Die Zentrale der Rache

Text
Read preview
Mark as finished
How to read the book after purchase
Font:Smaller АаLarger Aa

„Jawohl, Boss!“

Mit einem leichten Grinsen im Gesicht täuschte Jay einen militärischen Gruß an und erhob sich von seinem Sitzplatz. Der Inspektor fragte sich insgeheim, ob dem Kollegen die erneute Besichtigung des Tatorts Bauchschmerzen bereitete. Jedenfalls ließ er sich nichts anmerken, denn er stiefelte mit entschlossenen Schritten auf das Horrorhaus zu. Wie viele Leichen hatte dieser Mann wohl schon gesehen? Chaichet konnte sich nicht vorstellen, dass die Begegnung mit dem Tod in seiner grauenhaftesten Form jemals zur Routine werden könnte. Aber vielleicht täuschte er sich auch, und es gab Menschen, die ihre Seele einkapseln und unempfindlich machen konnten. Nur - wenn sie Pech hatten, verloren sie nach und nach den Zugang zu ihrer natürlichen Sensibilität. Und darin vermochte Chaichet kein lohnendes Ziel zu erkennen. Bevor er damit begann, den Zustand seiner eigenen Gefühlswelt zu beleuchten, riss er sich von der mäandernden Gedankenkette los.

„Also Leute, Schluss mit der Faulenzerei! Wir sollten uns noch mal in der Nachbarschaft umhören. Vielleicht hat ja doch jemand etwas Ungewöhnliches bemerkt.“

 Am Strand, Kai Bae.

 

„Sie dürfen die Braut jetzt küssen!“

Erst als Khun Nikki diesen entscheidenden letzten Satz ausgesprochen hatte, fiel die Anspannung der letzten Stunden von ihm ab. Ja, er hatte die Zeremonie mit Ach und Krach über die Bühne gebracht. Die Bühne - das war der schmale, ockerfarbene Strand von Kai Bae, gleich hinter dem Deluxe-Hotel. Nikki fand, dass er ein wenig stolz auf sich sein durfte. Immerhin war er für die gesamte Organisation verantwortlich gewesen. Er hatte den Aufbau des „Altars“ überwacht, der eigentlich nur aus einem Rednerpult und einem blumengeschmückten Torbogen aus Bambusstangen bestand. Die Musikauswahl hatte das Brautpaar selbst getroffen, und die Verkabelung der Lautsprecher war ein Kinderspiel gewesen. Nur während der Rede, die er mit großem Ernst vom Blatt abgelesen hatte, waren ihm einige Aussprachefehler unterlaufen. Doch die waren spätestens beim Anschneiden der dreistöckigen Hochzeitstorte, die zu neunzig Prozent aus zuckersüßer Buttercreme bestand, längst wieder vergessen. Das Paar hatte sich seinen Traum erfüllt, und vor allem die Braut strahlte mit der tropischen Sonne um die Wette.

Nun stand Nikki im Schatten und beobachtete wie das Brautpaar die frisch gefüllten Sektgläser austeilte und mit den wenigen Gästen auf sein Glück anstieß. Ein paar Touristen in Badehosen und Bikinis knipsten das ungewöhnliche Spektakel mit ihren Smartphones.

Dass der offizielle Zeremonienmeister ermordet worden war, hatte Nikki selbstverständlich für sich behalten. Die Realität, vor allem wenn sie sich von ihrer abscheulichen Seite zeigte, musste bei einer Traumhochzeit unbedingt außen vor bleiben. Generell war das seine wichtigste Aufgabe, dachte Nikki. Er wurde dafür bezahlt, dass er den Gästen für die Zeit ihres Urlaubs die lästige Realität und den grauen Alltag vom Hals hielt. Deshalb polierte er jeden Tag an diesem Traum herum, wie Aladin an seiner Wunderlampe.

Gleich nach Sonnenaufgang ließ er den Strand reinigen. Müll war Realität und hatte in einem Traum nichts zu suchen. Ja, manchmal kam sich der Empfangschef des Deluxe beinahe vor wie ein Magier, der Illusionen aus dem Nichts hervorzauberte. Er baute Kulissen aus Sonne, Meer und Licht, ließ die Gäste auf Elefanten reiten, verwöhnte sie mit kulinarischen Köstlichkeiten und las ihnen jeden noch so absurden Wunsch von den Lippen ab.

Dass sein Aufgabenbereich aber nun schon zum zweiten Mal in die Nähe von Mord und Totschlag geriet, gefiel ihm ganz und gar nicht. Für den Tod gab es im Schlaraffenland der schönen Illusionen nämlich keinen Platz. Schmutzige Strände, lästige Pflichten, stechende Insekten, Lärm, verstopfte Toiletten - das waren allesamt Tabus. Doch das größte No-Go war ohne jeden Zweifel der Tod. Denn der Knochenmann wurde sogar in der alltäglichen Welt der Farangs sorgfältig verdrängt und versteckt .

Tag 2

Der Moment, wenn er die Dimension des Schlafs verlässt, und die Realität ganz überraschend wieder vor seinen Augen erscheint. Ein Wunder. Das Wunder des Erwachens. Eines Tages würde er vielleicht nicht mehr erwachen. Wäre das wirklich so schlimm? Genau diese Todesart wünschte sich doch die Mehrheit der Menschen.

Wie ein Hund nach einem Bad im Meer schüttelte Chaichet die der Tageszeit unangemessenen philosophischen Gedanken ab. Er stützte sich auf der Matratze ab und stand mit einem Seufzer auf. Die Sonnenstrahlen stachen schon wie blitzende Messerklingen durch den nicht perfekt geschlossenen Vorhang und riefen dem Inspektor in Erinnerung, dass er etwas spät dran war. Während er ins Badezimmer schlurfte, dachte er mit Unbehagen an die bevorstehenden Verhöre. Die Befragungen von Nachbarn oder Zeugen waren ihm schon immer lästig gewesen. Er kam sich dann jedes Mal wie ein Schnüffler oder wie ein aufdringlicher Reporter vor. Aber das gehörte nun mal zu seinem Job. Die mangelnde Motivation rührte freilich auch von der jahrelangen Routine her und entsprang der Erfahrung, dass man von den Nachbarn nur selten Hinweise bekam, die wirklich nützlich waren. Chaichet war froh, dass Jirawan und Pong ihn bei diesen zeitaufwändigen Interviews unterstützen würden.

Als er sich zwanzig Minuten später auf den Weg nach Salakpet machte, hatte sich seine Laune schon ein wenig gebessert. Er würde sich mit den beiden Kollegen auf halbem Weg an der Tankstelle in Klong Son treffen. Dort gab es nämlich einen Amazon-Coffeeshop mit dem besten Cappuccino der Insel.

Nachdem sie ihren Kaffee getrunken hatten, fuhren sie mit dem Toyota der Tourist-Police weiter. Die Straße in den wilden Osten der Insel verlief zunächst in nördlicher Richtung. Dort passierten sie die Anlegestellen der Fähren. Von der Nordspitze aus ging es dann fast schnurgerade in Richtung Süden. Die Fahrt war angenehm, weil die Küstenstraße gut ausgebaut war. Erst kurz vor Salakpet wurde die Fahrbahn enger, und Pong musste sich an einem entgegenkommenden LKW vorbei quetschen. Kurz darauf wand sich die Straße wie ein Korkenzieher in das Dorf am Südende von Koh Chang hinein. Ein paar Minuten später stellte Pong das Dienstfahrzeug auf einem mit Kies belegten Parkplatz ab.

„Hier geht es nur noch zu Fuß weiter.“

Sie liefen über eine schmale Betonbrücke. Links und rechts erhoben sich die verschlungenen Wurzeln von Mangroven aus dem brackigen Wasser. Am Ende der Brücke ging es auf einem mit rohen Brettern geplankten Steg weiter, vorbei an einem winzigen Lebensmittelladen und offenen Wohnräumen, in denen Kinder auf dem Fußboden spielten. Ein paar Häuser weiter endete die Bebauung, und das Meer kam wieder in Sicht. Ein grauer Reiher flog in lässiger Eleganz über die unruhig zitternden Wellen. Ganz am Ende des Stegs lag das Haus.

„Noch einsamer geht es wirklich nicht“, befand Pong.

„Ja. Aber mit dem Motorrad konnte er bis vor die Haustür fahren“, erklärte Chaichet.

„Also musste auch der Mörder in diese Sackgasse hinein. Das wäre eigentlich zu riskant. Vielleicht ist er mit einem kleinen Boot gekommen.“

Offensichtlich hatte Anurak gute Arbeit geleistet, denn vor dem Tatort wartete bereits eine kleine Gruppe von Anwohnern auf die Polizei.

„Sawadii krap! Das sind die wichtigsten Zeugen beziehungsweise Nachbarn, die für eine Befragung ab sofort und jetzt bereit stehen“, verkündete der Constable. Er schien stolz auf seine Auswahl zu sein und bedachte die Dorfbewohner mit einem wohlwollenden Blick.

„Danke, Constable. Na, dann wollen wir mal“, sagte Chaichet.

Erstes Verhör
Jirawan befragt eine Nachbarin.

Sao ist Witwe und lebt allein in einem kleinen Holzhaus. Offenbar freut sie sich über einen Gesprächspartner, sogar wenn es sich um eine Polizistin handelt.

„Der Farang lebte sein eigenes Leben. Er war ja auch der einzige Ausländer hier im Fischerdorf. Außer dem Chinesen, aber der wohnt ja schon immer hier. Wissen Sie, Frau Polizistin, hier am Ende der Insel gibt es keine schönen Strände, und wir haben uns deshalb schon gewundert, dass so ein attraktiver Mann sich hier einquartiert. Ja, es gab Gerüchte über ihn, das war meiner Meinung nach nur Geschwätz.“

„Kam er manchmal mit einer Frau von seinen Ausflügen zurück?“

„Ja, natürlich. Aber daran war bestimmt nichts Ungewöhnliches. Die meisten Farangs wollen ja in Thailand nicht wie die Mönche leben, verstehen Sie? Wissen Sie, ich war einmal in Pattaya vor vielen Jahren und deshalb weiß ich, wovon ich rede. Na gut, hier auf der Insel ist es nicht so schlimm mit den Bars und so weiter, aber...“.

Jirawan unterbricht an dieser Stelle den Redefluss der Witwe. Sie weiß aus Erfahrung, dass viele Zeugen nur schwer zwischen einer nüchternen Aussage und einer Schilderung ihrer persönlichen Weltanschauung unterscheiden können.

„War er dir sympathisch, als Nachbar?“ setzt Jirawan das Verhör etwas unbeholfen fort.

Ein Lächeln erscheint auf dem breiten, braun gebrannten Gesicht von Sao.

„Ja, durchaus, das muss ich zugeben. Wie gesagt - er war ein attraktiver Mann, er grüßte freundlich und er bezahlte auch immer pünktlich.“

„Wieso? Was hat er denn bezahlt?“

„Na, ich hab doch jede Woche sein Haus geputzt, für 200 Baht. Und die hat er immer pünktlich und prompt bezahlt.“

 

„Verstehe, kaa.“

Die Polizistin fragt sich, warum die Nachbarin mit dieser wichtigen Information nicht schon früher herausgerückt ist. Aber sie beschließt, nicht zu streng mit der Frau zu sein. Vermutlich ist das ihr erstes Verhör, und woher soll sie wissen, was für die Ermittlungen wichtig oder nebensächlich sein kann. Wenn Jirawan ehrlich ist, dann weiß sie das oftmals auch nicht so genau. Vor allem wenn die Untersuchungen wie jetzt noch ganz am Anfang stehen. Denn eine scheinbar nebensächliche Beobachtung oder ein banales Indiz können am Ende von großer Bedeutung sein. Hinterher war man immer schlauer.

„Ist dir denn irgendetwas Ungewöhnliches aufgefallen in seinem Haus? Du musst keine Scheu haben, es mir zu erzählen. Der Mann ist ja tot, und die Toten haben keine Privatsphäre mehr. Vielleicht können uns deine Beobachtungen dabei helfen, seinen Mörder zu finden.“

Sao tippt sich mit dem Mittelfinger mehrmals auf die Nasenspitze. Vielleicht ist das eine spezielle Methode, mit der sie ihr Gedächtnis auf Trab bringt.

„Drinnen war alles normal. Ziemlich ordentlich. Es gab keinen Safe, und ich nehme an, dass er seine Wertsachen in seinem Koffer hatte. Der war nämlich immer verschlossen.“

Den blauen Samsonite-Koffer hatte die Spurensicherung mitgenommen, und sie würden ohnehin bald erfahren, was sich darin befand.

„Einmal lagen drei Armbanduhren auf dem Tisch. Da hatte er wohl vergessen, die in den Koffer einzuschließen.“

„Aha. Kannst du dich daran erinnern, wie die Uhren aussahen?“

„Ja. Ich habe mir aus Neugier mal eine näher angeschaut. Die hatte so ein Stahlarmband, und auf dem Zifferblatt war eine kleine Krone. Den Markennamen der Uhr habe ich mir nicht gemerkt.“

„Was meinst du: War die Uhr neu oder gebraucht?“ fragt Jirawan.

„Ich denke, die war schon etwas älter. Die hatte so kleine Kratzer am Armband.“

„Danke, Sao! Du bist wirklich eine gute Beobachterin. Eine letzte Frage hätte ich aber noch: In der Nacht, als dein Nachbar ermordet wurde - hast du da irgendwelche Geräusche gehört? Lärm, den Motor von einem Auto vielleicht?“

„Nein, leider nicht. Ich habe einen ganz guten Schlaf. Aber halt...“

Sao zögert und tippt sich wieder auf die Nasenspitze.

„Das muss kurz vor ein Uhr nachts gewesen sein, da fing einer der Straßenköter an zu bellen. Das ist natürlich nichts Ungewöhnliches, aber das Gekläff hat mich tatsächlich geweckt, weil es sich so unheimlich anhörte.“

„Wieso denn unheimlich?“

„Ich kann das schlecht formulieren. So wütend. Der Hund war anscheinend ganz außer sich. Also den Mond hat er bestimmt nicht angebellt. Soll ich es mal nachmachen?“

Jirawan kann sich ein Grinsen nicht verkneifen. Aber warum nicht?

„Ja, lass mal hören!“

Sao streckt ihren Hals in die Höhe und beginnt zu jaulen wie ein liebeskranker Wolf.

„Danke, danke“, unterbricht Jirawan die amüsante Darbietung. „Jetzt kann ich es mir gut vorstellen. Wer weiß - vielleicht hast du uns ja schon geholfen.“

Zweites Verhör
Chaichet stellt die Fragen.

Der Dorfvorsteher Huy berichtet. Der Mann ist sechzig Jahre alt, korpulent, hat einen kräftigen Oberkörper, der nicht zu den dünnen Beinen passt. Oben Boxer, unten Tänzer.

Sie sitzen an einem einfachen Holztisch im Garten, der hinter dem Haus von Huy liegt. Unzählige Blumentöpfe mit Gewächsen aller Art bedecken den Boden. Der Inspektor fragt sich, warum der Dorfvorsteher oder seine Frau die Blumen und Kakteen nicht einfach in die Erde gepflanzt haben. Chaichet vermutet, dass Huy einen Ordnungsfimmel hat: Alles soll brav und ordentlich an seinem Platz stehen.

„Ja, Inspektor, was soll ich sagen? Das ganze Dorf ist erschüttert. Hier sind schon viele Leute gestorben, aber auf ganz natürlichem Weg, wenn ihre Zeit gekommen war. Haben Sie den Mörder denn schon gefangen?“

„Nein, Khun Huy, so schnell geht das leider nicht. Und gerade deshalb sind wir ja für jede Information dankbar. Möglicherweise können Sie mir etwas über den Farang sagen?“

„Ich kannte den Mann nicht wirklich. Er wohnte ja in einer anderen Ecke des Dorfs. Doch er hat sich ganz am Anfang mal bei mir vorgestellt. Wenn ich mich richtig erinnere, war er Franzose, oder?“

„Nein, das stimmt nicht. Wir haben seinen Reisepass gefunden. Er hieß Kurt Brechler, war Deutscher und hatte jede Menge Stempel in seinem Pass. Er ist häufig nach Kambodscha gereist. Wissen Sie vielleicht etwas darüber?“

Als der kleine Mann lächelt, verengen sich seine wimpernlosen Augen zu Schlitzen. Bevor er antwortet, gießt er Wasser aus einer Karaffe in zwei vor ihm stehende Gläser.

„Nein, Inspektor, in der Richtung kann ich Ihnen leider nicht weiterhelfen. Da müssen sie sich an die Immigration wenden.“

Chaichet bedankt sich für diesen überflüssigen Hinweis, trinkt aus Höflichkeit einen Schluck Wasser und verabschiedet sich von Khun Huy. Er hat es doch schon vorher gewusst: Die Befragung von Zeugen erweist sich in den meisten Fällen als pure Zeitverschwendung.

Nachdem der Inspektor mit der Eleganz eines Balletttänzers den mit Blumentöpfen gepflasterten Garten durchquert hat, steigt er in sein Dienstfahrzeug, das sich in der kurzen Zeit wie ein Backofen aufgeheizt hat. Chaichet startet den Motor, dreht die Klimaanlage auf Höchststufe und ist schon gespannt auf die Berichte der Kollegen.

Drittes Verhör
Pong befragt Kukrit.

Der Mann ist Ende vierzig. Er betreibt in der Nachbarschaft des Tatorts einen kleinen Kiosk, in dem er Getränke und Snacks verkauft. Sein Atem riecht nach Knoblauch und Reisschnaps, und Pong gibt sich Mühe, den Kerl auf Abstand zu halten.

„Der Farang war mir unsympathisch, Sergeant. Er hat nie etwas bei mir gekauft. War ein eingebildeter Affe. Kii Nok. Ist morgens immer mit seinem Angebermotorrad und seinem Integralhelm davon gebraust und erst am späten Nachmittag wiedergekommen. Manchmal hatte er auch einen Koffer dabei. Dann blieb er ein paar Tage weg. Keine Ahnung, wo er sich herumtrieb. Vielleicht im Rotlichtmilieu.“

„Wie kommst du darauf?“

„Ja, wissen Sie: manchmal hatte er auch junge Thaifrauen dabei. Ein Playboy, wenn Sie mich fragen. Ich weiß wirklich nicht, aus welchem Grund der Kerl sich hier am Ende der Insel versteckt hat. Solche Typen sollen doch besser in Pattaya bleiben.“

Pong folgert aus dieser Wutrede, dass der Kioskbesitzer ganz allgemein kein Freund von Ausländern ist. Deshalb nimmt er den Außenseiter instinktiv negativ wahr.

Vorurteile und fixe Vorstellungen färben auf die Wahrnehmung der Realität ab, denkt der Sergeant. So ähnlich hat man ihnen das auf einer Fortbildungsveranstaltung zum Thema Verhörtechniken erklärt. Nun gut. Kukrits subjektive Aussagen bringen ihn vermutlich nicht viel weiter.

„Hast du in der letzten Nacht denn irgendwelche Geräusche gehört? Der Farang musste doch mit seinem Motorrad an deinem Kiosk vorbei, oder? Und der Mörder wahrscheinlich auch.“

Kukrit kratzt sich an seinem mit verfilzten Haaren bedeckten Schädel.

„Tja, Sergeant. Gestern hab ich ein wenig zu viel von unserem teuflischen Reisschnaps getrunken. Ich sollte das nicht tun, hat mir mein Arzt gesagt. Die Leber, wissen Sie? Danach habe ich wie tot geschlafen.“

Pong bedankt sich bei dem streng riechenden Nachbarn und beschließt, den Weg zu dem Restaurant, das man als Treffpunkt ausgesucht hat, zu Fuß zu gehen.

Zum Lunch hatten sich die drei Polizisten eine Platte mit Meeresfrüchten und eine extra große Schüssel Reis kommen lassen. Salakpet war auf der Insel bekannt für seine rustikalen Fischrestaurants. Die Zubereitung der Fische und Schalentiere erfolgte traditionell nach Hausfrauenart. Auf jeden Fall konnte man sicher sein, dass alles was hier auf den Tisch kam, noch vor wenigen Stunden im Meer herum geschwommen war.

Während Pong einen Bissen von dem säuerlich scharfen Tintenfisch probierte, versuchte sich Jirawan an einem ersten Resümee.

„Also, was haben wir: Einen deutschen Farang, der hin und wieder als Zeremonienmeister tätig war, mit den Dorfleuten nichts am Hut hatte und öfters nach Kambodscha fuhr. Sehr viel ist das ja noch nicht.“

„Ich hatte ehrlich gesagt auch nicht viel mehr erwartet“, bemerkte Chaichet.

Mit routiniertem Griff entfernte er die große Gräte aus dem gedünsteten Red Snapper und deponierte sie auf einem Plastikteller.

„Vorläufig können wir nur spekulieren, und das bringt nichts. Von den Thais hier im Ort werden wir jedenfalls nicht viel mehr erfahren. Der Mann hat ja sehr isoliert gelebt. Also müssen wir uns an die auf Koh Chang lebenden Farangs halten. Der Deutsche wird bestimmt Kontakt zu Leuten gehabt haben, die auf der touristischen Seite der Insel leben.“

„Und wir sollten mit Khun Nikki sprechen“, ergänzte Jirawan. „Wenn der Mann im Deluxe diese Hochzeitszeremonien abgehalten hat, muss Nikki ihn doch zumindest ein wenig gekannt haben, oder?“

„Ja, ganz richtig. Wenn wir mit dem Essen fertig sind, fahren wir zurück nach Klong Prao und besuchen unseren alten Freund.“

Chaichet löffelte noch etwas Jasminreis auf den Teller und nahm sich vor, die Rückfahrt auf die Westseite der Insel so lange wie möglich hinauszuzögern. Er wollte unbedingt herausfinden, wer den Deutschen getötet und so makaber ausstaffiert hatte. Aber das Essen in diesem Fischrestaurant war wirklich gut. Beinahe kam es ihm vor, als hätten sie sich einen Tag Urlaub genommen.

 Im Deluxe-Hotel, Kai Bae.

„Ich freue mich wirklich, dass wir uns noch mal wiedersehen“, begrüßte Khun Nikki die charmante Polizistin. „Allerdings“... Er berührte seine Lippen mit einer gezierten Geste, als wollte er den folgenden Worten den Ausgang versperren.

„Was allerdings?“ fragte Jirawan mit einem verbindlichen Lächeln nach.

„Allerdings freut sich der Empfangschef eines Hotels nicht unbedingt über den Besuch der Polizei.“

Er seufzte. „Was sollen unsere Gäste nur denken? Nach der Schießerei bei unserer letzten Begegnung sind die Buchungen um fünfzig Prozent zurückgegangen.“

Jirawan hob und senkte die Schultern. Sogar unter dem steifen Uniformstoff blieb die Sinnlichkeit ihrer Bewegungen spürbar.

„Wir tun auch nur unsere Pflicht“, entgegnete die Polizistin mit einer Floskel. „Übrigens könnten die Gäste ja auch denken, dass sie in diesem Hotel besonders sicher untergebracht sind, weil die Polizei sich persönlich um ihr Wohlergehen kümmert.“

Nikki verzog die Mundwinkel, verkniff sich aber die skeptische Bemerkung, die ihm auf der Zunge lag.

„Das haben Sie schön gesagt“, antwortete er diplomatisch. „Wenn ich richtig vermute, möchten Sie von mir etwas über unseren Hochzeitsredner erfahren?“

Sie saßen mittlerweile auf den cremefarbenen Sesseln in der Empfangshalle des Deluxe-Hotels. Ein Serviermädchen hatte eine Karaffe mit Eiswasser und zwei Gläser auf der Marmorplatte des niedrigen Tischs abgestellt und sich dann wortlos entfernt.

„Ja, wir würden gern mehr über diesen Mann erfahren. Wie gut kanntest du ihn denn?“

Nikki nippte an seinem Glas und blickte dann unbestimmt zu dem dekorativen Mauerwasserfall hinüber, der die warme Luft am Eingang der Lobby etwas abkühlen sollte.

„Tja, wer kennt seinen Angestellten, seinen Nachbarn, seinen Freund schon wirklich“, antwortete Nikki vage. Anscheinend hatte das Sprudeln des künstlichen Wasserfalls seine philosophische Ader freigelegt. Jirawan widerstand dem Impuls, ihn aus seiner Besinnlichkeit zu wecken und bewahrte die Geduld. Als Nikki sie Sekunden später anschaute, war er wieder hellwach im Hier und Jetzt.

„Er hatte vor ungefähr sieben oder acht Monaten seine Visitenkarte hier in der Lobby abgegeben. Ich müsste sie noch irgendwo haben. Darauf stand sein Name, seine Telefonnummer und dass er als Zeremonienmeister für Hochzeiten am Strand zur Verfügung steht. Also als Bat Luang.“

„Krap, verstehe“, sagte Jirawan. „Und was hattest du für einen Eindruck von ihm?“

„Er kam mir seriös vor. Unauffälliger Typ. Außerdem sehr gut aussehend, aber das spielt ja eigentlich keine Rolle.“

 

Jirawans Mimik blieb unverändert. Es war kein Geheimnis, dass Nikki sich privat eher für Männer als für Frauen interessierte. Deshalb überraschte es sie nicht, dass er auch die Attraktivität eines Mitarbeiters in Betracht zog.

„Jedenfalls sprach er Deutsch und sehr gut Englisch, und deshalb haben wir ihn ein paar mal für Hochzeiten gebucht. Ich finde, er hat seine Rolle sehr überzeugend gespielt. Die Paare waren zufrieden, wir haben ihn bezahlt, und das war es im Grunde auch schon.“

„Viel ist das ja nicht“, entgegnete Jirawan. „Hast du vor oder nach den Zeremonien nicht mal mit ihm geredet, über sein Privatleben vielleicht?“

„Leider nicht. Man kann sich gar nicht vorstellen, was an so einem Tag los ist. Alles muss bis ins Detail organisiert werden, denn für das Paar soll es ja der perfekte Tag werden. Und leider muss ich mich um jede Kleinigkeit kümmern - vom Brautstrauß über die festliche Musik bis zur XXL-Hochzeitstorte. Da blieb wirklich nicht viel Zeit zum Plaudern. Ich wusste nur, dass er Deutscher war, sympathisch, dass er eine Honda Rebel fuhr und in Salakpet wohnte.“

„Kam dir das nicht seltsam vor? Ich meine, das ist ja ziemlich abgelegen, am anderen Ende der Insel.“

„Ja, seltsam, nicht wahr? Aber - wie gesagt: Wir können nicht in die Köpfe der Leute hineinschauen. Vielleicht wollte er einfach seine Ruhe haben.“

Eine Reisegruppe von zehn oder elf lauthals schnatternden Chinesen strömte im selben Augenblick in die Lobby. Jirawan bemerkte, dass Nikki die Touristen mit einem leicht bekümmerten Gesichtsausdruck beobachtete.

„Es tut mir leid. Aber ich muss mich jetzt um diese Gäste kümmern“, sagte er. „Die haben meistens Extrawünsche und kosten mich noch den letzten Nerv.“

Beide erhoben sich und verabschiedeten sich mit einem höflichen Wai.

„Danke, Nikki. Wir melden uns, falls wir weitere Fragen haben. Kop khun kaa!“

Sie verfolgte noch, wie sich der zierliche Empfangschef bei den Chinesen vorstellte und verließ das Hotel gleich darauf durch den pompösen Haupteingang. Wenn sie sich beeilte, käme sie noch rechtzeitig ins Büro, um Chaichet und Pong nach Chantaburi zu begleiten.

 Im Gebäude der Gerichtsmedizin, Chantaburi, später Nachmittag.

 

„Bei dem Toten habe ich eine Herzschädigung in Form von Myokardinfarkten gefunden. Ob und in welchem Umfang diese mikroskopisch kleinen Narben und Verletzungen am Herzmuskel schon vor dem Tatzeitpunkt bestanden, kann ich leider nicht sagen.“

Chaichet lauschte den Worten des Pathologen wie ein Student in der Vorlesung. Doktor Tan hatte die seltene Gabe, druckreif zu sprechen - allerdings musste man ihn hin und wieder daran erinnern, dass er sich nicht in einem Hörsaal der Universität von Bangkok befand.

„Woher könnten diese Narben denn stammen, wenn wir mal annehmen, dass sie etwas mit dem Mord zu tun haben.“