter des Ortes, der alles was sie durchgemacht hatten, in eine unwirkliche Ferne rückte.

Für sie waren die Feste, wie Kindergilde mit Kuchenessen und Tanz oder der Weihnachtsbasar im alten Anglerhof mit Varieté, jetzt ein wichtiger Mittelpunkt des Jahres geworden. Das Baden in Bächen, moorigen Gewässern und in der Schlei, war das schiere Sommervergnügen.

Es gab noch die mit allen Sinnen wahrzunehmenden Naturwunder. Die zu jeder Tageszeit anders duftenden Wiesen. Das unverwechselbare Geräusch der Himmelsziegen in der Dämmerung, das Glocken Geläute der über einen niedrig Hinweg streifenden Wildenten, das Kiebitzgeschrei in den Feuchtgebieten, die blühenden Knabenkrautwiesen und das toben auf den nach einem Sommergewitter überfluteten Wegen und Straßen.

So könnte man nach Art einer „ Sentimental Journey „ noch viele unwiederbringliche Momente aufzählen. Auch davon wurden alle, die hier ankamen geprägt, das nahmen sie mit, wohin sie auch später gingen.

Die Ankunft

Der Zug hatte schon längere Zeit seine Geschwindigkeit spürbar verringert und hielt schließlich mit quietschenden Bremsen an. Seit sie in Bad Segeberg eingestiegen waren, wo sie aus Stettin kommend, eine Nacht in dem englischen Lager übernachten durften, hatte es nur kurze abrupte Halts auf offener Strecke gegeben. Jetzt spürten alle, dies war die Endstation. Sie waren am Ziel.

Auf einem sichtbar werdenden Stationsschild konnte man trotz der abgeblätterten Farbe, den Namen Süderbrarup entziffern. Wie aber die Sprechübungen der Mitreisenden es bezeugten, bereitete der Name pommerschen Zungen einige Probleme.

Ihr erstes Quartier

Es war nur ein kleiner Bahnhof mit einem grünen Sperrenhäuschen, durch dessen schmalen Durchlass sich nun die Flüchtlinge mit ihren Rucksäcken und Bündeln quetschten. Vor dem aus gelben Ziegeln bestehenden Gebäude verlief eine ungepflasterte aber saubere Straße. Überhaupt wirkte hier alles sauberer, als alles was die ankommenden seit Langem gewohnt waren. Oma sagte auf seine staunenden Blicke hin, so sah es bei uns in Friedenszeiten auch aus, so als wollte sie ihn ermahnen nicht zu vergessen, dass es zuhause auch schön gewesen war.

Der Bahnhofsvorplatz war ungepflastert aber mit einer losen wie glatt gewalzten Steinschicht belegt. Ein Blick auf diese Steine ließ Klaus stutzen und er hob einige auf und besah sie gründlich. Sie wirkten wie zersplittert, mit Farbnuancen auf den glasigen Bruchflächen von Grünlich bis Gelblich. Zuerst dachte er, es wäre Horn oder Bernstein, aber er verwarf es bald.

Es waren die dort sehr häufig vorkommenden Flintsteine, die ihm aufgefallen waren, aber Mutti bedrängte ihn mit der Spielerei aufzuhören, wie sie es nannte, da sich jetzt alle in Bewegung gesetzt hatten, weil sie offenbar ihrer neuen Bleibe zugeführt werden sollten.

Die familieninterne Marschordnung ging üblicherweise so, dass Klaus zwischen Mutti und Oma ging und außen die beiden Tanten, denn häufig war von der Miliz eine Fünferreihe vorgeschrieben worden, da diese von ihnen leichter zu kontrollieren war.

Aber eine Miliz gab es hier nicht. Deshalb hielt er diese Regelung für mehr als unnötig. Jetzt brauchte Mutti nicht mehr Angst haben, dass er verloren geht oder dass ihm was passiert, dachte er. Deshalb schob er sich langsam aus der Mitte der Marschkolonne an deren Rand vor und ging schließlich ohne Einwand oder Protest, fröhlich gestimmt an der Seite mit.

Sie gingen eine stille und beidseitig mit hohen Bäumen bestandene Straße entlang. Fahrzeugverkehr war hier anscheinend nicht zu erwarten und der dahin strömende Zug der Flüchtlinge füllte die ganze Straßenbreite aus.

Er wusste nicht, was es für ein Wochentag war, die Bürgersteige waren mit einem Muster im Boden sauber geharkt und der Blick in die Vorgärten mit in den Haustüren stehenden Menschen versetzte ihn in eine sonntägliche Stimmung, obwohl die Distanz mit der sie zu ihnen herüberblickten, spürbar war. Es war friedlich, beinahe so wie früher in Stolp und es hätte gepasst, wenn ihn Oma jetzt plötzlich zum Essen reingerufen hätte.

Es roch hier sogar wie früher, also kein Brandgeruch und keine Moderluft aus den Kellern der Ruinen, dafür frische Landluft und der unverkennbare Geruch von in Betrieb befindlichen Küchenherden. Er stellte sich vor, dass auf den Tischen jetzt eine Schüssel mit dampfenden Stampfkartoffeln und mit Speck durchsetzter Einbrenne stand und er wäre dabei beinahe gestolpert. Ein Blick zur Seite, wo die anderen die Straße entlang trotteten, beendete seine Träumerei und konfrontierte ihn wieder mit der Wirklichkeit.

 

Und dann war man plötzlich am Ziel angekommen, es war eine Schule.

Auf dem Platz davor versammelt sich alle und hörten wie ein kleiner gemütlich aussehender älterer Herr, der ihnen als Bürgermeister vorgestellt wurde, eine längere Rede hielt, die Klaus zum größten Teil nicht verstand. Er wies eindringlich darauf hin, dass die Familien zusammenbleiben müssten, damit sie bei der gleich erfolgenden Zuweisung der Schlafplätze nicht getrennt würden, und danach würden Essensmarken für die Volksküche ausgegeben. Das machte ihn munter, zumal ihn Mutti mit dem Ellbogen anstieß, um ihn zum Zuhören zu animieren und am Einschlafen zu hindern, denn dass konnte er auch im Stehen, wenn er sich bei Mutti oder Oma anlehnte.

Man wies ihnen Klassenzimmer zu, in denen schon portionierte Strohhaufen bereitlagen, auf denen sie sich niederlassen konnten. Ans Kopfende kam wie üblich das Gepäck.

In jedem Raum gab es Platz für ungefähr dreißig Personen. Klaus bekam mit Mutti einen Schlafplatz in der Nähe der Tür, neben einem Waschbecken zugewiesen. Dieses war allerdings ohne Funktion, sodass eine feuchte Überraschung nicht zu erwarten war, denn man hatte in der Schule das Wasser abgestellt. Der Grund waren die kleinen Trinkbrunnen, die überall auf den Fluren installiert waren. Diese waren sofort von allen Kindern ausprobiert worden, auch von Klaus. Sie hatten sich mit Wasser bespritzt und der Fußboden war etwas nass geworden. Die Reaktion darauf war das sofortige Abstellen des Wassers, begleitet von einem strengen Verweis in einer gestelzt klingenden Sprache, der sie etwas erschrecken ließ.

Der Schaumlöffel

In der Nähe der Mittelschule, der derzeitigen Behausung der Flüchtlinge, befand sich der Marktplatz.

Dieser war bei den baldigen Erkundungen der Kinder, an den sich Klaus natürlich sofort beteiligte, bald entdeckt. Der Platz stellte sich ihnen als eine riesige rechteckige und ungleichmäßig begrünte Fläche dar. Eine Seite entsprach der Länge von mindestens zwei Fußballfeldern. In der Mitte, etwas abseits eines Trampelpfades, der offenbar schon seit Generationen als Abkürzung über den Platz genutzt wurde und bereits vollkommen ausgetreten war, befand sich in einer Baumgruppe eine großzügige Toilettenanlage, wodurch klar wurde, dass hier auch wichtige Veranstaltungen stattfanden.

Wie ihnen die Leute im Dorf später erzählten, hätten hier früher die Bauern der Umgebung ihre Kartoffeln, Gemüse, Butter, Eier, Käse, Speck verkauft. Das hörte sich für Klaus zu fantastisch an, obwohl er aus Erzählungen von den Omas schon gehört hatte, dass so etwas früher durchaus üblich war. Jetzt, in der letzten Juliwoche des Jahres, fand hier etwas ganz besonderes statt und das war wie schon seit hunderten von Jahren, der Brarupmarkt. Mitteilsame Einheimische, die das Erstaunen der Kinder bemerkt hatten, erzählten ihnen, dass dies in Friedenszeiten der größte ländliche Jahrmarkt von ganz Schleswig-Holstein wäre. Auf dem Platz seien früher noch viel mehr Buden, Karussells gewesen und in Festzelten hätte Musik gespielt und dort wäre gefeiert worden. Das war für die Kinder eine sehr sympathische Neuigkeit, welche ihnen ihre neue Heimat sofort in ein erfreuliches Licht rückte.

Die ganze Größe des Marktplatzes war für die Kinder nicht deutlich erkennbar, denn selbst die wenigen Buden und Karussells verhinderten den Überblick. Alle waren begeistert und sie wanderten lange wie betäubt und ratlos zwischen den Buden und Fahrgeschäften umher. Solche Karussells und diese Losbuden mit den merkwürdigen und leider völlig unpraktischen, weil ungewohnten Spielsachen, und diese Stände mit den unbekannten Süßigkeiten hatten, sie zuvor noch nie gesehen und auch noch nie davon gehört. Für sie war das wie ein Schaufenster, an denen man sich beim Betrachten der dahinter ausgebreiteten Herrlichkeiten, die Nase plattdrückt und dann ob des unerreichbaren, seufzend weitergeht. Ermüdet von den Eindrücken gab Klaus schließlich auf. Es zog ihn zurück, dahin wo Mutti auf ihn warten würde und wo auch Oma und die Tanten waren.

Vor der Schule spielten ein paar Mädchen auf dem Bürgersteig Himmel und Hölle und eine auffallend gut aussehende Frau stand in der Nähe und sah ihnen zu. Sie schien auf etwas zu warten. Klaus bemerkte sie, als er mit den anderen Jungen vom Brarupmarkt kommend den Schulhof betreten wollte. Er erschrak, als sie ihn ansprach und fragte, ob er auch zu den Flüchtlingen gehören würde.

Seine Mutter und auch alle anderen Frauen seiner Umgebung hatten bei ihm immer einen unauffälligen Eindruck hinterlassen, sodass sie leicht zu übersehen waren. Er wusste, dass dies notwendig gewesen war, um gegenüber den Russen so wenig wie möglich aufzufallen, was aber manchmal auch nichts genutzt hatte. Diese Frau wirkte dagegen so ganz anders und er wagte sich entschlossen vor und bejahte ihre Frage, während die anderen wie hypnotisiert stehen geblieben waren.

Sie erklärte, dass sie auf dem Brarupmarkt an einigen Losbuden Verschiedenes gewonnen hätte, dass sie sehr gerne den Flüchtlingen übergeben würde, und drückte ihnen verschiedene Sachen in die Hand. Für ihn blieb ein Stück Seife und ein ihm unbekanntes Küchennutensiel übrig, dass er unschlüssig anstarrte.

Sie bemerkte seine Unsicherheit und erklärte, dass sie verstehe, dass ihm als Jungen, Derartiges unbekannt sei, aber er solle es mal seiner Mutter geben, die wisse sicher was damit anzufangen und schob die Erklärung hinterher, es wäre ein Schaumlöffel, den sie beim Kochen sicher dringend benötigen würde.

Die Unkenntnis dieser Frau, was ihre Lebensverhältnisse betraf, berührte ihn, aber er genierte sich ihr zu erklären, dass sie weder was zu essen hätten, bei dem man einen Schaumlöffel gebrauchen könne, noch überhaupt eine Küche besaßen.

Er überlegte angestrengt, ob er so einen Schaumlöffel schon früher bei den Omas in Stolp gesehen hatte, konnte sich aber im Augenblick an rein gar nichts mehr entsinnen. Aus reiner Verlegenheit betrachtete er den Schaumlöffel weiter ganz genau, obwohl an diesem simplen Teil nichts gab, was noch neu zu entdecken wäre. Die anderen Jungs hatten sich längst verdrückt, aber er stand noch immer neben dieser Frau, die auch noch äußerst angenehm roch.

Ihr schien durch die zögernde Entgegennahme der Geschenke mittlerweile bewusstzuwerden, dass sie offenbar in eine andere Welt eingetaucht war. Das schien sie zu überfordern, sodass sie auf einmal etwas murmelnd und den überraschten über den Kopf streichend zu erst langsam und dann immer schneller werdend davon ging. Er hörte ihre sich entfernenden Schritte genau, wagte aber nicht aufzusehen.

Jetzt wo sie weg war, fiel ihm wieder ein, an was ihn an dem Teil, das sie Schaumlöffel nannte, erinnerte. Es war nichts aus einer Küche, sondern es erinnerte ihn an die Gasmaske der Soldaten. Schon oft hatte er mit anderen Jungs eine auseinandergenommen und auch aufgesetzt um die Mädchen zu erschrecken. Und die Filter dieser Gasmasken sahen genau so aus wie der Schaumlöffel, denn aus so einem war er gemacht worden, das war für ihn jetzt klar.

Er setzte sich auf die kleine Mauer vor der Schule und hielt sich den Schaumlöffel vor den Mund und blies dadurch und stellte sich vor, es wäre eine Gasmaske und er wäre ein Soldat. Nachdem er eine Weile so vor sich hin gespielt hatte, nahm er den Schaumlöffel und ließ ihn über seinen Kopf kreisen und schmetterte ihn dann mit Schwung über den Zahn in den dahinter stehenden Apfelbaum, sodass die unter ihm im Gras kratzenden Hühner mit empörten Gegacker davon stoben. Danach fühlte er sich bedeutend besser. Das Stück Seife steckte er in die Hosentasche. Er nahm sich vor, es bei nächster Gelegenheit vielleicht zu benutzen.