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Ich wähl die alle nicht mehr!

Wenn man unter Sonntagsschwermut leidet, die gegen 17 Uhr einzusetzen pflegt, hilft es nicht besonders, wenn die deutschen Bundestagswahlen einen Abend voller Politikergeschwätz und ohne „Tatort“ zur Folge haben. Der Sieger des Abends heißt Westerwelle – da helfen nicht einmal mehr die Scherze, die Schröder reißt (weil die SPD zweiter werden konnte, bleibe ich selbstverständlich Kanzler). Im ORF poppt Wilhelm Molterer auf, der aussieht wie Andreas Mölzer mit einer Überdosis Weihwasser und redet, als hätte er eine Überdosis Baldriantee erwischt: „Es kommt darauf an, dass man die Glaubwürdigkeit ganz massiv für sich selbst erarbeitet.“ Finde ich auch. Damit hat der Mann die nächsten Jahre genug zu tun. Und dass ihm keiner hilft! Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott! Mir hilft auch keiner. Schon gar nicht die ÖVP. Als Molterer noch Landwirtschaftsminister war, was hat er unternommen? Hä?!! Habe ich irgendwo die Schlagzeile „Molterer sagt Mehlmotten den Kampf an“ gelesen?

Nein. Mehlmotten-Molterer hat eine schwammige Appeasement-Politik betrieben und dem infamen Insekt auch noch beide Wangen hingehalten. Dass die Sozialdemokraten in letzter Zeit immer nur auf die Heuschrecke hinhacken, ist auch nicht gerade hilfreich. Die Heuschrecken sind, jedenfalls in unseren Breiten, nicht das Problem. Anstatt sich anpasslerisch in alttestamentarischer Rhetorik zu suhlen, hätte man ausnahmsweise klare Worte finden können – und zwar eigentlich schon unter Viktor Klima. Aber sogar Häupl, immerhin ein Biologe, hat stets nur auf die Miniermotte gezeigt, um von der Mehlmotte abzulenken, und nicht einmal dem Menasse ist es aufgefallen. Österreich ist wohl das einzige Land der Welt, in dem es Politikern aller Couleur an Mut und Klarsichtigkeit mangelt, auch nur ein kritisches Wort über die Mehlmotte zu verlieren. Schweigekanzler Schüssel schweigt. Alle andern schweigen aber auch. Und wundern sich dann, dass man sie nicht mehr wählt. Ich jedenfalls wähl die nicht mehr! Alle mitsammen nicht!! Ich werde das alleine durchstehen. Als Patriot, als Familienvater, als Hobbykoch. Vielleicht wird die Mehlmotte am Ende unserer Tage den Sieg davontragen, aber ich, ich werde wenigstens gekämpft haben!

Meine Forderung an die ÖVP

Vergangene Woche habe ich mir Herbstferien genommen. Die sind mir gut bekommen. Ich hatte Zeit für Dinge, die ich sonst ein bisschen vernachlässige. Unter anderem bin ich nach Greifenstein geradelt (Schönwetter) und in mich gegangen (Schlechtwetter). Und wie ich so in mich gehe, merk ich: keiner da! Interessant. Na, denk ich, offenbar bin ich aushäusig. Und richtig: Ich war außer mir! Allem Anschein nach hat mein erhöhter Nachrichtenkonsum das Fass zum Überlaufen gebracht, denn ich hab mich ja auch nicht aus Jux und Tollerei und von einem Tag auf den anderen selbst verlassen. Schuld daran trägt die Österreichische Volkspartei (ÖVP). Nicht dass ich die je gewählt hätte oder je wählen werde. Nein, um mich brauchen sich die nicht zu bemühen. Aber gar so hellraising anghaut müssten s’ auch nicht sein. Ich gehöre ja noch der Generation an, die von der Pockenimpfung (geritzt, nicht gestochen!) mehr oder weniger dezente Narben davongetragen hat, und weiß also, wenn einem das G’impfte aufgeht. Und dieser an sich zeitlich eher knapp bemessene Vorgang spielt mittlerweile sehr unschön ins Durative. Zuerst tritt der ehem. Erste Nationalratspräsident zurück, der für jeden Anlass einen knasterbärtigen Kalenderspruch parat hat („Ein altes Ross lernt keinen neuen Tritt“), und dann will er mit dem Zurücktreten, sprich: angerührtem Herumgezicke, gar nicht mehr aufhören. Das ist unwürdig! Wie’s gemacht wird, weiß man doch: Freudig die Pfade der freiwilligen Selbstverbärung betreten! Busek und Kohlmaier haben’s dem Herrn Khol ja vorgemacht: Man lässt sich ein postparteipolitisches Facialgestrüpp stehen und lernt, nicht bei jeder Gelegenheit frech zurückzureden. (Es gibt so viele schöne Hobbys: Herbstblätter pressen, Peddingrohr flechten, mit der Stricklisl spielen …) Apropos deppert reden. Die Formulierung „Der Ball liegt bei …“ ist ab sofort zu unterlassen, sonst kann ich für nichts mehr garantieren! Auch der Hinweis, „die Bevölkerung“ wünsche dies oder jenes, hat zu unterbleiben. Bevölkerung bin ich selber, und ich weiß, was ich will. Ich will, dass die ÖVP damit aufhört, mir ganz persönlich auf die Eier zu gehen – und zwar so-fort!

Fuck meteorologische Mieselsucht!

Mein Sommer war schön. Sollte der Sommer, wie der Kurier in seiner Ausgabe vom 14. August behauptet, jetzt vorbei sein, wird mein Sommer dennoch schön gewesen sein. Das Fundament, auf denen die fantasielose Schlagzeile „Das war der Sommer“ ruht, muss als äußerst fragil bezeichnet werden. Laut Hoher Warte (Wer kontrolliert die eigentlich? Die Hohe-Warte-Gläubigkeit grenzt hierzulande ja schon an Massenpsychose!!) hat es heuer in Wien erst zwölf Tage mit mindestens dreißig Grad gegeben. 2003 sollen es vierzig gewesen sein – laut Hoher Warte und Kurier. Jeder Meteorologe, der bei Sinnen ist, wird bestätigen, dass solche Schwankungen völlig im Bereich des Normalen liegen, ja, dass die Sommer bei uns früher generell so ausgesehen haben. Was schreibt der Kurier? „Mieser Juli, mieser August – laut Meteorologen ist der Sommer gelaufen.“ In Portugal brennen die Wälder, auf anderen Erdteilen herrschen Dürre, Hungersnot und fragwürdige Bekleidungssitten, der Kurier aber hat nichts Besseres zu tun, als die Saat der Mieselsucht in die Herzen der Österreicher zu streuen, die dieser achten Todsünde, weiß Gott, nur allzu gerne die Tür öffnen und ein bequemes Bettchen aufschütteln. Der Kurier ist ein malvolentes, meteorologisch miesmacherisches Mainstreamblatt, das sich auf populistische Weise an die hegemoniale Nörgelfreudigkeit der Mehrheit ranschmeißt und dieses fragwürdige Tun dann auch noch hinter „Expertenmeinungen“ verschanzt. Eine Zeitung mit einem minimalen Originalitätsanspruch würde nicht nur die mit „FFW“ gezeichneten Kästchen auf Seite eins umgehend einstellen, sie würde vielleicht auch den Mut aufbringen, das dürre und völlig unspektakuläre Faktum eines kurzen, mit erträglichen Niederschlagsmengen einhergehenden Kälteeinbruchs der Leserschaft mit etwas mehr Pfiff näherzubringen: „Temperaturen sinken, Sexualtrieb taut auf!“ Wär mal was anderes. Auch mit „Endlich: gutes Wetter für dicke Bücher“ hätte man sich auf der Espritskala um ein paar Grad nach oben arbeiten können. Gewerkschaftliche Kampfparolen wie „15 Grad und 35 Stunden sind genug!“ wird sich von einer Kapitalistenzeitung ohnedies niemand erwarten.

Wir lümmelten auf leichten Stühlen

Über die Jahrzehnte habe ich es geschafft, mir eine ganz schön komplexe Identität zuzulegen. So bin ich zum Beispiel Gastgartensitzer, Nachtschwitzer und Vorteilskartenbesitzer. Staatsstipendien und Ehrenkreuze gibt’s dafür keine, aber das macht nichts, reich und glücklich bin ich auch so. Das heißt, ich wäre es, würde man mir wenigstens mit stummem Wohlwollen oder freundlicher Ignoranz begegnen: Hier geht einer, der hat eine Vorteilskarte im Portemonnaie, möge ihm das Leben lang und süß, das Sterben aber kurz und leicht sein – so sollte es durch die Rüben der Bundesbahner rauschen. Was aber tun sie? Sie werfen mich in Tulln samt Frau und Kind aus dem Zug, weil ich nicht sechzig Euro für eine Karte nach Krems zahlen will, die man auf dieser „Selbstbedienungsstrecke“ nur mehr am Schalter lösen darf – eine unangekündigt eingeführte Regelung, aus deren schmutzigem Haupte zwei ridiküle Hörner sprießen, Willkür und Bürokratie geheißen. Zwischen beide wird eines donnernden Tages eine blitzende Axt herniedersausen und dem Biest den Schädel spalten. Ein Schwarm heißhungriger Heuschrecken aber wird in die Mundhöhlen jener frechen Frevler fliegen, die die Terrasse am Westbahnhof zerstört haben. Sie werden kommen und werden euch fressen! Die Terrasse des Westbahnhofs war lange Zeit einer der wenigen wirklich urbanen Orte Wiens gewesen. Unbehelligt von dröhnenden Stammtischdrohnenschwärmen konnte man im kühlen Lichte cooler Neonanemonen leger auf leichten Alustühlen lümmeln, mariahilferstraßenwärts blicken und den Wolken beim Reisen zusehn. Mit hellen Stirnen und in kurzen Hosen hingen wir milde gestimmt hier ab und tunkten den Mund ins schaumbekrönte Bierglas. Nun aber haben sie den schönen Beton und den schönen Balkon zugestellt und kaputtgemacht mit Schanigartenschmonzes der unpackbarsten Art. Tranige Topfbäume und harzende Holzzäune höhnen den Herrn, denn die Bundesbahnbeuteln sind jetzt vom Hirnschwund vollends erfasst. Weine, Klofrau, weine! Kein Centstück wird fürderhin aus meinem Hosensack springen, um klingend am Trinkgeldteller zu kreisen. Ich aber steh sprachlos, und kalt im Winde klirren unbeflaggt die Fahnenstangen.

Hier kommt der Antipastidepp
Wohlstandsdepro Weekend-Wohning

Seit Jahren leide ich unter einer Wohndepression. Das ist ein weitverbreitetes, allerdings therapeutisch und literarisch noch unterbetreutes Phänomen. Deswegen möchte ich allen Leidensgenossinnen und Leidensgenossen an dieser Stelle sagen: Schämt euch nicht, ihr seid nicht alleine, ja, vielleicht sogar die stumme Mehrheit! Es muss freilich hinzugefügt werden, dass es sich in meinem Fall nur um eine leichte und luxuriöse Variante von Wohndepression handelt. Wer zu dritt auf 52 Quadratmetern wohnen muss, hat supergute Gründe, wenn ihm nicht alle Tage nach öffentlichem Seilspringen unter Absingen frohsinnigen Liedguts ist. Wir Wohlstandsdepros hingegen sind ja tatsächlich selber schuld, wenn die Espressomaschine auf der Wäschespinne oder der Billardtisch im Swimmingpool steht. Trotzdem kann es einen sauer ankommen, wenn die Wohnlandschaft von Schichttorten aus Bügelwäsche, CDs und flachen Teigwaren dominiert wird. Deswegen habe ich jetzt eine neue Wohnung. Die alte aber auch noch. Irgendwo muss man ja seine Lasagneblätter stapeln. Und in die neue kommen mir keine – da hat der Innenarchitekt keinen Platz für gelassen. Die Bücher wiederum liegen in Kisten in Gaudenzdorf und freuen sich auf die Regale in der Leopoldstadt. Ich habe es bislang nicht übers Herz gebracht, ihnen zu verraten, dass es dort eher eng wird und sie sicher eine Wohndepression kriegen. Das kann ich ihnen nicht antun. Da es mir momentan schlicht an Entscheidungskraft mangelt, spiele ich auf Zeit und habe mich auf einen windigen Kompromiss eingelassen: Ich bin neuerdings Wochenendwohner – eine unwürdige, aber nicht unangenehme Existenzform. Ich stopfe meine Buckelwalbag mit Kleidung voll und transportiere die schon mal in die Leopoldstadt. So gelingt es mir, selbst die notorisch skeptische Übersiedlungsbehörde zu täuschen, die mich mittlerweile leicht gelangweilt durchwinkt: „Jaja, Sie ,übersiedeln‘ – wir wissen schon.“ Ich passiere die Kontrollstation Marienbrücke, schichte ein paar T-Shirts in die Einbaukästen und wohne: hole mir ein Bier aus dem duschkabinengroßen Kühlschrank, zünde mir eine Zigarre an und lese das einzige Buch, das sich zurzeit in dieser Wohnung aufhält.

Von Büchern und Menschen

Mein Chef hat ja Humor. Trotzdem lache ich meistens mit. Einen besonderen Stellenwert in seinem jokosen Universum nehmen Anspielungen auf meine Teilzeitbeschäftigung als Literaturkritiker ein. Angesichts der Tonnen von Büchern, die im Falter-Mediatower den Durchgang zum Juristentrakt eng machen, pflegt mein Chef hin und wieder launig anzumerken, ich solle dieses oder jenes Buch doch lieber an ihn weiterleiten, statt Rezensionsexemplare abzustauben, um damit meine Privatbibliothek hochzurüsten. „Hahahaha, Chef“, pflege ich in solchen Fällen zu antworten, „Spi-tzen-witz!“ Um nicht unpfiffig zu replizieren: „Aber zum Abstauben hab ich eh schon mehr als genug!“ Nun ist es tatsächlich so, dass ich von vielen Menschen für die vielen Bücher beneidet werde, die mir in die Redaktion geschickt werden. Es sind dies entweder Menschen, die sehr viel lesen, es aber verabsäumt haben, daraus einen Beruf zu machen, und daher sehr viel Geld für Bücher ausgeben müssen; oder aber es sind Menschen, die Bücher eher als Einrichtungsgegenstände betrachten – so wie Vasen, Briefbeschwerer oder Zimmerspringbrunnen. Die denken sich dann: Ha, der Nüchtern, der hat’s leicht – der muss nur zum Rezensionsexemplarregal gehen, wenn er ein Stück braucht, das zu seiner sandfarbenen Alcantara-Bank passt. Stimmt schon, aber da liegt eh schon irgendein Band der farblich tadellos korrespondierenden Nachdruckausgabe von Poetik und Hermeneutik, sagen wir: „Immanente Ästhetik. Ästhetische Reflexion“, oder was halt so drankommt, ist, wenn man das zweite Morgenpfeifchen raucht. Die Wahrheit aber ist, dass man im fortgeschrittenen Stadium wohnungssprengender Bücherbefrachtung Ballast loswerden und nicht aufnehmen möchte. Man zieht dann halt um und sagt ästhetisch ausgeschlafenen Raumgestaltern: „Und da machen wir Regale hin.“ Den Ausgeschlafenen schwebt dann meist was Schwebendes vor. Was Transparentes, Luftiges, das nicht zu sehr aufträgt. „Alles sehr schön“, sagt man, „aber irgendwann ist auch wieder Schluss mit luftig. Ich brauche Platz!“ Schließlich geht man einen Kompromiss ein; und ahnt sofort: Es wird sich wieder nicht ausgehen. Und der Chef wird weiterhin Humor haben.

Safran statt Sperma!

Wäre ich Aktionist, so wäre ich vielleicht versucht, ein Materialbild mit Sperma, Staub und Scheiße zu machen. Weil ich aber ein olfaktorisch zickiges Kerlchen bin, dem der Aktionismus zu streng riecht, finde ich’s ganz gut, dass sich andere um diese Belange kümmern. Frauen, die mich in die Welt gesetzt haben, werden jetzt eventuell anmerken: „Was schreibt der Saubub von Sperma, Staub und Scheiße, wenn er doch in Wahrheit, wie ich sehr wohl weiß, Urlaub genommen hat, um Wohngut in Kisten abzufüllen? Diesen Schweinkram hat er sich doch wieder nur aus schierer schweinigeliger Schalkhaftigkeit ausgedacht, um seine Kolumne vollzusudeln!“ Das klingt alles sehr glaubhaft, was ich die gute Frau da sagen lasse, stimmt aber nicht ganz. Sperma, Staub und Scheiße beschäftigen mich derzeit stark, ich hab mir das, weiß Gott, nicht selbst ausgesucht. Das mit dem Staub ist leicht: Der macht es sich auf dem Wohngut gemütlich, das – husch, husch – in die Kisten muss; die Scheiße wiederum, die in der letzten Woche aufgetaut und flachgeregnet wurde, pfützt unschön an der Ecke Malz und Raimund herum, an der ich mit meinem Wohngut vorbei muss. Mein Pech, dass sich die Kotterroristen des Grätzels ausgerechnet diese Ecke zum Hundeklo auserkoren haben. Ob das Wort „Hund“ die Sache trifft, darf übrigens bezweifelt werden: Schließt man von den Exkrementen auf den Darm der Viecher, muss man davon ausgehen, dass in diesem genug Platz ist, um Squash, zumindest aber „Fang den Hut“ zu spielen. Was ich in solchen Situationen aber schon überhaupt nicht brauchen kann, sind Ejakulationserörterungen. Ständig mailen mich irgendwelche Saftsäcke an, um meinen Spermaausstoß zu thematisieren. Ich habe mich aber aus guten Gründen dafür entschieden, Journalist und nicht Pornodarsteller zu werden! Es besteht für mich demzufolge keinerlei Notwendigkeit, fünf Mal die Woche mit körpereigenen Proteinen den nackichten Leib von Berufskolleginnen zu glacieren. Stattdessen verspüre ich den starken Drang, eine Aktion mit Safran, Schnee und Sandelholzseife durchzuführen. Eventuell ist die Zeit ohnedies reif für einen neuen Aktionismus; einen Aktionismus mit sauberen Achselhöhlen, sozusagen.

Vis-à-vis will man nicht verspießern

Vis-à-vis meiner Wohnung kümmerte sich lange Zeit eine Anstalt um unsere Pensionsversicherungen. Seitdem diese aber die Büros gewechselt hat, sind dort Menschen mit ausgesprochen erratischen Arbeitszeiten zugange. Was genau sie tun, ist angesichts ihrer unspezifischen Tätigkeit – sitzen, stehen, schreiben – schwer zu erahnen. Jalousien wären zwar vorhanden, sie sind aber stets hochgezogen, und ich vermute stark, dass angesichts dieser nachgerade calvinistischen Heimlichkeitsvermeidungsbekundung entweder sehr Selbstloses oder sehr Schmutziges in Arbeit ist. Entweder es handelt sich um Menschen, die außerhalb ihrer Brotberufe ehrenamtlich für Ärzte ohne Grenzen arbeiten, oder um solche, die illegalen Unfug mit Geldern, Drogen oder Minderjährigen treiben – und das am liebsten in der Nacht von Samstag auf Sonntag. Unverdrossen kann man sie dann um ein, zwei oder drei Uhr sitzen, stehen oder schreiben sehen. Das macht mich nervös. Ich bin auch nicht übermäßig faul, aber irgendwann kann man’s auch wieder gut sein lassen. Seit längerem schon verspüre ich den Drang, in tiefer Nacht eine Leuchttafel aus dem Fenster zu halten, auf der „Nur Arbeit und kein’ Spaß macht Johann auf die Dauer blöd“ zu lesen ist; oder, vielleicht noch besser, „Ihr seid noch lang keine Spießer, nur weil ihr jetzt am liebsten im Bett neben euren LebensgefährtInnen liegen würdet“. Wenn ich’s mir recht überlege, scheint es nämlich am wahrscheinlichsten, dass es sich bei den kregelen Bürobenutzern um Menschen handelt, die von Verspießerungsselbstvorwürfen gepeinigt werden, was derzeit in der Generation plus35 sehr en vogue ist. Am liebsten würden sie ja zu Hause bleiben, fernsehen, eventuell ein bissl pudern und früh schlafen gehen, aber irgendeine Instanz hat ihnen erfolgreich eingeredet, dass das nicht geht, weil sie dann Spießer wären. Also rennen sie samstags außer Haus, erklären den Daheimgebliebenen, sich nun tüchtig bezechen und geil abtanzen zu wollen, und treffen sich dann heimlich, um in den Büros der ehemaligen Pensionsversicherungsanstalt zu sitzen, zu stehen und zu schreiben und sich darüber zu unterhalten, was für Spießerschweine sie im Innersten doch sind.

Originalohrenstöpselobservation

Unlängst begegnete ich einem Bekannten, der anerkennend bemerkte, dass ich – wie jeder vernünftige Kleineweißemusikfestplattenuser – die Originalohrstöpsel durch ein abweichendes Modell ersetzt hätte. Das war zwar korrekt beobachtet, aber falsch interpretiert. Die Kabelummantelung der Originalohrstöpsel war aufgebrochen und den Kabeln kurz darauf ein ähnliches Schicksal beschieden, wodurch der Musikzufluss in mein Ohr nachhaltig obstruiert wurde. In solch einem Falle ist es ganz vernünftig, Kaputtes durch Funktionierendes zu ersetzen. Wenn ich es recht verstehe, hatte mein Bekannter aber gemeint, dass es vernünftig wäre, sich als Kleineweißemusikfestplattenuser grundsätzlich nicht zu erkennen zu geben. Ein interessanter Gedanke, den ich durchaus nachvollziehen kann, obwohl er auch nicht ganz unskurril ist: Kein Sportwagenfahrer käme auf die Idee, seinen Porsche, Ferrari, Jaguar oder Wasauchimmer durch plastische Manipulationen an der Karosserie und die Verwendung beiger Ganzautohäkelschutzbezüge unkenntlich zu machen. Schließlich hat man einen Sportwagen, um damit stolz durch die Gegend zu brausen und ranke Damen mit kurzen Röcken und tiefen Dekolletés auf den Beifahrersitz zu setzen. Kleineweißemusikfestplattenuser hingegen schämen sich, dass sie der Gruppe der Kleineweißemusikfestplattenuser angehören: Unter seinesgleichen möchte man nicht sein. Ist man aber eh nicht: Die Verkäufer in den streng selektierten Stores, in denen Kleineweißemusikfestplatten verkauft werden dürfen, sind in der Regel unfrisierte Twentysomethings, die Red Hot Chili Peppers oder Schlimmeres in ihren Kopfhörern hausen haben und den Charme einer ebenso indolenten wie arroganten Sekte verströmen. Sie verachten jeden Kunden, der ins Geschäft kommt und also auf ihr Know-how angewiesen ist, anstatt sich alles, wenn schon nicht selber zu bauen, so zumindest im Internet zu bestellen, und erniedrigen ihn durch Barzahlungszwang und den Hinweis, man könne die paar tausend Euro für die große weiße Kiste ja ums Eck am Bankomat beheben. So betrachtet kann man die Heimlichtuerei der Kleineweißemusikfestplattenuser dann wieder ganz gut verstehen.

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