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Klaus Schönenberg
Schüereball
Ein anderer Dorfkrimi
Klaus Schönenberg
Schüereball
Ein anderer Dorfkrimi
Cover: Klaus Schönenberg
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© 2020
Impressum
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Fax: (0 22 46) 94 92 24
ISBN E-Book 978-3-96136-080-2
ISBN Print 978-3-96136-079-6
published by
Personen:
Frank Linden, Privatschnüffler in Wahlscheid
Ingrid Grün, seine Freundin
Anat und Rinah Liesenthal – Juden in Köln
Ihre Kinder Michaela und Daniel
Christina, Michaelas Enkelin
Wilhelm und Heidrun Merkelbach, Bauern in Wahlscheid
Werner, ihr Sohn
Joachim Schiermeister, Baulöwe in Wahlscheid
Elisabeth, seine Frau
Richard, Joachims Vater
Karin genannt „Kiki“, Joachims Enkelin
Rolf Pratt, Kommissar in Siegburg
Bettina Engels, Pratts Gehilfin und Nichte
Stammbaum im Anhang
Die Historie:
1918 und 1919 – Beginn einer Freundschaft in der Eifel am
Ende des Ersten Weltkriegs
1935 bis 1945 – Vorkriegs- und Kriegsjahre in Köln und Wahlscheid
1955, 1975, 2003 – Ereignisse in Wahlscheid
All things are connected
Entschuldigung:
Bei allen, die sich auf die Schochen getreten fühlen, möchte ich mich auf´s Herzlichste entschuldigen. Ähnlichkeiten mit lebenden oder dahingeschiedenen Personen sind rein zufällig und ohne böswillige Absicht gewollt. Die halbwahren historischen Bezüge habe ich so hingebogen, dass sie auf die hier erzählte Geschichte passen.
– Der Autor in Wahlscheid im Januar 2020 –
Die Sprache:
Bei einer Mundart handelt es sich nicht um eine Sprache im Sinne einer einem Land, einem Staat oder Nation zuzuordnenden Landes- bzw. Verkehrssprache, sondern um ein Lebensgefühl.
In Wahlscheid wird selbstverständlich „platt“ gesprochen. Irgendwas zwischen „Kölsch“ und Rheinisch-Bergisch. Mindestens, wenn die wesentlichen Dinge des Lebens besprochen werden. Die Dialoge wurden mit wenigen Ausnahmen in so genanntem Hochdeutsch geschrieben. Der geneigte ortsansässige Leser mag sich den Wahlscheider Zungenschlag vorstellen, die Immies werden den eh nie begreifen.
Schüereball / Schüreball
Die Schreibweise
En Schüer ist eine Scheune. Die Schreibweise Schür träfe nicht ganz den Zungenschlag der Gegend. Es mogelt sich ein fast unhörbares „e“ zwischen das diakritische „ü“ und den Konsonanten „r“. Die korrekte Schreibweise ist also „Schüer“ und die damit verbundene Orgie also ein „Schüereball“.
Für
Jean „Schang“ Jülich
Ein Gerechter unter den Völkern
und
Günther Schwarz (16 Jahre alt)
Johann Müller (16)
Bartholomäus „Barthel“ Schink (16)
Gustav Bermel (17)
Franz Rheinberger (17)
Adolf Schütz (18)
Hans Steinbrück (23)
Roland Lorent (24)
Peter Hüppeler (31)
Heinrich Kratina (38)
Josef Moll (41)
Wilhelm Kratz (42)
Johann Krausen (57)
Inhalt
Frank
Eifel, April 1918 Wilhelm
Wahlscheid 2001 Werner
Wahlscheid, Juli 1935 Heidrun
Wahlscheid, August 1938 Joachim
New York, Mai 2003 Christina
Köln, Anfang November 1938 Anat
Wahlscheid, Juni 1955 Joachim
Köln, November 1938 Anat
Wahlscheid, Mai 2003 Christina
Köln, November 1938 Anat
Wahlscheid, Mai 2003 Werner
Wahlscheid, November 1938 Wilhelm
Wahlscheid, Mai 2003 Frank
Wahlscheid, August 1939 Richard
Köln, 1943 Anat
Siegburg, Mai 2003 Frank
Köln, Frühjahr 1943 Michaela
Wahlscheid, Sommer 1975 Richard
Köln, April 1943 Michaela
Wahlscheid, Mai 2003 Frank
Wahlscheid, April 1943 Michaela
Wahlscheid, Mai 2003 Frank
Wahlscheid, Mai 1943 Elisabeth
Wahlscheid, Mai 2003 Kiki
Wahlscheid, September 1955 Elisabeth
Wahlscheid, Mai 1943 Heidrun
Wahlscheid, Mai 2003 Ingrid
Wahlscheid, Mai 1943 Wilhelm
Wahlscheid, Mai 2003 Frank
Wahlscheid, Mai 1943 Heidrun
Wahlscheid, Mai 2003 Joachim
Wahlscheid, Mai 1943 Werner
Wahlscheid, Mai 2003 Joachim
Wahlscheid, Mai 1943 Wilhelm
Wahlscheid, Mai 2003 Christina
Wahlscheid, Mai 2003 Frank
Wahlscheid, Juni 1943 Werner
Wahlscheid, Mai 2003 Frank
Wahlscheid, Mai 2003 Pratt
Wahlscheid, Mai 2003 Kiki
Wahlscheid, Mai 2003 Ingrid
Wahlscheid, Mai 2003 Werner
Wahlscheid, Mai 2003 Bettina
Wahlscheid, Ende Mai 2003 Schüereball
Wahlscheid, Herbst 2003 Epilog
Erläuterungen
Frank
Irgendwie hatte er ja gewusst, dass es eines Tages passieren würde. Nur – dass es hier, quasi in seinen eigenen vier Wänden sein würde – das hat ihn dann doch erstaunt. Als er den plötzlichen Druck auf seiner Brust spürt und ihm bewusst wird, was gleich mit ihm geschehen würde, als sich das dumpfe Klatschen in seine Wahrnehmung drängt und ihm schlagartig klar wird, dass er nur noch Sekunden hat, um seine letzten Gedanken zu sortieren, verlangsamt sich seine Umgebung zu einer zähen Zeitlupenstudie. Das Gefieder des possierlichen Vogels im Gebüsch gegenüber sträubt sich, die winzigen Äugelchen blicken zornig auf die Stelle, wo die Kugel durch den Kirschlorbeer geschossen kam, die Flügel schlagen zwei-dreimal, bevor sich das kleine Federbällchen erschreckt davon macht. Die Katze auf dem Stuhl neben ihm hebt interessiert den Kopf, die Ohrdreiecke wie kleine Lauschsegel auf den Kurs des Vogels gerichtet, der spontan vorbereitete Adrenalinstoß aber vom Rechenzentrum im Hirn zurückgepfiffen, als dem Tier die Fluchtgeschwindigkeit des Vogels klar wird. Wie oft hatte er sich schon vorgenommen, sich mal mit den einheimischen Vogelarten zu beschäftigen. Nun weiß er noch nicht einmal, welchem Federvieh sein letzter Blick gilt. Die Katze dreht ebenso quälend langsam wie gelangweilt den Kopf zu ihm um, reagiert mit einem kurzen Zucken der Ohren, als der Knall der Waffe ins Zentrum ihres Bewusstseins rückt. Er selbst sinniert noch darüber nach, ob eine Gewehrkugel schneller oder langsamer als der Schall ist, als er feststellt, dass sich ein roter Fleck auf seinem Feinripp ausbreitet.
„Was war das? Hast du den Knall gehört?“ Ingrid, seine Mitbewohnerin, bezeichnet ihre Beziehung immer noch als Wohngemeinschaft, obwohl sie seit mehr als fünf Jahren nicht nur Tisch, sondern auch Bett teilen. So etwas passiert eben, wenn zwei verzweifelt an der Jugend und der individuellen Freiheit hängen. Da neben der regelmäßigen chemischen eine dauernde gesetzliche Verbindung keine nennenswerten Vorteile brachte und diverse Scheidungen und Trennungen im Bekanntenkreis nichts als Stress verursacht hatten, hat man es eben dabei belassen. Ihre Stimme klingt wie aus einer tiefen Höhle, wie durch den Wolf gedreht. Er will ihr antworten, aber er muss feststellen, dass sein Sprachzentrum gelähmt ist, sein Hirn offensichtlich schon auf Notbetrieb umgestellt hat und nur noch für die wichtigsten Steuermechanismen da ist.
„Du wolltest den Rasen mähen – hast du versprochen.“ Ja – zum Teufel, wie kommst du bloß drauf, dass mich das jetzt im Moment interessiert. Komm gefälligst her und hilf mir! Sind nie da, wenn man sie wirklich braucht. Vielleicht hätte er doch seine Finger aus der Sache heraushalten sollen. Wie konnte er nur annehmen, dass dieser geldgeile Clan das einfach so auf sich beruhen lassen würde. Zu tief hatte er im Dreck gegraben, aber Ungerechtigkeit konnte er eben nicht so einfach hinnehmen, abgesehen davon, dass er sich davon auch eine recht ordentliche Belohnung versprochen hatte.
Der Rest ist noch ein Flackern der Augen, entsetzte Schreie, Gezerre an seinem Hemd, hektische Betriebsamkeiten und letztlich der Sturz ins Bodenlose, Dunkelheit und Ruhe.
Eifel, April 1918
Wilhelm
Mit Juden hatte er eigentlich noch nie Kontakt gehabt. Und jetzt hatte ihm der Leutnant diesen Kölner Schöngeist an die Seite gestellt und sie zusammen auf diesen vorgeschobenen Posten befohlen. Seit Tagen lagen sie nun schon unter Sperrfeuer aus dem Wäldchen gegenüber und die Lage im Matsch des Schützengrabens wurde allmählich brenzlig. Anat, der junge Mann neben ihm, war kaum ein Jahr älter als er, Wilhelm Merkelbach, Bauernsohn aus einem Nest im Bergischen, das für den Kölner „knapp vor dem Ural“ lag, wie alles, was auf der Schäl Sick, der östlichen Rheinseite, liegt. Aber immerhin hatte Anat Liesenthal Mut bewiesen, als vor ein paar Tagen eine Kontaktaufnahme zu ihrem Befehlsstand in dem kleinen Eifeldörfchen hinter ihnen angesagt schien und irgendwer über die freie Pläne laufen und Meldung machen musste. Seitdem hatte sich doch etwas mehr Respekt vor dem Menschen mit dem verdächtigen Glauben eingestellt. Der schlanke, hochgewachsene Bursche hatte Tabak mitgebracht und dem Küchenbullen ein schönes großes Stück Pökelfleisch geklaut. „Schweinefleisch? Du? – Ich dachte immer .…“ – „Glaubst du, Gott wäre glücklicher, wenn ich hier verhungere?“ Sprach´s, machte sich über den Batzen her und teilte den Kanten in gleiche Stücke auf.
Anat war Spross einer kölnischen Goldschmied-Dynastie, die schon seit vier Generationen in der Domstadt Werkstatt und Geschäft betrieb. Sie war sogar mit der Bankiersfamilie Oppenheim verwandt, die als einer der ersten jüdischen Familien Anfang des 19. Jahrhunderts wieder in Köln siedeln durfte, nachdem die liberalen Einflüsse der Französischen Revolution im Rheinland spürbar wurden. Ständig nervte er Wilhelm mit klugen Sprüchen und Gedichten, die zu lernen sein preußisch korrekter Lehrer in der einzügigen Dorfschule nicht für wichtig gehalten hatte. Was hätte es auch genutzt, wenn er bei der Kartoffelernte im Aggerbusch mit krummem Buckel über Theodor Storms „Schimmelreiter“ philosophieren oder Passagen aus Victor Hugos Spätwerk hätte zitieren können.
Aber er hörte aufmerksam zu und langsam erschlossen sich ihm die Feinheiten seiner eigenen Sprache und er fasste den festen Vorsatz, sich nach dem vermaledeiten Krieg ein oder zwei Bücher zu kaufen und es selbst mal mit Lesen zu versuchen, wenn er des Abends in seiner kleinen Dachkammer im elterlichen Hof mit wehem Kreuz und hungrigem Bauch auf den Strohmatratzen lag. Vielleicht konnte er auch den Pastor um ein Buch angehen – aber er war sich nicht sicher, ob ihn dieser nicht mit spöttischem Gelächter davonjagen würde.
„Der Krieg ist sowieso bald vorbei“, hatte Anat erzählt, als sie kauend im Dreck hockten. „Die Offensive an der Marne ist ins Stocken geraten und unsere Leute kriegen tüchtig Haue. Einer der Melder hat es mir erzählt. Dann macht´s bumm! Und aus ist´s mit Kaiser und Vaterland.“ Wie so oft hatte er dem 19-jährigen Kameraden geglaubt und in dieser Nacht lange über die Konsequenzen nachgedacht. Unvorstellbar, ein Leben ohne die strenge Ordnung und Hierarchie, dem Postmeister, dem Dorfpolizisten – wie sollte das funktionieren? Aber sein Weltbild war eh schon ins Wanken geraten, als er in seiner deutschen Wehrmacht auf Juden traf, die wie selbstverständlich neben ihm Dienst taten und keinen Hehl aus ihrer Treue zu Heimat und Kaiserreich machten. Zuhause im Dorf wurden sie als „Saujüdden“ und „Vaterlandsverräter“ beschimpft, und wie er vom Hörensagen wusste, gab es nur ein paar jüdische Familien an der Sieg und in Siegburg, einer Stadt, die für ihn so unendlich weit weg war, dass er sich kaum erinnern konnte, jemals dort gewesen zu sein. Geschweige denn in Köln, jener Stadt, von der ihm sein weltgewandter Kamerad so viel erzählte. Anat war mit seinen Eltern sogar einmal nach Hamburg gefahren. Sie hatten den Bruder seines Vaters zum Schiff begleitet, das ihn nach New York bringen würde, um dort eine – wie nannte Anat es noch – Dependance ihres Kölner Geschäfts zu eröffnen.
Wenn Anat gewusst hätte, welch ein Segen diese verwandtschaftliche Beziehung einmal für seine Familie sein sollte.
Es lagen noch vier scheußliche Wochen vor ihnen, bis der Krieg für sie endlich vorbei war, sie in Gefangenschaft gerieten und einige Monate später, im Frühjahr 1919 gemeinsam nach Hause zurückkehren konnten und jeder für sich wieder in seine Welt eintauchte, die sich grundlegend geändert hatte. Einen Kaiser gab es nicht mehr, ein Sozialdemokrat hatte die Republik ausgerufen und während sie in französischer Gefangenschaft festsaßen, hatten Wahlen zur Nationalversammlung stattgefunden. So unterschiedlich die beiden waren, ihre Freundschaft sollte über den Tod hinaus Bestand haben.
Erst viele Jahre später sollte Wilhelm bewusst werden, dass viele Männer weniger Glück hatten als die beiden. Sie kamen schwer traumatisiert, verstümmelt oder verwundet nach Hause. Oder überhaupt nicht mehr. Eine arrogante, inzüchtige Monarchie mit einem Kaiser, dessen Dummheit nur noch von seiner Selbstüberschätzung übertroffen wurde, hatte diesen Krieg angezettelt und ein Volk in ein Unglück gestürzt, das noch drei Jahrzehnte andauern sollte, bis ein Selbstreinigungsprozess in Gang kam, der wenigstens für Europa die Chance für eine Befriedung der Nationen bot.
Wahlscheid 2001
Werner
Werner Merkelbach hatte nie geheiratet. Gelegenheiten hatte es genug gegeben, aber eigentlich war er zufrieden mit seiner Rolle als Bauer auf dem Hof, den er gemeinsam mit seinen Eltern bewirtschaftete. Mitte der Sechziger starb sein Vater Wilhelm bei einem Unfall mit dem Traktor, seine Mutter hatte sich von dem Schock nie erholt und starb zwei Jahre später. Werner wurde bewusst, dass auch er nicht ewig als einsamer Bauer würde überleben können. Er verpachtete einige der Äcker und Wiesen, die zum Hof gehörten, und gestaltete einen Teil des am Flüsschen Agger gelegenen Weidelandes in einen Campingplatz um. Das erwies sich als Goldgrube, denn viele kleinere Angestellte und Arbeiter aus dem nahen Köln sehnten sich nach einem ruhigen Wochenende auf dem Land und so waren die 80 Stellplätze bald vermietet. Die winzige Kneipe, die er in einem Teil des Hofs ausbaute, war bald Anlaufpunkt für die „Etagenwanzen“, wie die Camper von den Einheimischen genannt wurden.
Nach und nach baute Werner den alten Stall und die beiden Scheunen in Wohnungen um und so entstand rund um das alte Wohngebäude ein kleiner, heimeliger Wohnpark. Das bescherte ihm keine Reichtümer, aber er konnte gut davon leben, ohne sich sonderlich anstrengen zu müssen.
Es war 1975, sein fünfzigster Geburtstag. Werner hatte ein Menü für das gute Dutzend Freunde zusammengetüftelt, die sich mehr oder minder regelmäßig zum Schwafeln, Kochen, Essen und der Dezimierung des einen oder anderen Weinkellers zusammenfanden. Als Hauptgang sollte es „Penis Aggertalensis” geben, wie er das butterzarte Fleischgericht nannte. Dazu schnitt er ein Rinderfilet der Länge nach auf, sodass ein rechteckiges, einen Zentimeter dickes Stück Fleisch vor ihm auf der Tischplatte lag. Dieses wurde kräftig gepfeffert und gesalzen und mit körnigem Dijonsenf eingeschmiert. Darauf kam eine dünne Lage Sauerkraut und Kirschen, deren Saft zuvor mit Madeira eingedickt wurde. Diese Lage rollte er wie eine dicke Roulade auf, verschnürte das Päckchen mit Küchengarn und briet es in einer großen Pfanne von allen Seiten kräftig an. In Alufolie eingepackt würde es vier bis fünf Stunden bei 80 Grad im Backofen brauchen, bis die Temperatur im Innern des Fleischs exakt 55 Grad betrug.
Dazu gab es kurz angedünsteten Blumenkohl mit Sahne und herzhaftem Bergkäse gratiniert. Für die Soße aus Pfifferlingen wurden Zwiebeln mit den Pilzen angeschwitzt und mit einer Mischung aus schwarzem Pfeffer, etwas Muskatnussblüten, Piment und Curry bestreut und mit Brühe abgelöscht. Mit reichlich Sahne musste das dann gründlich einkochen, bis die Soße kurz vor dem Servieren mit kalter Butter montiert, mit Worcester-Sauce abgeschmeckt und mit frischer Petersilie bestreut wurde. Dazu gab es natürlich reichlich Rotwein und nach der x-ten Flasche 68er Chateau Monbousquet kam das Gespräch mal wieder auf die Rente und auf die Zeit nach den eigenen Zähnen. Ob man dann wohl so gemütlich im Altersheim zusammenhocken und alte Rock&Roll-Nummern in beliebiger Lautstärke würde anhören können? Autark wolle man bleiben, am besten mit eigener Krankenschwester, wohl gefülltem Weinkeller und selbstbestimmten Essensplänen.
Jedenfalls pflanzte sich an jenem denkwürdigen Tag diese Idee in Werners Kopf und im Laufe der Zeit hatten diese Vorstellungen vom Rentnerdasein in seine Umbaupläne Einzug gehalten. Heute, zwei Jahrzehnte später wohnten in den 20 kleinen Wohnungen 15 Ruheständler paarweise oder einzeln mit acht jungen Menschen zusammen. Letztere wohnten umsonst, solange sie in der Ausbildung waren oder studierten. Ihre Miete sollten sie später an die Kasse der Alters-Wohngemeinschaft zahlen, sobald sie eigenes Geld verdienten. In dem langsam aber stetig gewachsenen Gebäudekomplex war ein Gemeinschaftsraum integriert, der sich mit der angeschlossenen Küche zu einem gut besuchten öffentlichen Restaurant entwickelt hatte, das die Bewohner liebevoll „Carpe Diem“ getauft hatten.
Wenn auch manch einer die Vorgänge in Werners Umfeld mit einigem Misstrauen begegnete, so war er doch ein respektables Mitglied der dörflichen Gemeinschaft. Aus der Politik hielt er sich konsequent heraus und außer der Freiwilligen Feuerwehr gehörte er keinem Verein an. Sein Umgang mit den Menschen war von gegenseitigem Respekt geprägt und denen, die er nicht mochte, begegnete er mit gleichgültiger Belustigung, bisweilen auch mit zynischem Humor.
Ständigen Stress hatte er nur mit der Stadtverwaltung. Er wartete Ewigkeiten auf eine Baugenehmigung, Vorschriften wurden akribisch kontrolliert, seine Restaurantküche lag unter ständiger Beobachtung des Ordnungsamtes und verdächtig häufig wurden in der WG wohnende ausländische Studenten von den Behörden auf ihr Bleiberecht kontrolliert. Seit Jahren versuchte man ihm nachzuweisen, dass sein Campingplatz für die in der Agger gefundenen Giftstoffe verantwortlich sei. Ein Gegengutachten, von ihm selbst in Auftrag gegeben, stellte allerdings eindeutig fest, dass die gleichen Werte auch flussaufwärts gemessen werden konnten, sein Campingplatz also kaum die Ursache für die erhöhten Werte sein konnte. Indes wurde sein Gutachten von der Verwaltung bisher ignoriert.
Einen richtigen Hebel, ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen, hatte bisher niemand ansetzen können. Werner hatte sich mit Anwälten beraten und achtete sehr genau auf die Einhaltung von Verordnungen und Vorschriften.
Schon in den 60er Jahren waren viele Hektar Wiese und Acker entlang der Agger von den Pächtern und Bauern aufgegeben worden, weil die Erträge deutlich zurückgingen. Sie verkauften das Land nach und nach für kleines Geld an die Clique der örtlichen Baulöwen, allen voran die Schiermeisters, deren Familienoberhaupt sich nach dem Krieg trotz oder vielleicht gerade wegen seiner Nazi-Vergangenheit vom Kleinbauern zum größten und reichsten Gierschlund entwickelt hatte. Zuerst der alte Richard und nach dessen Tod sein anmaßender Sprössling Joachim, mit dem sich Werner, seit sie gemeinsam die harten Bänke der Wahlscheider Volksschule gedrückt hatten, in stetem Zoff befand. Unter dem Deckmantel des wirtschaftlichen Aufschwungs und der Menschenfreundlichkeit versuchte er mit hinterfotziger Lobbyarbeit im Stadtrat Mehrheiten dafür zu finden, das Gelände an der Agger im Nutzungsplan als Bauland auszuweisen. Seit Jahren schon trieb der „Clan der Sizilianer“, wie Werner sie nannte, ein Projekt voran, die gesamten Flächen am Fluss in einen Vergnügungspark mit Hotels und umfangreichen Freizeitanlagen umzubauen. Bisher fehlten dazu die letzten Mehrheiten im Rat und das Filetstück des Areals mit Werners Campingplatz und Wohnanlage.
Nachdem er mit dem Wasserbauingenieur einer Lohmarer Fachfirma das Gegengutachten besprochen hatte, stand für ihn allerdings fest, dass hinter den Vorgängen rund um die Grundstückverkäufe mehr steckte, als ihn zur Aufgabe seines Campingplatzes zu bewegen. Eine Mehrheit für den Bau der geplanten Hotelklötze lag aber mit der derzeitigen Sitzverteilung im Stadtrat in weiter Ferne. So blieb Werner gelassen, aber wachsam.
Dem Erfolg seiner Kneipe, dem „Carpe Diem“ indes tat dies keinen Abbruch. Zuweilen verirrten sich auch Mitglieder des „Clans“ oder Volksvertreter in das Restaurant. Sie gaben sich volksnah und jovial, aber wenn sie zu anmaßend wurden, bekamen Sie den Spott der anderen Gäste und des Personals zu spüren.