Read the book: «Klaus Mann - Das literarische Werk», page 31

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Er schaute sie lange an, aus seinen hellen, heftigen Augen, die so schnell die Farbe wechselten. Er fand, sie war schön – zu schön, am Ende, für den armen Tullio aus Bari. Aber würde er denn immer der arme Tullio sein? Er war zu Großem bestimmt; würde herrliche Verse schreiben wie auch Theaterstücke und politische Manifeste. Er wollte sich würdig erweisen dieser sehr schönen Frau, die ihm jetzt ein Rendezvous vorschlug, als ob das gar nichts wäre. Die lockige Fülle ihres Haars hatte Purpurschimmer. Und wie siegesbewußt trug sie den kleinen Kopf! – Für Tullios Geschmack war sie ein wenig zu mager, vor allem was den sehnigen Hals und die langen, unruhig muskulösen Hände betraf. Aber er bewunderte ihren großen, leuchtenden Mund und das tiefe Farbgemisch in den Katzenaugen und ihre langen Beine und die Art, wie sie sich mit einer ungeduldig herrschsüchtigen Bewegung das Haar aus der breiten Stirne schüttelte. Er liebte auch ihre Stimme, die zugleich einschmeichelnd und grollend war, drohend und zärtlich und stark und sehr reich an überraschenden, herben oder süßen Nuancen. – Tullio war dazu imstande, sich geschwind zu begeistern. Er meinte, diese Frau schon zu lieben. Er begehrte sie schon.

Sie trafen sich abends, in einer kleinen Bar um die Ecke. Tullio, in einem bescheidenen grauen Paletot, ein etwas mißfarbenes und verwittertes rundes Hütchen auf dem Kopf, sah nicht mehr ganz so attraktiv aus wie in der offenen Lederbluse, die er zur Arbeit trug. Marion brauchte einige Minuten, um seinen großen Reiz wieder zu finden, wieder zu entdecken.

Ihr war sonderbar ernst zumute, als beginne nun ein sehr schöner, aber auch gefährlicher, vielleicht verhängnisvoller Abschnitt in ihrem Leben. Sie dachte an Marcel. Wenn sie die Augen schloß, zeigte sich ihr ein Gesicht, das mehr dem des fernen Toten als dem des Lebenden an ihrer Seite glich; es hatte aber die Züge von beiden. Sie bat Marcel um Verzeihung. Sie versprach ihm: ›Ich werde dich immer lieben. Was nun auch für mich beginnen mag, es kann mich dir nicht entfremden. In meinem Herzen bleiben, Wundmalen gleich, die Spuren deiner ungeheuren Blicke. Ich bin deine Witwe, Marcel.‹

Tullio seinerseits war lustig bis zur Ausgelassenheit. Er lachte viel und sang Melodien aus italienischen Opern. Dazwischen schüttelte er den Kopf, als könnte er es selbst nicht begreifen, daß er hier saß, Marion an seiner Seite. »Life is funny«, sann er mit geheimnisvollem Mienenspiel. »Extremly funny – don’t you think so, Marion?« Dann sang er wieder; dann sprach er über Detektivromane, und schließlich gab er, in gedrängter Form, sein politisches Glaubensbekenntnis. »Ich bin Antifaschist«, sprach er feierlich. »Aber der Kommunismus gefällt mir auch nicht. Ich glaube, der Staat an sich ist das Schlechte. Kein Mensch sollte Gewalt über andere Menschen haben. Die Macht verdirbt den Charakter. Ich bin Anarchist. – Ja, Tullio kennt das Leben!« schloß er triumphierend.

Später, auf der Straße, preßte er Marions Arm und sagte mit einer Stimme, die mehr wütend als zärtlich klang: »Ich möchte mit dir allein sein, Marion! Ich möchte mit dir allein sein!«

»Das möchte ich auch«, sagte Marion.

Er versetzte düster: »Aber im Hotel geht es nicht. Dort kennen mich alle; sogar der Nachtportier weiß, daß ich der Fensterputzer Tullio bin. Es würde einen Skandal geben, wenn du mich mitnähmest.« Nachdem er diese Betrachtungen angestellt hatte, stampfte er vor Zorn mit dem Fuß aufs Straßenpflaster.

»Nein, im Hotel geht es wohl nicht«, gab Marion zu. Dabei berührte sie mit ihren Fingern seine geballte Faust: die große, harte Faust eines Arbeiters.

Sie stand nahe bei ihm. Ihr Blick ging über sein Gesicht. Die Lippen hatte er schmollend vorgeschoben, und in den Augen gab es Wetterleuchten. Er ärgerte sich wohl noch immer darüber, daß im Hotel sogar der Nachtportier ihn kannte und wußte, daß er nur der Fensterputzer war.

Marion löste ihre Finger aus der Umklammerung seiner Faust. Sie berührte vorsichtig seinen Nacken, gerade dort, wo das schwarze, feste und seidige Haar ansetzte. Da umschlang er sie. Er küßte sie an der Straßenecke. Ein kalter Wind blies sie an. Marion befreite sich aus seiner wütenden Umarmung, als sie die Schritte von Passanten hörte.

Sie gingen schweigend, Hand in Hand, den Weg zum Hotel zurück. Ein paar Meter vom Portal entfernt, trennten sie sich. Tullio sagte: »Morgen habe ich im achten Stockwerk zu tun. Vielleicht kann ich zu dir kommen – für ein paar Minuten. Leb wohl.« Seine Augen standen voll Tränen.

Marion wollte seine Augen küssen, hatte aber Angst, vom Hotel aus beobachtet zu werden. Sie drückte ihm schnell die Hand, ohne noch etwas zu sagen.

Marions Tage in New York waren reichlich ausgefüllt. Sie studierte mit einer amerikanischen Schauspielerin ihre englischen Rezitationen sowie die kleinen Vorträge, die den Versen als Einleitung dienen sollten. Sie hatte Konferenzen mit ihrem Agenten, mit Journalisten, und es gab viele Menschen zu sehen. Die Menschen waren wohlmeinend und herzlich. Alle schienen voll lebhafter Sympathien mit Schicksal und Arbeit der deutschen Emigrantin, und sie äußerten Haß und Ekel, wenn von den Nazis die Rede war.

Aber die zentrale Figur für Marion in diesen Wochen wurde der Italiener, Tullio, der, schön wie ein junger Gott, mit einem Kübel und mehreren Lappen in ihre Stube getreten war. Er kam wieder, jeden Tag war er da, und schließlich wagte er es sogar, sie nachts zu besuchen, obwohl doch alle im Hotel ihn kannten. Er schlich sich durch den hinteren Eingang und benutzte, um nach oben zu gelangen, nicht den Lift, sondern die Treppe: die enge, dunkle, fast verbotene Treppe, die abgestorben zu sein schien wie ein Körperteil, den man nicht benutzt, und die nun endlich ihren Sinn, ihr neues Leben bekam.

Auf der Treppe aber begegnete er keiner Geringeren als der Gattin des Managers, die wohl, vom Korridor her, Schritte gehört hatte und neugierig lugte, wer sich da herumtreiben mochte. »Wohin wollen Sie?« fragte unbarmherzig die Dame. Tullio seinerseits wurde rot und blaß. Der Schweiß trat ihm in dicken Tropfen auf die Stirne; er brachte mühsam hervor: »Zu Doktor Alberto – Doktor Alberto im sechsten Stock …« Er meinte einen deutschen Arzt namens Albert Müller, der im Hotel logierte und vor einigen Tagen einen verletzten Finger Tullios verbunden hatte. – »Zu Doktor Alberto!« beteuerte der Junge noch einmal – erleichtert, daß immerhin dieser rettende kleine Einfall ihm gekommen war – und er fügte jammernd hinzu: »Mein kaputter Finger tut ja so entsetzlich weh! Es ist der kalte Brand, fürchte ich. Doktor Alberto wird alles aufschneiden müssen …« Dabei streckte er der Gattin des Managers frech die gesunde Hand hin. Sie geruhte nicht einmal, sie anzuschauen; vielmehr sagte sie nur verächtlich: »Doktor Alberto? Von wem sprechen Sie denn? – Wahrscheinlich meinen Sie den Herrn Doktor Müller.« – Tullio nickte eifrig. – »Warum benutzen Sie nicht den Lift?« fragte die Gattin des Managers nur noch und wandte ihm verdrossen den Rücken.

Tullio kam zitternd und keuchend vor Aufregung bei Marion an. »Man hat mich entdeckt!« Er rang pathetisch die Hände, Tränen standen in seinen Augen, und der schöne Mund zuckte. Sie legte die Arme um seine Schulter. Ihre Liebkosung besänftigte ihn; er konnte erzählen, was geschehen war. Als Marion aber lachte, wurde er ärgerlich. »Du amüsierst dich!« grollte er und machte große Schritte durchs Zimmer. »Du ahnst ja nicht, wie gemein die Menschen sind! Morgen wird der Manager sich bei Doktor Alberto erkundigen, ob ich wirklich bei ihm gewesen bin. Der ganze Schwindel kommt auf, und ich werde entlassen.«

Er blieb nur ein paar Minuten. Zum Abschied küßte er Marion mit einer Heftigkeit, in der noch der Zorn über das Renkontre auf der Treppe spürbar war. »Wir müssen uns ein Zimmer nehmen – ganz für uns!« flüsterte er. »Ich weiß ein kleines Hotel, in der Nähe der Pennsylvania Station. Es ist billig und ziemlich sauber …« Marion nickte, die Arme um seinen Hals. Dabei fiel ihr die Purpurfülle des Haars in die Stirn, wie ein Vorhang, der verbergen sollte, daß sie rot geworden war.

Übrigens geschah am nächsten Vormittag alles, wie der verzweifelte Tullio es vorausgesehen hatte. Doktor Müller, der sich an den Italiener mit dem verletzten Finger kaum erinnern konnte, leugnete empört, ihn nachts empfangen zu haben. Was also hatte Tullio im Hotel gesucht, zu so unpassender Stunde? Wahrscheinlich hatte er stehlen wollen; alles sprach dafür: dies war seine Absicht gewesen. – Tullio wurde entlassen. Er ließ es Marion auf einem Zettel wissen, den er durch die Türritze in ihr Zimmer schob. Sie erschrak: Was sollte nun werden? Aber schon gegen Abend rief der Junge sie an: Er hatte einen »Job« in einem anderen Hotel gefunden, nicht weit von hier. »Und es ist ein viel schöneres Hotel!« berichtete er stolz. »Viel größer und vornehmer als eures. – Tullio hat Glück! Tullio kennt das Leben!«

Marion hatte nur noch drei Wochen, ehe sie die Tournee antreten mußte. Die Zeit verging viel zu schnell. – Sie konnte Tullio immer erst abends treffen. Tagsüber hatte er seine Arbeit, und auch sie war beschäftigt. Aber die Abende waren lang – von sieben Uhr bis Mitternacht oder ein Uhr morgens. Mit Tullio zusammen lernte sie New York kennen; er kannte es gut, und überall hatte er Freunde. Sie unternahmen Entdeckungsfahrten in der Subway: nach Brooklyn oder in die Bronx, ins Chinesenviertel oder nach Harlem. Marion war begeistert von den Dancings, wo die Schwarzen, zugleich korrekt und verzückt, sich nach den fulminanten Rhythmen des Jazz bewegten. Tullio seinerseits tanzte ohne die brillante Technik, die für die Dunklen Selbstverständlichkeit war. Aber er führte mit festem, zuverlässigem Griff; sein Gang war beschwingt und elastisch, und seine Musikalität bewahrte ihn vor jedem falschen Schritt. Übrigens hielt er selber große Stücke auf seine Tanzkunst und rühmte sich kindlich: »Tullio knows how to dance! Tullio is clever, is smart!« – Sein Akzent war phantastisch. Mit einem Eigensinn, der nicht ohne Großartigkeit war, weigerte er sich zum Beispiel, das »th« so auszusprechen, wie es sich gehörte. Er deklarierte, wenn von weltanschaulichen Fragen die Rede war: »I know the whole trut!« – und Marion verstand erst nicht, was er meinte. Schließlich kam sie darauf, daß es das Wort »truth« war, das er so seltsam entstellte.

Es war schön in Harlem; es war schön am Times Square, wo die feurigen Räder der Lichtreklamen irrsinnig kreisten und vor schwarzem Hintergrund grelle Figuren oder Schriftzeichen ihren Tanz hatten. Nach dem Kino mußte Tullio in eine Cafeteria gehen, um ein großes Sandwich mit Salat und heißer Wurst zu essen. Er hatte fast immer Hunger. Für Marion war es ein Vergnügen, ihn essen zu sehen. Er bekam etwas Raubtierhaftes, wenn er gierig aß; seine Zähne, die beim Lachen verlockend schimmerten, wurden Mordwerkzeuge. Sie sah ihn Speisen verschlingen; Fleisch kauen, Gemüse verzehren, Suppe löffeln – in französischen Restaurants, schwedischen, ungarischen, chinesischen Restaurants. Am besten schmeckte es ihm in den italienischen. Er wußte ein kleines Lokal, wo es vorzügliche Ravioli und einen sehr guten Chianti gab. Dort war es, wo Tullio mit Marion seinen Geburtstag feierte. Es war ein schönes, ausführliches Fest. Er hatte schon am Nachmittag das Menü zusammengestellt. Es war fast wie in Bari. Sie schrieben eine Ansichtskarte an Tullios Familie: an den Vater, die Mama und den siebzehnjährigen Luigi. Später setzte Tullio, wieder einmal, seine Weltanschauung auseinander. »I know the whole trut!« behauptete er emphatisch. Diesmal stellte sich heraus: er war nicht nur gegen die organisierte Gewalt, den Staat; er war auch gegen den Verstand, gegen die Vernunft, den Kopf, das Denken. »Die Menschen denken zuviel«, erklärte Tullio, »deshalb können sie nicht glücklich sein.« Seine Theorie war: Alle Krankheiten kommen vom Gehirn; vor allem die Tuberkulose. Man bekämpfte dieses Übel am wirkungsvollsten, wenn man auf das leidige Nachdenken beinah ganz verzichtete. »Früher waren die Menschen gesund, weil sie weniger dachten und nicht soviel wußten. Ich weiß beinah gar nichts«, gab Tullio zu. »I am ignorant. – But I know the whole trut!« schloß er triumphierend und goß sich noch einmal Chianti ein.

Marion lauschte ihm amüsiert; machte sich dabei auch ihre eigenen Gedanken, obwohl ihr Freund doch gerade das Denken so dringend widerriet. Marion dachte: ›Auch sein kindlicher, ungeübter Verstand ist berührt und ergriffen von den Stimmungen, den gefährlich starken Tendenzen der Zeit. Marcel – erfahren und viel zu bewandert in allen intellektuellen Raffinements – hat die großen Worte verflucht und nach der Tat, dem Opfer verlangt. Dieser Überdruß an der Vernunft, dieser aggressive Zweifel an der intellektuellen Kritik scheint die Krankheit unserer Generation – oder ist es vielmehr ein Symptom der Gesundung? Sind alle diese jungen Menschen so müde der Gedanken und der Zweifel – weil sie glauben wollen? Woran glaubt Tullio? Was bedeutet sein »Anarchismus« und seine seltsame Theorie, daß die Tuberkulose vom Denken komme? Wohin will er? Wohin führt sein naiver Anspruch »Zurück zur Natur«? Ist die Barbarei das Ziel, die Auflösung der Zivilisation die Rettung? – Aber er haßt den Faschismus. Da er diese falsche Ordnung bekämpft, muß er eine andere Ordnung wollen: eine bessere, die sowohl freier als auch vernünftiger wäre. – Der Überdruß an der Vernunft und am Staat erklärt sich aus dem Mißbrauch, der mit der Vernunft getrieben wurde, aus der Schlechtigkeit der Staaten. Unsere Generation empfindet: Lieber das Chaos als die permanente Ungerechtigkeit. Hinter dem Chaos aber sieht sie – ohne es noch zu wissen oder sich zuzugeben – schon die neue Ordnung, der sie dienen will …‹

Marion liebte die Stadt New York. Alles auf den Straßen machte ihr Vergnügen. Es ergötzte und erfrischte sie, den gewaltig strömenden, exakt geregelten Verkehr der Wagen zu beobachten. Wenn das Lichtsignal ihnen zu stoppen gebot, war es gestattet, die Straße zu überkreuzen, an der Reihe der Wagen vorbei, wie an einem Wasserfall, der sich plötzlich nicht mehr ergießen durfte, sondern rauschend stillstand. Marion wurde eine kleine Angst nicht los. Sie sah aber lächelnd, wie Kinder und junge Mädchen den stehenden oder im dichten Verkehr ganz langsam fahrenden Wagen zutraulich auf die Kotflügel klopften, so wie man ein gezähmtes Ungeheuer lässig streichelt: der besondere Reiz so kecker Liebkosung ist es ja gerade, daß der Unhold einen zerreißen könnte, käme es ihm plötzlich in den unberechenbaren Sinn.

Es war gut, mit vielen Menschen zu reden; Tullio hatte schnell Kontakt mit mancherlei Leuten. Sie unterhielten sich mit den Negern, die in den Nebenstraßen des Broadway oder in Harlem ihre Künste zeigten; oder mit den Männern, die vor großen Geschäften ihre Schilder spazieren führten: »Kauft hier nichts! Boykottiert diesen Laden! Hier werden Gewerkschaftsmitglieder unfair behandelt! Helft uns in unserem Protest!« Mit diesen sprachen sie über soziale Fragen, über das Arbeitslosenproblem, über Roosevelts »New Deal« und seine Chancen. Mit den kleinen Negerjungen aber, die an den Straßenecken Schuhe putzten, sprachen sie über Baseball oder die Aussichten eines großen Boxkampfes, der angekündigt war. Die kleinen Negerjungens hatten zarte, etwas müde, dabei lustige und schlaue Affengesichter. Marion schaute gerne den flinken Händen bei der Arbeit zu. Die Dunkelheit ihrer Haut schien empfindlich und abgenutzt, an manchen Stellen fleckig, als trügen die Kinder sehr alte, strapazierte Handschuhe.

Einmal fuhren sie nach Yorkville, ins deutsche Viertel. Aber dort fühlte Marion sich gar nicht wohl. Sie ekelte sich vor den hakenkreuzgeschmückten Zeitungen, die überall aushingen. Die Gesichter vieler Menschen, denen sie hier begegnete, waren ihr unangenehm; es schienen böse und dumme Gesichter: Marion fürchtete sich. Tullio wollte einen deutschen Film sehen. Es gab ein Lustspiel; seltsamerweise zeigten die Figuren auf der Leinwand sich eher verdrossen, sie schrien sich an wie Unteroffiziere. Wenn sie lustig sein wollten, wurden sie roh. Die jungen Männer – hünenhaft gebaut, mit fast idiotischen Mienen – schlugen ihren Mädchen tüchtig auf den Hintern, ehe es zur Umarmung kam, die ihrerseits barbarischen Charakter hatte. Marion dachte: ›Ist dies deutscher Humor?‹ Den Ton der Stimmen konnte sie kaum ertragen; auf eine herausfordernde Art war er zugleich forsch und sentimental, aggressiv und wehleidig. ›Wie fremd die deutschen Stimmen mir geworden sind!‹ empfand Marion. Nach einer Viertelstunde gingen sie. Der Platzanweiser – ein Deutscher – erkundigte sich, ob ihnen der Film nicht gefallen habe. »Es ist ein abscheulicher Film«, sagte Marion.

Der Platzanweiser war ein großer, blonder Bursche mit langem, hagerem, recht gut geschnittenem Pferdegesicht. »Alle deutschen Filme sind Dreck«, sagte er, und sein Gesicht hatte plötzlich einen Ausdruck von Haß. Marion unterhielt sich noch etwas mit ihm. Der Bursche ließ durchblicken, daß er ein politischer Flüchtling war. Er wagte es nur zu flüstern: »denn wenn sie es hier rausbekommen, verliere ich meinen Job. Das sind hier alles Nazis – die ganze Bande!« – Leute kamen; er mußte ihnen mit seiner Taschenlampe den Weg zu ihren Sitzen durchs dunkle Parkett zeigen. Ehe er sich von Marion trennte, hob er die Faust, zur Geste des antifaschistischen Grußes. Sein Gesicht, das im Halbdunkel des Theaters verschwand, sah sehr hart und zornig aus.

Wie rasch vergingen die Tage, und auch die Wochen waren geschwind vorbei. Marion lud ihren Tullio in die Oper ein; sie hörten »Aida«, Tullio war nur mit Mühe davon abzuhalten, die geliebten und vertrauten Melodien schallend mitzusingen.

Sie fuhren zur Washington Bridge und zur Brooklyn Bridge; sie genossen die Aussicht von den höchsten Wolkenkratzern, und sie spazierten im Central Park. Sie besuchten den Zoologischen Garten, die Öffentliche Bibliothek, die Museen, die Warenhäuser und die Empfangsräume der großen Hotels. Sie wollten alles sehen. Beide waren neugierig und enthusiastisch. Am meisten liebte Marion die Stadt zu einer gewissen Stunde am späten Nachmittag. Dann wurde das Licht durchsichtig und bekam einen besonderen, strengen Reiz. Hinter den Wolkenkratzern standen die schmalen Streifen des Himmels in einer blassen, stählernen Bläue. Irgendwo mußte noch die Sonne sein; aber man sah sie nicht mehr. Die hohen Stockwerke der Hausgiganten waren von einem kalten, süßen, etwas giftigen Rosa beschienen wie die Gipfel des Hochgebirges vom Sonnenuntergang – während die Straßen sich schon, gleich Schluchten, mit Schatten füllten. Dann wurde es plötzlich sehr kalt. Marion drängte sich enger an Tullio.

Wo war sie, und wer schritt da an ihrer Seite? War dies nicht die furchtbare, überirdisch schöne Landschaft des Engadins, und blies nicht der Maloja-Wind sie gewaltig an, um diese Straßenecke? – Sie zog den Jungen an sich, damit sie ihn wiedererkenne, ihn nicht verwechsle. Wir verwechseln die miteinander, die wir lieben müssen. Es ist immer dasselbe Antlitz, dem wir verfallen. – ›O Marcel, ich bin deine Witwe. In meinem Herzen bleiben, Wundmalen gleich, die Spuren deiner ungeheuren Blicke.‹

Auch Tullio schien betrübt geworden, als teilte er Marions Erinnerungen, samt der nie zu stillenden Trauer um einen Toten. – Seine Stimmungen änderten sich rapid. Er war reizbar und stolz, kindisch und leicht gekränkt, zärtlich und naiv, roh und sanft. Er war stets überraschend. Manchmal glaubte Marion: Er ist schön, aber einfach dumm; dann wieder: Er ist begabt, aber er muß wahnsinnig werden. Und wieder ein anderes Mal: Er ist stark und gut, der Haß gibt ihm Kraft und Feuer, er kann etwas Tüchtiges leisten, er wird sein Leben sinnvoll machen, er kann arbeiten, er geht nicht zugrunde. Wenn er ausrief: »I know the whole trut!« und: »Alles Übel kommt von den Gedanken!« – erschrak Marion, und ihr Gelächter, das ihm antwortete, klang nicht munter. Wenn er aber seine Ausbrüche gegen »fascismo« hatte, der ihm die Heimat verdarb, beobachtete sie mit Entzücken sein bewegtes Gesicht. Schatten flogen über die blanke Stirn, in seinen Augen war das Wetterleuchten, und sogar das Funkeln der raubtierhaften Zähne ward drohend.

Manchmal machte er sich auch Sorgen wegen des sozialen Unterschiedes, der zwischen ihnen bestand. »Wir sind aus verschiedenen Welten. Was hast du eigentlich an mir?« konnte er fragen. »Ich bin doch nur ein einfacher, dummer Kerl – habe nichts gelernt.« Marion lächelte stumm. Mit ihren Lippen berührte sie seine grobe, abgearbeitete Hand. »Bist du glücklich?« wollte er wissen. »Kann ich dich glücklich machen?« – Sie antwortete nicht.

Doch wiederholte sie in ihrem Herzen die Frage: ›Bin ich glücklich? Liebe ich ihn genug? Gibt es zwischen ihm und mir nicht zuviel Trennendes? Ich bin mehrere Jahre älter als er. Ich bin erzogener als er, und ich habe eine andere Art zu denken. Habe ich nicht auch eine andere Art zu empfinden als Tullio? All seine Reaktionen sind mir fremd und erstaunlich. Vielleicht liebe ich ihn gerade deshalb so sehr. Denn ich liebe ihn sehr‹ – empfand Marion mit ihrem ganzen Herzen.

War sie glücklich, nachts, während der Stunden, die sie in dem verdächtigen kleinen Absteigehotel, nahe der Pennsylvania Station, verbrachten?

Marion hatte sich nie mit solcher Heftigkeit lieben lassen. Er war unersättlich. Sein Ernst in der Umarmung, seine beinah wütende Sachlichkeit bei den Liebkosungen waren erschreckend. Er warf sich über sie wie ein Ringkämpfer auf seinen Gegner. Er war geschwind befriedigt, und dann rief er: »Noch einmal!« – es klang wie ein Schlachtruf. Auch sein erhitztes, schweißbedecktes Gesicht sah wie das eines erschöpften Kriegers aus, mit durstig trockenen Lippen, dem feucht verklebten Haar, den gierig weit geöffneten Augen. Seine Zärtlichkeit war vehement wie eine Naturkatastrophe. Sein Körper bäumte sich wie in Qualen. Auch sein Stöhnen klang, als ob es von einem Gefolterten käme. »Tue ich dir weh?« fragte er sie – selber leidend an seiner Lust. Als Marion den Kopf im Kissen schüttelte: »Aber ich will dir weh tun! Sonst liebst du mich nicht!«

Manchmal grübelte Marion, über sein Gesicht gebeugt, an dem sie sich nicht satt sehen konnte: »Liebst du mich wirklich? – Ach, du liebst mich nicht!« Sie hatte es auf deutsch gesagt, er verstand sie nicht. »Was hast du eben gemurmelt?« wollte er mißtrauisch wissen. Da sie nur ein girrendes kleines Lachen als Antwort hatte, verfinsterten sich gleich sein Blick und seine Stirn. »Du ärgerst mich mit deinen Geheimnissen, mit deiner fremden Sprache. Ich weiß nichts von dir!« Er griff nach ihrem Kopf mit seinen großen, harten Händen, als ob er die Gedanken aus ihm herauszerren könnte. »Wenn ich nur wüßte, was vorgeht hinter dieser Stirn!« – Sie blieb stumm; da stürzte er sich wieder in die Umarmung wie in den Kampf. Noch einmal – der in Lust und Qualen gebäumte Leib; noch einmal die irrenden, rasenden Blicke; das Brummen und Stöhnen, der bedrohliche Schlachtgesang seiner Liebe: noch einmal.

Schwankte unter ihnen nicht das Zimmer – diese nicht besonders saubere Hotelstube, nahe Pennsylvania Station – wie einst ein anderes Zimmer geschwankt hatte, an einer französischen Küste? Es schien ein Schiff auf hoher See zu sein – oder vielleicht nur ein kleiner Nachen. Wohin trug er sie? Gab es Ufer, jenseits dieser Gewässer, die sich unermeßlich breiteten? Und wenn es Ufer gab – hatte man Kraft genug, sie zu erreichen?

Gefahren – Gefahren überall … Oh, wir sind schon verloren …! Welche Schuld haben wir auf uns geladen, daß man uns zu solcher Strafe verdammt …? Marion und Tullio hatten den entsetzten Blick, als wäre ein Abgrund jäh vor ihnen aufgesprungen.

Aus dem Abgrund stiegen Feuerbrände, auch Qualm kam in dicken Schwaden, und Felsbrocken wurden emporgeschleudert. Es war der Krater eines Vulkans.

Hüte dich, Marion! Wage dich nicht gar zu sehr in die Nähe des Schlundes! Wenn das Feuer dein schönes Haar erfaßt, bist du verloren! Wenn einer der emporgeschleuderten Felsbrocken deine Stirne streift, bist du hin! Auch könnte es sein, daß du am Qualm elend ersticken mußt. Furchtbar ist der Vulkan. Das Feuer kennt keine Gnade. Ihr verbrennt, wenn ihr nicht sehr schlau und behutsam seid. Warum flieht ihr nicht? Oder wollt ihr verbrennen? Seid ihr versessen darauf, eure armen Leben zu opfern? – Aber ihr habt nur diese! Hütet sie wohl! Bewahrt euch! Wenn auch ihr im allgemeinen Brand ersticken solltet – niemand würde sich um euch kümmern, niemand dankte es euch, keine Träne fiele über euren Untergang. Ruhmlos – ruhmlos würdet ihr untergehen!

Da sprach Tullio die Worte, auf die Marion längst mit tausend Ängsten gewartet hatte. »Ich kann nicht bei dir bleiben, meine Geliebte.« – Sie fragte: »Warum nicht?« – so ruhig, als hätte er ihr mitgeteilt, daß er heute lieber ins Kino statt ins Museum wollte. Er redete pathetisch, den schönen dunklen Kopf in die starke Hand gestützt: »Weil mein Leben mich hier nicht befriedigt. Fenster putzen können auch andere. Ich habe Aufgaben, habe Pflichten! I know the whole trut! – Ich muß nach Europa, gegen fascismo arbeiten: in Italien, vielleicht auch in Deutschland. Ich muß kämpfen! Die Macht ist böse, überall erniedrigt sie den Menschen. Ich muß die Macht niederringen, den großen Drachen …« Und, die Stirne gesenkt, die Augen beinah geschlossen, wie geblendet von einem zu starken Licht, brachte er noch hervor: »Ich muß mich opfern … Es wird das Opfer verlangt …«

Wie kannte Marion diese Worte! Wie vertraut waren ihr diese Blicke, diese stolzen und verzweifelten Gesten! Der italienische Proletarier schien den Pariser Intellektuellen zu kopieren – und meinte es ernst und ehrlich wie dieser. ›Es wird das Opfer verlangt …‹ Dies ist nicht die Stunde des kleinen Glückes, und auch das große wird uns kaum gewährt. Die Welt will anders werden, sie windet sich in Krämpfen, das Böse hebt scheußlich mächtig das Haupt, wir werfen uns ihm entgegen, und wenn wir verbluten sollen an seinem Biß: Es wird das Opfer verlangt. Menschliche Bindungen, zarte Rücksicht auf die Geliebte kommen kaum in Frage: die Zeiten sind nicht danach. Wir umarmen uns, und das Glück ist heftig, weil es flüchtig bleibt. Leb wohl, und vergiß mich nicht! Wir sind Emigranten, du und ich, das Böse hat uns die Heimat gestohlen, die Heimatlosen kennen keine Treue. En somme, Madame, vous êtes sans patrie. Hatten Sie sich denn ein stilles Eheglück mit mir erwartet, chère Madame? Ich bin ein anarchistischer Fensterputzer. – Sie wußten doch, wem Sie sich hingaben, in diesem Hotelzimmer, wo es etwas übel riecht. Adieu, adieu: dieses ist Abschied – eine Realität; die Realität unseres Lebens.

Marion – an gewissen praktischen Details trotz allem interessiert – erkundigte sich: »Wann dachtest du denn zu reisen?« Seine Antwort war finster und allgemein gehalten. »Ich weiß noch nicht … Bald – nur zu bald … Vielleicht treffe ich meinen kleinen Bruder Luigi in Paris … Ich erwarte ein Telegramm … Ich muß auf einem Dampfer arbeiten, um nach Europa zu kommen – als Heizer oder als Kellner … Es kann bald sein – sehr bald …«

Zunächst aber war es Marion, die reiste. Ihre Tournee begann. Sie mußte für einen Damenklub in Philadelphia sprechen; den nächsten Tag für einen anderen in Baltimore; dann in Washington, Rochester, Buffalo, Detroit, Kansas City. Tullio begleitete sie zur Pennsylvania Station; sie kamen an dem Hotel vorbei, wo sie sich geliebt hatten, er hatte die Augen voll Tränen. Er verlangte: »Du mußt mir jeden Tag schreiben! Jeden Tag – nicht seltener – versprich mir das!« Er hob, mit mühsamer Schalkhaftigkeit, mahnend den Zeigefinger. »Ich muß doch immer wissen, was los mit dir ist!« sagte er noch. Seine eigenen Reisepläne erwähnte er nicht; nur vor der Trennung, die durch Marions Tournee verursacht wurde, schien er Angst zu haben. Eifrig wie ein Schulbub notierte er sich ihre Adressen; sie wechselten jeden Tag. Er sah rührend aus in seinem bescheidenen grauen Paletot, das mißfarbene, verwitterte runde Hütchen auf dem Kopf.

Er sah schön aus, sein Gesicht war schön gebildet, Marion liebte es, sein starkes, beinah wildes Gesicht, Marion schaute es an. Er schleppte den Koffer; sie hatte keinen Träger nehmen dürfen. Der Koffer war ziemlich schwer; Tullio keuchte. Sie schaute ihn an. »Adieu, Tullio! Mach’s gut!«

Sie ließ vor Nervosität ihr Täschchen fallen, es ging auf, Toilettegegenstände und Börse lagen auf dem Pflaster des Bahnsteiges. »Ich bin immer so ungeschickt!« Sie rang verzweifelt die Hände; ließ die Gelenke knacken. Da stand sie, eine lange, dünne, nervöse Dame in ihrem schwarzen Mantel; den kleinen Hut etwas unordentlich aufgesetzt; darunter kam das Purpurhaar hervor. Sie war nicht mehr völlig jung – nicht mehr neunzehnjährig war Marion, auch die Fünfundzwanzig hatte sie schon überschritten, und der dreißigste Geburtstag lag hinter ihr. Seht – um den leuchtenden, verführerischen Mund gab es schon scharfe Falten; auch um die schiefgestellten Katzenaugen ward dergleichen bemerkbar. Marion von Kammer – die Tochter der geborenen von Seydewitz; die Schwester Tillys, einer kleinen Selbstmörderin; die Witwe Marcels, eines Dichters und Soldaten; die Geliebte eines Fensterputzers: da stand sie, mit langen Beinen, zwischen den Augenbrauen einen angestrengten und gequälten Zug, im Mund die Lucky-Strike-Zigarette; schlenkerte mit ihren Handschuhen; wußte nicht, wohin mit ihren Händen – und sprach: »Adieu, Tullio! Vergiß mich nicht! Und leb wohl!«

Marion – wieder auf Tour: sie empfand es wie eine Heimkehr. Die Ruhelosigkeit war der vertraute Zustand und hatte fast beruhigende Wirkung. Wir sind Vagabunden, Zigeuner, total entwurzelt, heimatlos, sans patrie. ›Wo bin ich gerade jetzt?‹ dachte sie wieder wie damals, im Haag oder in Bratislava. ›Wo habe ich übernachtet? In einer Stadt namens Memphis oder in Chicago? Oder bin ich in einem Pullman car?‹