Die Stunde der Wölfe

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Die Stunde der Wölfe
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Klaus Rülke

&

Marion B. Lange

Die Stunde der Wölfe

Ein Kriminalroman der 1990er


Autoren

Klaus Rülke, Jg. 48, studierte von 1966 bis 1971 Geschichte und Germanistik an der Universität Greifswald, arbeitete anschließend als Journalist und ab 1981 im Bereich Öffentlichkeitsarbeit der Akademie der Künste, nach der deutschen Wiedervereinigung wechselte er 1991 in die private Wirtschaft, lebt in Berlin und ist seit 2012 im Ruhestand.

Marion B. Lange, Jg. 56, studierte in der zweiten Hälfte der 70er Jahre Literaturwissenschaft am „Johannes R. Becher“-Institut der Karl-Marx-Universität Leipzig, arbeitete anschließend als Fachreferentin beim Leipziger Bezirkskabinett für Kultur. 1983 lernte sie Klaus Rülke kennen, übersiedelte nach Berlin, ist seit 1991 in der privaten Wirtschaft tätig – zuständig für Marketing und PR.

Copyright © 2020

Berlin Crime Edition

Alle Rechte vorbehalten.

Der Inhalt darf – auch auszugsweise – nur mit Genehmigung

der Autoren veröffentlicht werden.

Umschlaggestaltung: Marion B. Lange

Typografie: Klaus Rülke

Printed in Germany

Buch

Berlin im Frühjahr 1991: Die Unterschriften unter dem Einigungsvertrag sind kaum trocken, wird an allen Ecken und Enden fieberhaft geflickt, was auf ewig zerrissen schien.

Astrid Jensen, Hamburger Kriminalistin, die in den frühen Achtzigern an der Freien Universität im Berliner Westen ihr Jura-Studium abschloss, will beim Neuanfang hautnah dabei sein. Voller Elan, und weil ihr die Stadt ans Herz gewachsen ist, bewirbt sie sich zum Dienst im geeinten Berlin.

Als Leiterin einer Mordkommission im ehemaligen Volkspolizei-Präsidium am Alex eingesetzt, übernehmen sie und ihr neues Team im Kaltstart die Untersuchung eines Doppelmords, der eine Wochenend-Idylle sonnenhungriger Städter am Rande Berlins in helle Aufregung versetzt.

Die Aufklärung der brutalen Taten, deren Motiv im Dunstkreis des seit dem Mauerfall florierenden Straßenstrichs inmitten der City Ost verborgen scheint, erweist sich zunehmend als bizarre Jagd auf intimes Wissen der Stasi über einflussreiche bundesdeutsche Persönlichkeiten aus Politik und Wirtschaft.

Danke allen, die uns halfen, aus einer launischen Idee heraus dieses Buch zu schreiben, die uns langmütig zur Seite standen und stets ermutigten, das Ziel nicht aus den Augen zu verlieren.

Dank auch an ‚Wikipedia‘ für das einfache Nachschlagen, wenn uns wirklich ein konkretes Datum mit seinen Geschehnissen entfallen war.

Akteure der Zeitgeschichte ausgenommen, sind alle Namen der Personen dieser fiktiven Geschichte frei erfunden. Für etwaige zufällige Ähnlichkeiten bitten wir um Nachsicht.

K.R. & M.B.L.

Prolog

Schluss mit lustig! Liane sucht verzweifelt mit den Augen ihr Auto und findet es nicht. Erschrocken erinnert sie sich, dass sie gestern wegen ihrer dämlichen Trödelei woanders parken musste, weil ihr angestammter Platz am Monbijou-Park längst besetzt gewesen war.

Im Gehen befühlt sie die Beute in ihrer Gürteltasche. Mickrig für Freitag, denkt sie verdrossen.

Es ist sehr spät, oder sehr früh, je nachdem, wie man es betrachtete. Von Osten her steigt Dämmerlicht über die Hausdächer um die Hackeschen Höfe.

Die Absätze ihrer Stiefel klacken hart auf den unebenen Gehwegplatten. Glassplitter zerschlagener Flaschen knirschen zuweilen unter den Sohlen und frische Kastanienblättchen rascheln im kühlen Luftzug, der den Tagesanbruch begleitet.

Seltsame Geräusche, denkt sie. Voll künstlich, wie aus einer billigen, alten Heule. Angst kriecht an ihr hoch. Musst deine Karre immer im Blick haben, hatten Nicole und Zlatko ihr eingeschärft. Damit du jederzeit die Flocke machen kannst, falls dir jemand an die Gurgel will. Sie hält sich an den Rat.

Viel zu weit weg heute, haucht ihr ein flüchtiger Gedanke zu, wenn du sie gebraucht hättest. Bisher war gottlob nichts passiert. Kein Irrer, kein Besoffener hatte sie beschimpft, bedroht, geschlagen.

Bis jetzt... Alle Freier, ob schüchtern, frustriert oder egoman, verhielten sich durch die Bank verklemmt, argwöhnten, beobachtet zu werden oder Bekannten über den Weg zu laufen.

Sie ist kaputt, fühlt sich durch die Mangel gedreht. Vermutlich bedrängt sie deshalb wieder die dämliche Sorge, wie lange das so weitergehen soll? Mit der Muschi Geld zu verdienen, ist für sie nicht neu. Aber das Anpreisen, der Futterneid, die Quickies im Auto sind es schon. Und alles nur, weil sie als PP, sprich „Persönliches Präsent“, zur deutschen Einheit ihren Job losgeworden war. Gründe dünn, geheuchelt. Die wahre Ursache erahnte sie nur. Sie hatte wahrlich Besseres verdient.

Liane fühlt sich zum Kotzen, wenn Sinnfragen über sie herfallen. Solange der Schotter stimmt, ist doch egal, woher er kommt! Die Brave ist letzten Endes immer nur die Dumme.

Sie öffnet den Kofferraum, schnappt sich die Ballerinas, schlüpft hinein, atmet wohlig auf. Endlich Erholung fürs lädierte Fahrgestell! Achtlos wirft sie die Stiefel zum Einkaufskorb, schreckt hoch.

Ist da was? Du stehst genau im Lichtkegel der Laterne neben dir!

Sie rennt fast ums Auto, steigt ein, hält nochmals inne. Sie ist allein. Die Straße liegt verlassen. Niemand fällt ihr auf. Weiter oben kreuzt ein Paar die Fahrbahn, verliebt, mit sich beschäftigt. Trotzdem triezt sie das üble Gefühl, als säße ihr jemand im Nacken.

Du spinnst echt, ruft sie sich zur Ordnung.

Wer soll dir hier um diese Zeit an den Hacken kleben, wenn außer Nicole doch niemand weiß, wo du bist? Sie fährt Richtung S-Bahnhof, weiter zum Alex. Es ist kurz vor Vier. Die Angst weicht ihr nicht von der Pelle. Je näher du sie an dich ranlässt, umso zudringlicher wird sie!

Als Ablenkung spult sie im Stillen die öden, zurückliegenden Stunden ab, denkt an den Jüngling, der sie schüchtern fragte, ob er mal probieren dürfe, wie er es mit der Freundin richtig anstellt.

Kurz vor Mitternacht kam der Onkel vom Lande, der sie eindeutig mit seiner Psychotherapeutin verwechselte. Und als wäre das alles nicht schon ätzend genug gewesen: Ritas Auftritt.

Zorn wallt in ihr hoch, wenn sie nur daran denkt. Dumme Kuh. Bildete sich ein, jetzt was Besseres zu sein, weil sie seit Kurzem ‚in Westberlin‘ wohnte. Mehr Schein als Sein… Nichts Neues.

Nach dem Landmann hatte sie sich eine Pause gegönnt, ging ins ‚Manon’ nahe der Synagoge, um einen Espresso zu schlürfen. Just in dem Augenblick marschierte Rita herein: Blasiert, Fresse verzogen, sah keinen, grüßte nicht und ihr Sonnyboy durfte ihr artig den Stuhl unter den Hintern schieben.

Liane erinnert sich an das dürre Mädchen, das Rita früher mal war und wie ungelenk sie sich angestellt hatte, wenn es zur Sache ging. Jetzt angeblich Edelhure, geprägte Visitenkarte und Topkunden… Welche Karriere!

Nur kein Neid… Sie feixt still. Wir werden ja sehen, wer zuletzt lacht…

Nach ausgiebig Langeweile strandete der Kraftprotz vom Wedding bei ihr, der am laufenden Band narzisstisch in den Rückspiegel glotzte, kehlige Laute röhrte und behauptete, er sei Kickboxer. Spaßvogel! Diese kleinen Wichser, die sich so tierisch ernst nehmen, sollten lieber joggen oder ins Fitnessstudio gehen, statt zu ihr zu kommen.

Als sie schon an Abgang dachte, tauchte die Hungerlatte auf. Wessi. Schien erfahren am Strich. Die Lichter seines Autos tasteten sich durch den Dunst. Er stand auf einmal neben ihr, öffnete die Beifahrertür, deutete wortlos auf den Sitz. Sein Gesicht blieb im Dunkel. Auch später konnte sie es nicht richtig sehen, oder erinnerte sich einfach nicht.

Korrekter Typ, löhnte ohne zu feilschen. Trotzdem hatte sie einen Heidenbammel gehabt wegen seines Schweigens und den eisigen Pfoten, mit denen er ihr die Scheinchen reichte. Fast wie Gevatter Tod…

Sie schaudert. Da sind ihr die hemdsärmeligen Typen, dauernd knapp bei Kasse, hundertmal lieber.

Sehe aus wie ausgespuckt. Liane mustert die Falten um ihre Mundwinkel, die sich kaum noch wegschminken lassen. Mit siebenundzwanzig!

Scheinwerfer blenden sie im Spiegel, zeichnen sich glasklar ab. Sind die schon die ganze Zeit hinter ihr? Sie drückt aufs Gas, ohne Erfolg. Sie überholt den Bully. Es ändert nichts.

Ein Verkehrsrowdy, der seine neue Westkarre ohne Blitzerrisiko testen will?

Mir ist um diese Zeit nicht nach Formel eins, knurrt sie, trommelt mit den Fingern aufs Lenkrad. Als sie hinter der Elsenbrücke links abbiegt, hinter dem Treptower Park Richtung Schöneweide fährt, sind die Scheinwerfer weg.

Da hast du es. Ein Spinner, mehr nicht…

Doch als sie Adlershof hinter sich gelassen hat, sind sie wieder da. Sie sieht den Dürren vor sich. Kam der nicht im BMW? Jedenfalls in einer Chaise mit Leuchten, die denen hinter ihr wie einem Ei dem anderen glichen. Südländischer Typ wie Zlatko…

Liane starrt in den Spiegel, als könne sie herausfinden, ob der Angeber tatsächlich hinter ihr her ist.

Merkwürdig, denkt sie, dass ihr der abstoßende Vogel nicht aus dem Kopf geht.

Sie erinnert sich daran, wie er sie vorhin musterte als schätzte er ihren Wert. Dann hielt er ihr die Scheine hin, murmelte etwas, das sich nach Danke anhörte, und verschwand, ohne was ihr von verlangt zu haben.

 

Es passierte ab und an, dass Kunden kamen, die sich nur die Seele leer quatschen wollten oder gern die eigene Stimme hörten. Ganz selten gab es welche, die nur schwiegen, guckten und wieder gingen.

Dieser Fiesling allerdings hatte nicht so ausgesehen, als hätte er nur was verschenken wollen.

Liane fährt durch Grünau.

In Gedanken bei ihrem sonderbaren Verehrer, merkt sie erst in Schmöckwitz, dass hinter ihr alles leer ist.

Glück gehabt!

Weshalb sie erleichtert ist, weiß sie nicht genau. Total ausgeflippt! Willst du echt vor jedem Idioten ausreißen, der nachts hinter dir herfährt, was soll das werden? Wohler ist ihr allemal ohne gleißende Lichter im Nacken. Sie zwingt sich, ruhig zu atmen, nestelt eine Zigarette aus der Packung und wartet, dass der Anzünder klickt.

Sie fährt aufs Grundstück, freut sich diebisch, endlich allein zu sein. Duschen, Essen, vor allem Schlafen. Drei Nächte am Stück um die Ohren gehauen, das reicht, denkt sie.

Fernab vom Stress wird sie übers Wochenende abwarten, ob alles tatsächlich so reibungslos läuft, wie Nicole begeistert prahlt. Frank kommt sowieso nicht vor Dienstag von seiner Spanien-Tour zurück…

Schlafen! Versteckt in ihrer Sommerhütte, wie zu Kinderzeiten im Baumhaus bei Oma auf dem Land, fühlt sie sich sicher, das war schon so, lange bevor Frank die Bildfläche betrat und sie noch schlicht Stein hieß.

Ihr Paradies, nur einen Katzensprung vom Ufer des Krossinsees entfernt, war ein echtes Schnäppchen gewesen. Mark für Mark hatte sie eisern gespart, weil sie von einem Ruhepol träumte, um dem nie endenden, tosenden Krawall der Stadt zu entfliehen. Als die Kröten reichten, hatte sie Uwe, ihrem Boss und Liebhaber, mit dem Wissen um viele seiner kleinen Mauscheleien, keine andere Wahl gelassen, als den Kauf für sie einzufädeln. Mochten sich die Nachbarn noch so sehr das Maul zerreißen, es kratzte sie nicht. Sie hatte redlich und in bar bezahlt, basta.

Die Vorbesitzer, Anfang der Achtziger ausgereist, wie sie gerüchteweise von Berger gehört hatte, interessierten sie einen feuchten Kehricht. Für sie zählte nur das Fleckchen, das sie für sich hatte. Sie war gewappnet für den Zoff, der jetzt allerorts losbrach. Konnte aber auch sein, dass ihre Sorgen total umsonst waren.

Als Frank ihr vor gut zwei Jahren über den Weg gelaufen war, schwärmte er abgehoben: So was haben ja manche Bonzen nicht. Er übertrieb maßlos, es gab hübschere Wochenendhäuser. Aber auch das lässt sie kalt. Im Mai ’89, als bereits alles zu bröckeln begann, heirateten sie. Richtig. In wenigen Tagen ist ihr zweiter Hochzeitstag.

Sie sorgt sich um ihr kleines Geheimnis. Ahnt er etwas? Ausgeschlossen! So viel Raffinesse, ihre Notlügen wegen der Kündigung zu durchschauen, traut sie ihm nicht zu. Schließlich beherrscht sie die Rolle der Serviererin im Grand-Hotel.

Geht Nicoles Plan auf, ist Gott sei Dank Schluss mit Anschaffe, freut sie sich. Ein stilles Glück, mehr will sie nicht. Dass Fernfahrerlohn und Stütze ihren Wünschen nicht genügt, ist klar wie Kloßbrühe. Aber selbst, als sie den Ford Sierra, einen Tag zugelassen, im vergangenen Herbst kauften und sie die Anzahlung cash auf den Tisch blätterte, hatte Frank nicht eine kritische Frage gestellt.

Am Camper-Laden auf dem Wernsdorfer Markt, der nicht mehr ist als ein simpler Container mit einigen Klapptischen im Innern, von einem findigen Krämer aus dem Westen kürzlich aufgestellt, werden neue Kartoffeln, Spargel, Erdbeeren und andere leckere Sachen abgeladen.

Bück-Dich-Ware. Nicht lange her!

Ich könnte was mitnehmen, überlegt sie, guckt zur Uhr. Viel zu früh! Sie gibt Gas und biegt in den ausgefahrenen Waldweg ein, der zum See führt. Über der Lichtung, die sie quert, wabert Frühnebel. Ein Käuzchen schreit. Oder ein Uhu? Woher soll sie das wissen. Allemal ein Vogel, der erregt ist, weil jemand in seinem Revier… Sie kurbelt die Scheibe runter. Scheiß Panik! Schweiß, Pulsrasen, Nervenflattern…

Das Hinterrad überrollt einen trockenen, armdicken Ast. Ein brachialer Knall zerfetzt die Stille.

Ein Schuss? Sie bremst. Der Wagen steht. Sie legt den Kopf seitlich auf das Lenkrad.

Beruhige dich, verdammt! Du bist völlig im Arsch, alles Gespenster, Trugbilder. Die Angst treibt Adrenalin ins Blut.

Liane hebt den Kopf, guckt hinaus. Der Bodennebel ist wie geschaffen für Horrorfantasien, aber drüben, am östlichen Ufer des Sees, beginnt die Sonne den Himmel über den Wipfeln blutrot anzumalen.

Der Motor brummt gemütlich. Immerhin eine verlässliche Größe. Sie fährt weiter, schaukelt durch Mulden, in denen Regenwasser steht, schlägt einen Bogen um die Gruppe Kiefern, die sich wie ein Kreisverkehr vor ihr aufbaut.

Nur noch hundert Meter, vielleicht ein paar mehr. Sie stoppt, reißt die Tür auf, hastet die paar Schritte bis zum Tor, als wäre der Teufel hinter ihr her.

Rasch öffnet sie, läuft zum Wagen zurück, fährt ihn unter das schützende Dach. Dann drückt sie die Flügel zu. Geschafft. Mit dem Rücken lehnt sie sich gegen den Pfeiler, der Carport und Haus miteinander verbindet. Sie prüft das Grundstück. Alles normal. Nichts ist anders, nichts stört. Und hinter ihr? Naht da jemand aus dem Unterholz?

Sie fährt herum. Im Wald jenseits des Weges rührt sich nichts.

Du bist echt reif für die Klapse!

Langsam stößt sie sich ab, stapft durch den Sand zum Auto. Sie öffnet den Kofferraum, greift den Einkaufskorb und klemmt sich ein paar Handtücher unter den linken Arm. Die Reisetasche mit den Arbeitsklamotten lässt sie zurück. Darfst sie nur nicht vergessen, mahnt sie sich. Spätestens, wenn Frank zurück ist, muss sie versteckt sein.

Sie müht sich zur Haustür. Selbst mit leichtem Gepäck tut sie sich mit den wenigen Schritten schwer um diese Zeit. Die Schlüssel. Wo sind die Schlüssel? Im Auto?

Sie läuft zurück, findet sie auf dem Beifahrersitz. Wieso? Sie kramt in ihrer Erinnerung. Egal, die blöden Schlüssel sind da. Was man nicht im Kopf hat, hat man in den Beinen… Während der unnötigen Schritte zurück zur Haustür kehrt die Angst zurück. Blitzschnell. Liane verharrt, lauscht.

Die Baumkronen wiegen sich gemächlich in der Morgenbrise, ein Traktor tuckert, und einige Grundstücke weiter kläfft Wanda, der Dackel von Remscheids. Wieder ist ihr, als würde sie beobachtet. Es ist dieses Kribbeln im Rücken, das elektrisiert und zugleich die Sinne schärft.

Lianes Blick schweift wie der eines Jägers. Sie dreht sich um, tastet mit den Augen suchend den Weg ab, den sie gekommen ist, schwenkt hinüber, zum anderen Pfad, der am Nachbargrundstück vorbei in den Wald führt. Sie wittert vergeblich. Nichts, absolut nichts Verdächtiges.

Bei Edith kräuselt sich Rauch über der Esse. Sie ist also auch da und allein. Ihr Trabbi parkt neben dem Haus. Der Platz für Lothars alten Lada, von dem er sich partout nicht trennen kann, ist leer. Macht ihr pfiffiger Elektromeister wohl mal wieder das, was er am besten kann: schwarz ackern oder Fremdgehen.

Sie schließt das Haus auf, legt die Handtücher auf den Schrank unterm Spiegel im Flur, verriegelt hinter sich, schleicht in die Kochecke, öffnet den Kühlschrank und schnappt sich die angebrochene Flasche Whisky.

Sie nimmt einen Schluck. Puh! Scharfes Zeug. Ekelhaft, was Männer so saufen…

Sie verzieht das Gesicht. Beunruhigt, obwohl völlig erschöpft, wirft sie sich in ihren Lieblingssessel. Erst mal eine Lulle, ganz in Ruhe. Den Sonnenaufgang genießen. Genießen geht nicht. Die Gardinen! Sie springt auf, zieht sie beiseite, neigt den Kopf. Da ist er. Tiefrot, verhangen, unpersönlich.

Die abgestandene Luft stinkt. Sie öffnet das Fenster. Ediths Klofenster ist auf. Seltsam, wo sie sich doch sonst stets verbarrikadiert, wenn Lothar rumtingelt.

Liane geht zurück, spürt, wie sich die Anspannung verflüchtigt. Der Whisky wirkt. Sie schließt die Augen, der Raum weitet sich, saugt sie auf. Als sie sich einigermaßen beruhigt hat, hasst sie sich für ihre Panik, schaltet das Radio an, um auf andere Gedanken zu kommen.

Jazz ist nicht ihr Ding, sie sucht, findet konzertante Musik, leise und schmeichelnd, sie beginnt, sich auszuziehen.

Duschen? Ohne warmes Wasser? Sie geht ins winzige Bad, um die neue Therme einzuschalten, die ihr Lothar vor ein paar Tagen eingebaut hat, öffnet den Hahn, hält die Hand unter den Strahl. Igitt, nur für Hartgesottene. Eilig zieht sie den Arm zurück, lässt das Wasser laufen.

Das dünne Rauschen sediert, schläfert ein, in ihrem Zustand allemal. In Pullover und Slip, nimmt sie sich ein Glas, greift erneut zum Whiksy im Kühlschrank, gießt, ohne auf den Eichstrich zu achten, genau einen Doppelten ein. Dann setzt sie sich wieder.

Als sie hochschreckt, labert ihr das Radio Nachrichten um die Ohren und die zweite Zigarette ist auf dem Rand des Aschers bis zum Filter verkohlt. Sie weiß nicht, wie lange sie getrieft hat.

Eine Viertelstunde?

Wrasen, ähnlich dem Nebel auf der Lichtung, fällt über sie her, als sie die Bad-Tür öffnet. Sie klappt das kleine Fenster auf. Frische Luft.

Rasch wirft sie Pullover und Slip auf den Sessel. Nackt fröstelt sie plötzlich. Sie steht im Zug zwischen offenen Fenstern, schließt das im Zimmer. Als sie endlich unter die heiße Dusche gehen will, sieht sie die Armbanduhr am Handgelenk, geht zurück, legt die Uhr ab, schnappt sich zwei Handtücher. Der kleine Raum ist jetzt frei von Dunst, sie wirft die Handtücher auf den Hocker aus Kiefernholz, hält prüfend die Hand unters Wasser.

Da weht Wind. Wieso zieht es? Du hast doch eben…

Sie hat das Bein gehoben, als sie glaubt, ein Scharren zu hören. Bevor sie erschreckt, meldet sich Ärger. Wieder ein mutiges Tier mit hereingehuscht?

Dann hört sie das Geräusch deutlich, als schlurfe jemand in Pantoffeln über den Teppich…

„Hallo?“ fragt sie kaum lauter als ein dürftiges, ängstliches Pfeifen im dunklen Wald. Sie hebt die schützend Arme, als wolle sie Schläge abwehren, und hüstelt sich einen Frosch aus dem Hals.

„Hallo, ist da jemand?“

Nichts bewegt sich. Die Panik ist sofort wieder da. Grell, eminent. Sie späht ins Zimmer.

„Du?“ fragt sie wütend wie überrascht, langt nach dem Handtuch, hält es vor den nackten Körper. Der Mann kommt auf sie zu, wortlos.

„Was willst Du? Hau ab! Ihr seid fertig. Geht nicht in Deine Birne, was?“ schreit sie hysterisch.

Der Schatten schnellt vor, packt sie. Sie weiß, dass es ihm ernst ist, will schreien.

„Wo ist es, Du Schlampe“, presst er hervor.

Vergeblich versucht sie, sich zu befreien. Sie rudert mit den Armen, findet keinen Halt. Stattdessen krallen sich ihre Hände in den Duschvorhang, reißen daran. Der Vorhang fällt.

Seine Armbeuge schließt sich unter ihrem Kinn wie eine Schraubzwinge.

„Rück das Zeug raus, verdammt, das Ihr eigenmächtig abgezweigt habt. Tot bist Du so oder so!“

Sie spürt, wie sie den Horizont verliert, in die Waagerechte gerät, sich der Raum Purpur einfärbt.

Es ist ihre letzte Wahrnehmung.

Der folgt sekundenschnell ein leises, raues Knacken, dann ist ihr Körper augenblicklich schlaff. Der Mörder läßt ihn zu Boden gleiten.

Er sieht das geöffnete Fenster gegenüber, erkennt verärgert im fahlen Morgenlicht das blasse Gesicht, das über dem Sims in dessen Mitte schaukelt. Die Frau starrt zu ihm herüber.

Einen Augenblick lang halten beide völlig regungslos inne. Dann dreht sich der Mann hastig weg, taucht ab ins Dunkel im Inneren der Hütte, weiß, dass er nicht umhin kann, zu tun was nötig ist.

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