Die Zentrale der Rache

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„Das ist ganz einfach“, antwortete Doktor Tan.

Der Rechtsmediziner trug einen weißen Kittel. Seine blitzblank geputzten schwarzen Lackschuhe reflektierten das gleißende Licht in dem kleinen Büro, das nur durch eine Glasscheibe von dem Kühlraum getrennt war, in dem die Leichen aufbewahrt wurden. Dort drüben lag der tote Kuddel auf einem Metallbett. Sein Körper wurde von einem hellgrauen Leinentuch bedeckt, doch der Kopf war auch durch die Trennscheibe deutlich zu erkennen.

Tan sah aus wie der attraktive Doktor aus einer der zahlreichen Krankenhaus-Seifenopern, die fast täglich im thailändischen Fernsehen liefen.

„Ein Stromstoß aus einem Elektroschocker könnte solche Narben hinterlassen haben.“

„Ah, ein Taser?“ fragte Pong. „Man liest doch immer, dass die Dinger harmlos sind und den Gegner nur für dreißig Sekunden kampfunfähig machen.“

„Ja, normalerweise schon. Aber wenn der Getroffene ein schwaches oder ein vorgeschädigtes Herz hat, dann kann so ein Stromstoß möglicherweise Herzrhythmusstörungen oder im schlimmsten Fall sogar einen Herzstillstand auslösen. Immerhin hat so ein Elektroimpulsgerät eine Ausgangsspannung von 50000 Volt. Zwar dringen tatsächlich nur kurze Impulse von ungefähr vierhundert Volt in den Körper ein. Doch wie gesagt - wenn das Herz des Getroffenen schon geschädigt ist, kann so ein Angriff im schlimmsten Fall tödlich enden.“

Während der Mediziner seinen aufschlussreichen Vortrag hielt, formte sich in Chaichets Kopf das verschwommene Bild einer Unstimmigkeit, das er schließlich doch in Form einer Frage fixieren konnte.

„Nehmen wir mal an, der Täter hat den Farang sozusagen aus Versehen getötet. Also dann verstehe ich nicht, warum er ihn so demonstrativ als Opfer zur Schau gestellt hat.“

„Stimmt“, pflichtete ihm Pong bei. „Er hätte den Mann doch einfach liegenlassen und dann unbemerkt verschwinden können. Sie, lieber Doktor Tan, wären der Leiche nie begegnet, und jeder einfache Dorfarzt auf Koh Chang hätte wohl auf Herzinfarkt getippt.“

„Ja, das ist wohl richtig“, stimmte der Doktor zu. „Und selbst wenn ich ihn aufgeschnitten hätte, wären sogar mir diese kleinen Narben nicht besonders verdächtig vorgekommen. Aber - die Frage, warum der Täter den armen Kerl wie einen Weihnachtsbaum geschmückt hat und ihm das linke, abgeschnittene Ohr in den Mund gestopft hat, kann ich Ihnen beim besten Willen nicht beantworten. In diesem Sinne, wenn keine weiteren Fragen vorliegen, würde ich mich jetzt liebend gern auf meine Vorlesung vorbereiten.“

Die Polizisten verstanden den deutlichen Hinweis und erhoben sich von ihren Stühlen. Dem Inspektor fiel auf, dass Jirawan etwas blass um die Nase aussah. Der penetrante Geruch von Desinfektionsmitteln, der von den Klimaanlagen gleichmäßig in den sterilen Räumen verteilt wurde, drosselte die normale Atmung, weil man möglichst wenig von der chemisch angereicherten Luft inhalieren wollte. Vielleicht gab es aber noch eine weitere Ursache für Jirawans Unwohlsein: Am Tatort hatte Chaichet der Kollegin nämlich eine Konfrontation mit der Leiche erspart. Doch nun hatte sie den toten Farang hinter der Scheibe gesehen, und der Anblick des Toten mit dem abgetrennten Ohr schien sie ein wenig mitgenommen zu haben .

Sie würden sich jetzt gleich auf den Rückweg nach Koh Chang machen. Unterwegs hatten sie Zeit genug, über die Gründe zu spekulieren, die den Täter dazu veranlasst hatten, einen Mord, der wie ein natürlicher Todesfall aussah, nachträglich - sozusagen mit einem Ausrufezeichen - als Hinrichtung zu etikettieren.

Draußen, vor dem Gebäude der Gerichtsmedizin, war die Luft so nass und fast so heiß wie Tom-Yum-Suppe. Chaichet beeilte sich, das Dienstfahrzeug aufzuschließen und drehte den Schalter der Klimaanlage auf die Höchststufe.

Auf der Rückfahrt verhielt sich Jirawan ungewöhnlich still. Es war nicht der Geruch der Desinfektionsmittel gewesen, der ihr den Magen umgedreht hatte. Tatsächlich wäre sie beinahe in Ohnmacht gefallen, als sie das Gesicht des Ermordeten genauer betrachtet hatte. Der Mann kam ihr nämlich bekannt vor. Nein, es gab überhaupt keinen Zweifel: Sie kannte dieses Gesicht. Sie war dem Farang zwar nie begegnet, doch sie hatte mit ihm gechattet - auf einer Dating-Webseite.

Eine befreundete Lehrerin hatte sie vor ein paar Wochen dazu ermutigt, sich probeweise auf dieser Seite anzumelden. Die Freundin hatte auf der Seite einen netten Belgier kennengelernt, der sie in den nächsten Schulferien besuchen wollte.

„Einen gescheiten Thai findest du sowieso nicht mehr“, hatte Milli in ihrer brutal aufrichtigen Art behauptet. „Heutzutage lernt man sich nicht mehr im Café kennen, sondern im Internet. Warum versuchst du es nicht einfach mal? Viele Männer auf diesen Seiten sind natürlich nur auf einen One-Night-Stand aus, mit Sex und einem schnellen Bye Bye. Da musst du vorsichtig sein. Aber mit etwas Glück findest du einen Farang, der seriöse Absichten hat. Und die Augen! Sie haben blaue Augen, wie Porzellanpuppen“, hatte Milli geschwärmt. „Oder willst du wirklich jeden Abend alleine zu Hause verbringen?“

Damit hatte die Freundin eine wunde Stelle getroffen. Denn die Abende, die die Polizistin zumeist allein in ihrem Apartment verbrachte, hatten mit einem erfüllten Dasein nicht viel gemeinsam. Meist kam Jirawan hundemüde von ihrem Dienst nach Hause. Dann erledigte sie noch die nötige Hausarbeit, kochte sich ein einfaches Gericht und schlief bald danach vor der Glotze sein. Für so ein beschränktes Leben fühlte sie sich noch zu jung. Aber welche Möglichkeiten hatte sie denn schon? Die meisten Frauen lernten ihre zukünftigen Ehemänner am Arbeitsplatz kennen. Doch diese Möglichkeit kam für Jirawan nicht in Betracht.

Pong war ein lieber Kerl und er hatte seine Gefühle ihr gegenüber schon mehrfach offenbart. Sie mochte ihn auch, als Kollegen, als Freund. Doch mehr als Sympathie konnte sie leider nicht für ihn aufbringen. Auch der Inspektor war ein feiner Kerl, doch er schien bis heute nicht über den Tod seiner Frau hinweg gekommen zu sein. Auch ihm gegenüber empfand Jirawan Sympathie, Freundschaftsgefühle, aber leider nichts, was ihr Herz schneller schlagen ließ.

Deshalb war sie an einem einsamen Abend doch neugierig geworden und hatte sich auf dieser Dating-Webseite angemeldet. Ein paar Tage später war dieser Farang aufgetaucht, der als Hochzeits-Redner ausgerechnet auf Koh Chang arbeitete. Jirawan hatte seine Kontaktanfrage angenommen und war mit ihm ins Gespräch gekommen. Doch mehr als eine Handvoll allgemeiner Informationen hatten sie nicht ausgetauscht. Dass sie als Polizistin arbeitete, wusste er nicht. Und nun war sie wirklich erleichtert, dass es nie zu einem Treffen gekommen war.

Während Chaichet die Schlangen der Fahrzeuge, die auf die nächste Fähre nach Koh Chang warteten, frech passierte, um sich ganz vorne auf der Pole-Position zu platzieren, schwirrten die widersprüchlichen Gedanken wie Mücken in ihrem Kopf herum. Das Ganze kam ihr mittlerweile peinlich vor, und sie fragte sich, ob sie den Inspektor über diese flüchtige Internet-Bekanntschaft informieren sollte.

Nein. Da es in ihren Chats nichts gegeben hatte, das für die Ermittlungen von Belang war, würde Jirawan ihr kleines Geheimnis vorläufig für sich behalten.

 Phnom Penh, Kambodscha.

 

Pepe war seinem besten Agenten nur selten begegnet. In der Regel empfing 118 seine Anweisungen verschlüsselt über einen sicheren E-Mail-Kontakt. Pepe gefiel es, dass der junge Kambodschaner frisch und durchtrainiert aussah. Er hielt sich offensichtlich fit, was dafür sprach, dass der Junge seinen Job ernst nahm. Einem Alkoholiker oder Drogensüchtigen hätte Pepe niemals solche sensiblen Projekte anvertraut. Für die nächste Spritze würde ein Junkie nämlich seine eigene Großmutter an die Polizei ausliefern. Nein - der junge Mann, der da vor ihm auf dem Designerstuhl saß, machte einen gesunden Eindruck. Verschwiegen war er ohnehin. Anfangs hatte Pepe sogar angenommen, dass er stumm war. Doch das stimmte nicht. 118 oder Rangsey, wie sein wahrer Name lautete, wog nur jedes seiner Worte sorgfältig ab.

Erst vor wenigen Minuten waren die Handwerker abgezogen, die die Klimaanlage endlich wieder auf Trab gebracht hatten. Nun atmete das Gerät wieder, und die Temperatur in dem großen, schmucklosen Raum war erträglich.

„Habe ich das richtig verstanden? Du hast es wieder wie einen natürlichen Todesfall aussehen lassen? Aber das war nicht so abgesprochen!“

Rangsey 118 wirkte kein bisschen nervös. Er genehmigte sich einen Schluck aus dem Wasserglas, das vor ihm auf der Tischplatte stand, und schien dabei nach den passenden Worten zu suchen. Auch das gefiel Pepe: Der Mann war cool und ließ sich auch von ihm, seinem Boss, nicht aus der Ruhe bringen.

„Chef, ich habe alles so gemacht wie vereinbart: Zuerst ruhigstellen mit Taser, dann etwas quälen, Ohr abschneiden und so weiter. Doch plötzlich hat der Kerl nach Luft geschnappt wie ein Fisch am Strand und dann ist er mir unter den Händen weggestorben.“

Pepe glaubte ihm diese Version. Der Killer hatte es tatsächlich fertiggebracht, sein Opfer zu Tode zu erschrecken.

„Und dann hast du ihn wie vereinbart auf den Thron gesetzt und hübsch dekoriert?“

„Ja, alles wie versprochen, Boss. Hier sind die Fotos.“

118 händigte Pepe sein Smartphone aus, auf dessen Display bereits das erste Foto zu sehen war. Der Boss hatte schon einige Leichen gesehen, doch beim Betrachten der makaberen Installation, die das kleine Fenster des Smartphones ausfüllte, lief ihm ein kühler Schauer über den Rücken. Mit einer Wischbewegung seines Mittelfingers blätterte er die folgenden Bilder auf, er vergrößerte das Detail mit der Wunde, die das abgeschnittene Ohr hinterlassen hatte und lehnte sich dann zufrieden zurück.

 

„Gute Arbeit, 118. Unsere Auftraggeberin wird zufrieden sein. Ich werde die Bilder gleich per Blue tooth an meinen Drucker senden.“

Pepe hatte sich den kleinen Pocket Printer vor ein paar Wochen zugelegt. Sie konnten unmöglich das Risiko eingehen, belastende Dateien per E-Mail durch die Gegend zu schicken. Die erstaunlichen Neuerungen der Technologie ermöglichten es ihm nun, die Fotos direkt vom Smartphone aus zu drucken. Dem Kunden wurden die Beweisbilder in der Regel persönlich übergeben, und danach konnten die Dateien gelöscht werden.

Pepe öffnete die flache Schublade seines Schreibtischs, entnahm ein neutral weißes Couvert und reichte es an 118 weiter. Auch die Übergabe des Honorars erfolgte immer persönlich. Rangsey nahm den Umschlag wortlos entgegen und ließ ihn in seiner kleinen Ledertasche verschwinden.

„Wenn du Zeit und Interesse hast, würde ich dir gleich den nächsten Auftrag mit auf den Weg geben“, teilte ihm Pepe mit.

Er hatte sich diese höfliche Umgangsform angewöhnt, weil er wusste, dass man einem Profi wie 118 keine Befehle erteilte. Es konnte ohnehin nicht schaden, wenn der Agent den Eindruck gewann, dass er frei darüber entscheiden durfte, ob er einen Auftrag annahm oder ablehnte.

„Ich habe immer Zeit für Sie, Boss. Das wissen Sie doch“, antwortete 118 nüchtern.

„Sehr gut. Die Sache ist in diesem Fall aber etwas komplizierter.“

Pepe nahm Blickkontakt zu seinem Gegenüber auf und er stellte fest, dass Rangsey nicht mit der Wimper zuckte.

„Es soll wie ein natürlicher Todesfall aussehen?“

„Nein, das wird noch nicht einmal nötig sein. Aber du wirst es mit einer Polizistin zu tun haben. Die Lady schnüffelt sehr aufdringlich in unseren privaten Angelegenheiten herum, und deshalb sollten wir sie ruhigstellen.“

118 schüttelte den Kopf und hielt dem Boss seine beiden Handflächen entgegen. Es sah so aus, als wollte er einen geworfenen Ball abwehren.

„Keine Frauen, keine Kinder“, erklärte er knapp. „So steht es in meinem Arbeitsvertrag.“

Pepe stöhnte, erhob sich vom Sitz seines Bürostuhls und ging zum Fenster hinüber. Es gab zwar keinen schriftlichen Arbeitsvertrag zwischen der Firma und ihren Angestellten. Aber natürlich erinnerte er sich an die mündliche Abmachung, die sie zu Beginn ihrer Zusammenarbeit getroffen hatten. Trotzdem - er durfte jetzt nichts unversucht lassen, um Rangsey von seiner Prinzipientreue abzubringen.

Wenn das nicht funktionierte, würde er eine Alternative finden müssen. Wie auch immer: Er wollte sein bestes Pferd im Stall auf keinen Fall verärgern oder gar verlieren.

„Wir verdoppeln dein Honorar. Wie hört sich das an?“

Rangsey zeigte wie in einer Wiederholung seine beiden Handflächen vor. Auch in seiner Körpersprache beschränkte er sich offenbar auf das Wesentliche.

„Danke, Boss. Hört sich gut an. Aber Prinzip ist Prinzip.“

„Okay. Das muss ich akzeptieren. Wir melden uns dann wieder, wenn wir etwas Passendes haben.“

Auch 118 erhob sich jetzt in einer geschmeidigen, katzenartigen Bewegung. Der Auftragskiller verbeugte sich höflich wie ein Samurai und verließ dann wortlos den Raum.

Pepe trat wieder ans Fenster und blickte auf die ruhige Nebenstraße hinaus. Die garagenartigen Läden, in denen Obst, Haushaltsartikel oder religiöser Kitsch für den Tempelbesuch verkauft wurden, wirkten wie ausgestorben. Vermutlich dösten die Inhaber in einer Ecke ihrer Verkaufsräume und träumten von besseren Zeiten.

Pepe drückte seine Stirn gegen die überraschend kühle Fensterscheibe. Er brauchte jetzt wirklich einen kühlen Kopf, denn immerhin ging es um die Frage, ob er dem Wackelkandidaten 119 so einen wichtigen Auftrag anvertrauen konnte. Was sprach dafür? Der Agent aus der zweiten Liga war nicht wählerisch und er hatte im Gegensatz zu Rangsey bestimmt keine Skrupel, eine Frau zu exekutieren. Aber es war ein Risiko, diesen Mann nach Thailand zu schicken, um dort eine Computer-Spezialistin der Royal Thai Police zu ermorden. Pepe fühlte sich nicht wohl bei diesem Gedanken. Grübelnd schob er ein paar andere Ideen wie Karten auf einem Spieltisch hin und her.

Er überlegte sogar, ob es Sinn machte, wenn er selbst für dieses Meeting nach Thailand fuhr. So abwegig erschien ihm dieser Gedanke gar nicht, denn früher war er sehr oft im Außendienst gewesen. Dass er sich jetzt den Hintern platt saß und das Geschehen nur noch aus der Ferne verfolgte, war ausschließlich seinem Alter geschuldet. Und wenn er einen Blick in die Zukunft warf, sah es wohl noch deprimierender aus. Da würde er vermutlich vor einem Satellitenbildschirm sitzen, wo er die Zielpersonen finden und mit bewaffneten Drohnen eliminieren konnte.

Für einen Haudegen der alten Schule war das keine sehr spannende Vorstellung.

Aber wie lange war es her, dass er einen Menschen umgebracht hatte? Vier oder fünf Jahre?

Fühle ich mich für so eine Aufgabe noch fit genug? dachte er. Mental und körperlich?

Pepe bemerkte, dass er seine Gedanken nicht in den Griff bekam. Mind fucking nannten die Amis dieses Konzentrations-Problem. Wenn die Argumente und Überlegungen sich im Kreis drehten und sich schließlich wie ein Hund selbst in den Schwanz bissen.

Er würde eine Nacht darüber schlafen und morgen früh eine Entscheidung fällen.

Ein guter Entschluss, dachte er. Jetzt musste er sich nur noch für ein Restaurant entscheiden, in dem er sein Dinner zu sich nehmen konnte.

Tag 3
Tempel Wat Klong Prao, Koh Chang.

Die ersten Sonnenstrahlen zeichneten glänzende Pfützen aus Licht auf den Rasen im Hof des Wat Klong Prao. Der Abt saß im Lotossitz meditierend vor seiner Holzhütte. Er leierte die überlieferte Litanei der Gebetsformeln fast automatisch herunter, denn die heiligen Worte waren seit Jahren in seinem Geist imprägniert. Manchmal nahm er die Bedeutung der Worte nicht einmal mehr wahr. Wenn er einen guten Tag erwischt hatte, wurde sein Geist nach ein paar Minuten von allen störenden Gedanken frei. Doch heute Morgen lenkten ihn die vibrierenden Sonnenstrahlen ab. Woher kam dieses Zittern? Von den Blättern der Bäume, die sich in dem noch kühlen Windhauch leicht bewegten.

Alles hat seine Ursache, dachte der Abt. Gleichzeitig ärgerte er sich, dass er so vorzeitig aus seiner Meditation erwacht war. Ein paar Sonnenstrahlen hatten genügt, um ihn zurück in die Realität zu befördern. Wen wunderte es also, dass seine jungen Mönche kaum noch zu einer tiefen Meditation in der Lage waren.

Es gab zu viel Ablenkung in dieser hektischen Gegenwart: Fernsehgeräte, Smartphones, Lautsprecher, halbnackte Touristinnen. Ganz zu schweigen von den mit gebratenem Hähnchenfleisch, Knoblauch und Ingwer angereicherten Duftwolken, die vom nahegelegenen Markt über die Mauern des Tempelbezirks waberten. Auch sie erweckten Vorstellungen und regten den Speichelfluss an. Ja, auch die Nase war eine Schwachstelle.

Der Abt Somdet verscheuchte die verführerischen Bilder von gebratenen Köstlichkeiten, die wie Projektionen auf der Leinwand seines Bewusstseins erschienen, mit einem Fingerschnipsen. Klick Klick!

Und schon waren sie nicht mehr vorhanden. Man konnte sie tatsächlich wegwischen, wie Kreide von einer Schultafel. Immerhin - diesen einfachen Trick beherrschte er noch. Jeder Mönch musste das lernen - den unruhigen Geist an die Leine zu nehmen und ihm bestimmte Grenzen aufzuzeigen, denn er war jederzeit ablenkbar wie ein junger Hund.

Der Abt beobachtete, dass die Lichtflecken auf dem Rasen allmählich größer wurden. Jeden Tag ging die Sonne auf und wieder unter. Nicht einmal das war eine Tatsache, dachte er. Es war sogar falsch. Vielmehr drehte sich ja die Erde, und die fix stehende Sonne geriet nur für ein paar Stunden aus dem Blickfeld. Alles eine Sache des Standpunkts. Selbst jahrtausendealte Gewissheiten galten nichts mehr in der modernen Zeit. Und wenn er sich manchmal beim Sonnenuntergang am Meer vorgestellt hatte, dass sich die gewaltige Kugel unter seinen Füßen nach hinten von der glühenden Sonne wegdrehte, war ihm schwindlig geworden.

Worum ging es also? Um Werte? Um die Suche nach Gewissheit? Die Stärkung des Glaubens? Oder die Ruhe des eigenen Daseins? Vermutlich war es die Suche nach Antworten auf diese Fragen, die junge Menschen dazu brachte, sich ihre Haare abzuschneiden und für ein paar Monate - oder für immer - in ein Kloster zu gehen.

Es gab freilich auch noch andere Gründe. Erst gestern hatte der Abt in der Zeitung gelesen, dass in einem Kloster in Chantaburi ein Mönch verhaftet worden war. Er hatte von seiner Klosterzelle aus Geschäfte für die thailändische Mafia organisiert. Und Somdet wusste auch, wer dieser Mönch in Wirklichkeit war. Es handelte sich um einen hochrangigen Politiker, der sich nach etlichen Skandalen ins Kloster zurückgezogen hatte. Doch immerhin hatte der Schutz der Immunität ihn nicht vor einer Verhaftung bewahren können.

Somdet seufzte und erhob sich aus seinem Schneidersitz. Ob es diese kriminelle Energie und die erschreckende Verlogenheit in früheren Zeiten auch schon gegeben hatte, fragte er sich. Vermutlich war das so. Das Böse verschwand nicht einfach so, sondern es wurde in jeder Minute irgendwo auf der Erde wieder neu geboren. Der Kampf dagegen würde wohl niemals enden.

Ihm fiel ein, dass er heute Morgen noch einen Termin hatte. In der Hochsaison standen die jungen Paare fast schon Schlange, um sich seinen Segen abzuholen. Im Grunde handelte es sich auch dabei um ein verlogenes Spiel, musste er sich eingestehen. Die Farangs, die sich hier im Wat mit heiligem Wasser bespritzen ließen, waren nämlich meist schon vor ihrer Reise auf dem Standesamt, vielleicht sogar in einer christlichen Kirche gewesen. Hier in Thailand ging es ihnen nur um ein exotisches Erlebnis: Buddha light mit weißem Brautkleid und dunklem Anzug. Und natürlich um die Fotos vom Mönch und der Hochzeits-Show am Strand.

Ja, auch das war alles nicht echt. Und dennoch spielten alle Teilnehmer augenzwinkernd mit und hatten ihren Spaß. Somdet tröstete sich mit der Einsicht, dass es weit schlimmere Betrügereien gab und beschloss, vor dem Treffen mit dem Brautpaar noch einen kleinen Spaziergang zu machen.

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