Strafrecht Allgemeiner Teil

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c) Soziales Näheverhältnis zwischen Angreifer und Verteidiger

249In sozialen Näheverhältnissen (insbesondere bei Ehegatten und nahen Familienangehörigen) kann wegen der erhöhten Pflicht zur gegenseitigen Rücksichtnahme das überindividuelle Prinzip der Rechtsbewährung nur begrenzt durchgreifen. Eine Notwehreinschränkung ist aber als Ausnahme auf Garantenstellungen|90| in engen Lebensbeziehungen zu beschränken und nur anzuerkennen, wenn nicht die Gefahr erheblicher Körperverletzungen oder gar des Todes auf Seiten des Angegriffenen drohen. Die Rechtsprechung hat „einem Ehegatten bei Angriffen seines Lebensgefährten in bestimmten Fällen den Verzicht auf ein sicher wirkendes, aber möglicherweise tödliches Verteidigungsmittel zugemutet, wenn von dem Angriff nur leichte Körperverletzungen zu befürchten seien. In solchen Fällen müsse der Angegriffene sich unter Umständen mit einer milderen Art der Abwehr begnügen, auch wenn diese nur eine starke Wahrscheinlichkeit der Beendigung des Angriffs in sich schließe.“[271] Besteht zwischen Angreifer und Verteidiger ein enges soziales Näheverhältnis führt dies mithin nicht dazu, dass eine Verteidigung gar nicht zulässig ist, vielmehr hat der Verteidiger nach Möglichkeit dem Angriff auszuweichen oder nur Schutzwehr statt Trutzwehr zu üben. Allerdings findet sich im Schrifttum verbreitet die Auffassung, dass eine Einschränkung des Notwehrrechts bei Vorliegen eines engen sozialen Näheverhältnisses nicht anzuerkennen sei, da ansonsten die nicht hinnehmbare Situation entstünde, dass sich ein Ehegatte nicht angemessen gegen die Misshandlungen durch den anderen Ehegatten verteidigen könnte.[272]

d) Art. 2 Abs. 1 S. 2, 2a EMRK

250Verstärkt diskutiert wird in der jüngeren Vergangenheit, ob sich eine Einschränkung des Notwehrrechts aus den in Art. 2EMRK normierten Ausprägungen des Rechts auf Leben ergibt.[273] Gemäß Abs. 1 S. 2 der Vorschrift ist die absichtliche Tötung eines Menschen verboten, soweit nicht einer der in Abs. 2 normierten Ausnahmetatbestände eingreift. Da nach Art. 2 Abs. 2a EMRK die Tötung eines Menschen zwar zulässig ist, wenn sie erfolgt, um eine Person gegen rechtswidrige Gewalt zu verteidigen, nicht aber, wenn sie dem Erhalt von Sachwerten dient, wird teilweise geschlussfolgert, dass die Tötung eines Menschen nach § 32 StGB immer nur gerechtfertigt sei, wenn sie erfolgt, um den Angegriffenen vor einer Gewaltanwendung zu schützen. Nach dieser Ansicht stellt der Einsatz tödlich wirkender Gewalt zum Schutz der Rechtsgüter Eigentum, Besitz und Gewahrsam niemals eine zulässige Ausübung des Notwehrrechts dar.[274]

251Die soeben skizzierte Auffassung ist insbesondere im Hinblick auf die Rechtsnatur der EMRK kritisch zu beurteilen. Da es sich bei dieser um einen völkerrechtlichen Vertrag handelt, der allein die Vertragsparteien bindet und Art. 1EMRK ausdrücklich darauf hinweist, dass die in der Konvention enthaltenen Grundfreiheiten allein die Konventionsstaaten verpflichten, schränkt |91|auch Art. 2EMRK nur das Notwehr- bzw. Nothilferecht des Staates ein.[275] Selbst wenn man davon ausgeht, dass sich Art. 2EMRK nach dem Gedanken der mittelbaren Drittwirkung auch an Privatpersonen richtet,[276] stünde im Übrigen nicht unmittelbar fest, dass der Einsatz tödlich wirkender Waffengewalt zur Verteidigung von Sachwerten stets als unzulässig anzusehen ist. Zunächst ist zu bezweifeln, ob diese Sichtweise mit Art. 103 Abs. 2GG zu vereinbaren ist, da sie zu einer Einschränkung des § 32 StGB führt, die sich dessen Wortlaut nicht entnehmen lässt.[277] Darüber hinaus verbietet Art. 2 Abs. 1EMRK nur absichtliche Tötungen, so dass die Tötung eines Menschen zur Verteidigung von Sachwerten zumindest dann nicht ausgeschlossen wäre, wenn der sich Verteidigende lediglich mit dolus eventualis hinsichtlich des Todeseintritts handelt.[278]

e) Notwehrprovokation

252Einschränkungen des Notwehrrechts kommen in Betracht, wenn der Angegriffene die Notwehrlage selbst herbeigeführt bzw. an deren Entstehung mitgewirkt hat. In Abhängigkeit davon, inwieweit der Angegriffene die Notwehrsituation bewusst und vorwerfbar verursacht hat, werden unter dem Stichwort der Notwehrprovokation drei Konstellationen unterschieden: Die Absichtsprovokation, die unvorsätzlich-schuldhafte Provokation sowie die Abwehrprovokation.

aa) Absichtsprovokation

253Eine Absichtsprovokation begeht, „wer zielstrebig einen Angriff herausfordert, um den Gegner unter dem Deckmantel einer äußerlich gegebenen Notwehrlage an seinen Rechtsgütern zu verletzen“[279]. Besonders häufig begegnet die Absichtsprovokation dergestalt, dass eine Person eine andere beleidigt, da sie davon ausgeht, der Beleidigte werde hierauf tätlich angreifen, mit der Folge, dass gegen diesen Angriff eine (vermeintlich über § 32 StGB gerechtfertigte) Verteidigung ausgeübt werden kann. In dieser Konstellation geht es dem Provokateur also gerade darum, den Provozierten zum Angriff zu reizen, um ihn dann im Rahmen der Verteidigungshandlung verletzen zu können.

254Eine vereinzelt in der Literatur vertretene Ansicht geht davon aus, dass in jeglichen Fällen der Notwehrprovokation und damit auch bei der Absichtsprovokation keine Einschränkung des Notwehrrechts anzunehmen sei.[280] Dies |92|wird damit begründet, dass die Rechtsordnung auch von einem Provozierten erwartet, dass er sich rechtstreu verhält. Wer sich durch das Verhalten eines anderen provozieren lässt und zum Angriff übergeht, sei nicht schutzwürdig, so dass sich der Absichtsprovokateur wie gewöhnlich innerhalb der Grenzen des § 32 StGB verteidigen dürfe. Bei genauer Betrachtung der Absichtsprovokationsfälle kann diese Ansicht jedoch nicht überzeugen und wird daher zu recht überwiegend abgelehnt. Dass sich auch derjenige, der sich zu einem Angriff provozieren lässt, nicht rechtmäßig verhält, steht außer Frage und kommt schon dadurch zur Geltung, dass er sich regelmäßig selbst strafbar macht.[281] Dies kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die absichtliche Herbeiführung einer Notwehrlage zwecks Ermöglichung einer ansonsten unzulässigen Rechtsgutsverletzung, grob rechtsmissbräuchlich ist und sich so auf die Notwehrbefugnisse des Provokateurs auswirken muss.

255Mehrheitlich wird dem Angegriffenen in Fällen der Absichtsprovokation in der Regel gar kein Notwehrrecht zugesprochen. Während einige Autoren davon ausgehen, dass der Angriff des Provozierten schon nicht rechtswidrig erfolgt, weil der Provokateur in diesen eingewilligt habe,[282] wollen andere die subjektiven Rechtfertigungsvoraussetzungen verneinen, da es dem Provokateur gar nicht darum gehe, sich zu verteidigen, sondern er selbst angreifen wolle[283]. Am überzeugendsten erscheint indes die von der herrschenden Literatur und Rechtsprechung vorgenommene Verortung der Problematik im Bereich der Gebotenheit: Im Hinblick auf das der Notwehr zugrundeliegende Rechtsbewährungsprinzip ist die Verteidigung des Absichtsprovokateurs als rechtsmissbräuchlich und daher als nicht geboten zu betrachten.[284]

256Ebenfalls zur Strafbarkeit des Absichtsprovokateurs gelangt eine in der Literatur teilweise vertretene Auffassung, nach der sämtliche Konstellationen der Notwehrprovokation über die sogenannte actio illicita in causa („Handlung, die im Ursprung unerlaubt ist“) zu lösen sein sollen.[285] Diese beruht auf dem Gedanken, dass der Provokateur zwar im Zeitpunkt der Verteidigungshandlung gerechtfertigt sei, dass als Anknüpfungspunkt für seine Strafbarkeit aber auf die Provokationshandlung abgestellt werden könne.[286] Da der Täter in Fällen der Absichtsprovokation bereits im Zeitpunkt der Provokationshandlung vorsätzlich hinsichtlich der Verwirklichung des gesetzlichen Tatbestandes handelt, stelle schon die Provokation das unmittelbare Ansetzen zur Deliktsverwirklichung dar[287] (zur Kritik an dieser Auffassung sogleich Rn. 261).

257|93|Nach denselben Kriterien wie die Absichtsprovokation ist schließlich die Vorsatzprovokation zu behandeln. Diese ist gegeben, wenn der Angegriffene erkennt, dass sein Verhalten einen Angriff auslöst und er dies billigend in Kauf nimmt.[288] Der Grundgedanke ist, dass hierbei der Angegriffene die überwiegende Verantwortung für die Notwehrsituation trägt. Daraus aber ergibt sich zugleich, dass Absichts- und Vorsatzprovokation dem Betroffenen das Notwehrrecht nicht vollständig und nicht zeitlich unbegrenzt nehmen. Die Beschränkung endet, wenn der Provokateur seine Provokation aufgegeben hat und sein defensives Verhalten nachhaltig ohne Wirkung bleibt.[289]

bb) Unvorsätzlich-schuldhafte Provokation

258Eine unvorsätzlich-schuldhafte Provokation liegt vor, wenn der Angriff auf ein Vorverhalten des Angegriffenen zurückzuführen ist, dieser bzgl. der Herbeiführung der Notwehrlage aber nicht vorsätzlich gehandelt hat. Ist das Vorverhalten des Angegriffenen sozialethisch nicht zu missbilligen, führt es unbestritten nicht zu einer Einschränkung des Notwehrrechts. Kann bspw. ein Darlehensnehmer die Darlehensraten nicht fristgerecht zurückzahlen und wird er daher vom Darlehensgeber tätlich angegriffen, darf er in den üblichen Grenzen des § 32 StGB Notwehr ausüben.[290] Ebenso ist eine Einschränkung der Notwehrbefugnis in der Regel nicht anzunehmen, wenn das provozierende Verhalten eine adäquate Reaktion auf eine vorangegangene Provokation des späteren Angreifers darstellt (sog. provozierte Provokation).[291] Ist das Vorverhalten demgegenüber sozialethisch zu missbilligen, führt dies zu einer abgestuften Einschränkung des Notwehrrechts:[292] Soweit möglich, muss der Angegriffene dem Angriff ausweichen oder Hilfe Dritter herbeirufen (1. Stufe). Bei fehlender Fluchtmöglichkeit muss sich der Angegriffene auf Schutzwehr beschränken, selbst wenn er dabei geringe Beeinträchtigungen und Verletzungen hinnehmen muss (2. Stufe). Erst wenn dies keine Aussicht auf Beendigung des Angriffs bietet, darf er zur Trutzwehr übergehen, die zu Verletzungen des Angreifers führt (3. Stufe). Nach Auffassung des BGH sind hierbei an den Angegriffenen „umso höhere Anforderungen im Hinblick auf die Vermeidung gefährlicher Konstellationen gestellt, je schwerer die rechtswidrige und vorwerfbare Provokation der Notwehrlage wiegt.“[293]

 

259Verdeutlichen lassen sich die Auswirkungen der unvorsätzlich-schuldhaften Notwehrprovokation am sog. Finnendolch-Fall des BGH:[294] A streifte beim Ausparken eines von ihm gestohlenen Kraftwagens einen geparkten PKW und stieß mit einem vorbeifahrenden weiteren Wagen zusammen. Um sich der |94|Feststellung seiner Personalien zu entziehen, fuhr er davon. Er wurde von O, dem Fahrer des zweiten von ihm beschädigten Wagens, verfolgt. O setzte seine Verfolgung auch noch fort, als A hinter einem durch Rotlicht gestoppten anderen PKW anhalten musste und zu Fuß weiterflüchtete. Nachdem er ihm zugerufen hatte, dass er ihn umbringen werde, gelang es O den A zu stellen und auf ihn einzuschlagen. Bei der folgenden Auseinandersetzung stach A mit einem Finnendolch auf O ein und verletzte ihn tödlich. – Da O infolge des Vorverhaltens des A lediglich befugt war, den A zu stellen und festzunehmen, stellen seine Schläge einen gegenwärtigen und rechtswidrigen Angriff dar. Zwar hat A diesen provoziert, jedoch führt dies nicht zur Aufhebung des Notwehrrechts, sondern lediglich zu einer Abstufung des zulässigen Verteidigungshandelns. Soweit es A nicht möglich war zu fliehen und auch die Androhung des Zustechens nicht zur Folge gehabt hätte, dass O von weiterem Zuschlagen absieht, durfte A auch zur (im konkreten Fall lebensbedrohlichen) Trutzwehr übergehen.[295]

260Auch diejenigen Autoren, welche die Notwehrprovokationsfälle über die Rechtsfigur der actio illicita in causa lösen wollen, sprechen dem unvorsätzlich-schuldhaften Provokateur hinsichtlich der Verteidigungshandlung ein Notwehrrecht zu, gehen jedoch wiederum davon aus, dass bereits die Provokationshandlung eine Strafbarkeit begründen kann.[296] Soweit für den Provokateur bei Vornahme des sozialethisch zu missbilligenden Vorverhaltens vorhersehbar war, dass es zu einem Angriff und der jeweiligen Verteidigungshandlung kommen könnte, sei eine Fahrlässigkeitsstrafbarkeit in Betracht zu ziehen.[297] Danach hätte sich A im Finnendolch-Fall nach § 222 StGB strafbar gemacht, wenn er in dem Moment, in dem er auf dem Parkplatz mit den beiden PKWs zusammenstieß, hätte vorhersehen können, dass O ihn verfolgt und es zu einer tödlich endenden Auseinandersetzung kommt. Auch der BGH stützte in einer viel beachteten Entscheidung aus dem Jahr 2001 eine Strafbarkeit aus § 222 StGB auf ein vorwerfbares Vorverhalten des Angegriffenen, dessen Tatbestandsverwirklichung des § 212 Abs. 1 StGB nach § 32 StGB gerechtfertigt war.[298] Allerdings begründete er dies nicht mit der Rechtsfigur der actio illicita in causa, sondern stellte schlicht darauf ab, dass bei fahrlässigen Erfolgsdelikten grundsätzlich jedes sorgfaltspflichtwidrige und für den Erfolgseintritt kausale Verhalten als tatbestandsmäßige Handlung in Betracht käme.[299]

261Im Ergebnis vermögen sowohl die Lösung sämtlicher Notwehrprovokationsfälle über die Figur der actio illicita in causa als auch die vereinzelt vom BGH vorgenommene Vorverlagerung der Strafbarkeitsbegründung nicht zu überzeugen. Gegen die Annahme einer actio illicita in causa spricht zunächst, |95|dass sie die Garantiefunktion des gesetzlichen Tatbestandes (hierzu Rn. 21ff.) verletzt.[300] Besteht das provozierende Verhalten in einer Beleidigung und führt diese dazu, dass der Provokateur den durch die Beleidigung Provozierten und zum Angriff Übergehenden tötet, verstieße es gegen Art. 103 Abs. 2GG, in der Beleidigung eine tatbestandsmäßige Verwirklichung von § 212 Abs. 1 StGB bzw. von § 222 StGB zu erblicken.[301] Ferner ist einzuwenden, dass auch ein provozierter Angriff auf einer freiverantwortlichen Entscheidung des Provozierten beruht und daher auch die Folgen der hervorgerufenen Verteidigung in erster Linie auf den Angriff, nicht aber auf das provozierende Vorverhalten zurückzuführen sind.[302] Dieser Aspekt führt zugleich dazu, dass auch die Einschätzung des BGH abzulehnen ist. Zwar trifft es zu, dass eine Fahrlässigkeitsstrafbarkeit nicht allein durch dasjenige Verhalten begründet werden kann, welches unmittelbar den tatbestandlichen Erfolg herbeiführt. Jedoch stellt die Vornahme eines rechtswidrigen Angriffs selbst dann eine eigenverantwortliche Selbstgefährdung dar, wenn sie von einem Provozierten vorgenommen wird, so dass die durch die Verteidigung hervorgerufenen Verletzungen nicht objektiv zurechenbar auf das provozierende Verhalten zurückgeführt werden können.[303] Somit kann in den Fällen der Notwehrprovokation eine Strafbarkeit nicht unter Anknüpfung an das Vorverhalten begründet werden, vielmehr ist allein die Verteidigungshandlung zu bewerten und hierbei der Frage nachzugehen, ob die Provokation zu einer Einschränkung des Notwehrrechts führt.

cc) Abwehrprovokation

262Keine Einschränkung des Notwehrrechts ergibt sich nach zutreffender Ansicht zuletzt in der Fallgruppe der sog. Abwehrprovokation. Davon spricht man, wenn der Angegriffene Verteidigungsmittel benutzt, die zwar in der konkreten Notwehrlage erforderlich sind, mit denen er sich aber zuvor in Erwartung der Notwehrsituation bewaffnet hat.[304] So liegt es bspw., wenn A mit einem nächtlichen Überfall durch B rechnet und daher eine geladene Schusswaffe auf den Nachttisch neben seinem Bett legt, um sich erfolgreich gegen den körperlich überlegenen B wehren zu können. Entscheidend für die Verantwortung in der Notwehrlage ist nicht diese „Aufrüstung“, selbst wenn dem Angegriffenen zuvor weniger einschneidende Mittel zur Verfügung gestanden hätten. Es kommt auf das Handeln in der konkreten Notwehrsituation selbst an. Daher ist die Notwehr nach Abwehrprovokation nicht rechtsmissbräuchlich. Hält A im Beispielsfall die Stufen beim Einsatz lebensgefährlicher Verteidigungsmittel ein, ist er durch Notwehr gerechtfertigt. Zu einem anderen Ergebnis kommen |96|wiederum diejenigen Autoren, die für eine Lösung der Notwehrprovokationsfälle über die actio illicita in causa eintreten,[305] was jedoch aus den soeben genannten Gründen abzulehnen ist.

f) Erpressungsfälle

263Die sog. Schweigegelderpressungsfälle (Chantage)[306] erfassen Konstellationen, in denen eine Person einer anderen damit droht, kompromittierende Tatsachen zu veröffentlichen oder begangene Straftaten anzuzeigen, wenn der Erpresste nicht eine bestimmte Geldsumme zahlt. Um der Zwangslage zu entgehen, behilft sich der Erpresste mit Gegenmaßnahmen wie Diebstahl der Unterlagen, Körperverletzung oder der Tötung des Erpressers. Eine Rechtfertigung nach § 32 Abs. 1 StGB kann in diesen Konstellationen schon daran scheitern, dass die jeweilige Tat nicht als erforderliche Verteidigung anzusehen ist. Zwar dient sie der Verteidigung der Willensfreiheit, des Vermögens sowie des persönlichen Ansehens des Erpressungsopfers, jedoch verbleibt diesem zumindest die Möglichkeit, staatliche Stellen nach Hilfe zu ersuchen. Die Erforderlichkeit kann dann nur noch bejaht werden, wenn man davon ausgeht, dass die Hinzuziehung der Polizei zu einem Bekanntwerden der kompromittierenden Tatsachen führen würde und daher kein geeignetes Mittel zur Beendigung des gegenwärtigen Angriffs darstellt.

264Bejaht man die Erforderlichkeit der einer Erpressung nachfolgenden Tat, wird man aber zumindest auf der Ebene der Gebotenheit eine Einschränkung der Notwehrbefugnis anerkennen müssen.[307] Die Tötung sowie schwere Verletzungen des Erpressers können nicht über § 32 Abs. 1 StGB gerechtfertigt werden. Erlaubt sind allenfalls Gegenmaßnahmen bis zum mittelschweren Kriminalitätsbereich, welche zur Beschaffung der für die Erpressung verwendeten Materialien dienen. Dazu gehören etwa die §§ 123, 201, 240, 242, 303 StGB.

g) Leitentscheidungen

265BGHSt 3, 217, 218; Angriff Schuldunfähiger: Der Angeklagte wurde wegen fahrlässiger Tötung verurteilt, da er das Opfer bei einer körperlichen Auseinandersetzung so unglücklich zu Fall brachte, dass dieses sich tödlich am Kopf verletzte. Der körperlichen war eine verbale Auseinandersetzung vorausgegangen, in welcher das Opfer den Angeklagten in stark angetrunkenen Zustand ehrverletzend beschimpfte. – Zur Möglichkeit einer Notwehr gegen die Beschimpfung führte der BGH aus, dass der Angeklagte den Zustand des Opfers, vor allem dessen nachlassende Erkenntnisfähigkeit, kannte und somit die Art und das Maß der erforderlichen Abwehr überschritten worden sei. Aufgrund der Geringwertigkeit des Angriffs hätte sich der Angeklagte auf eine |97|Erwiderung mit Worten beschränken müssen. Eine tätliche Abwehr war daher nicht nach § 32 Abs. 1 StGB gerechtfertigt.

266BGHSt 26, 256, 257; Abgestufte Verteidigung bei Notwehrprovokation: Ein Abendspaziergänger beobachtet, wie ein Jugendlicher ein Mädchen gewaltsam über die Straße zerrt. Der Spaziergänger fasst den Jugendlichen am Arm und fordert ihn auf, das Mädchen loszulassen, woraufhin der Jugendliche ihn auf die Straße schubst. Während der Jugendliche weitergeht, springt der Spaziergänger auf und schlägt auf den Jugendlichen ein. Nachdem sich dieser über eine Strecke von 15 Metern verteidigt und den Spaziergänger zum Aufhören aufgefordert hat, versetzt er diesem einen tödlichen Schlag. – Der Jugendliche ist hinsichtlich des tödlichen Schlages nach § 32 Abs. 1 StGB gerechtfertigt. Zwar hat er den Angriff des Spaziergängers provoziert, jedoch dauert die hierdurch bedingte Einschränkung des Notwehrrechts nicht unbegrenzt an. Nachdem er sich über längere Zeit erfolglos auf Schutzwehr beschränkt hatte, durfte der Jugendliche daher zur Trutzwehr übergehen.

267BGHSt 42, 97, 100ff.; Abgestufte Verteidigung bei Notwehrprovokation: Ein Bahnfahrer fühlt sich von einem Jugendlichen gestört und öffnet ein Fenster, um den Jugendlichen durch die Fahrtluft aus dem Abteil zu vertreiben. Der Jugendliche schließt das Fenster. Nach zweimaliger Wiederholung dieses Vorgangs zieht der Bahnfahrer ein Messer, um zu verdeutlichen, dass er sich damit notfalls verteidigen würde. Als er das Fenster ein viertes Mal öffnet, stürzt sich der Jugendliche gleichwohl auf ihn. Im Verlauf der Auseinandersetzung sticht der Fahrer mit dem Messer in den Oberkörper des Jugendlichen, der an den dadurch hervorgerufenen Verletzungen verstirbt. – Der Stich mit dem Messer ist nicht nach § 32 Abs. 1 StGB gerechtfertigt. Der Fahrer hat durch sein sozialethisch zu missbilligendes Verhalten den Angriff des Jugendlichen provoziert. Aufgrund der daher gebotenen Zurückhaltung bei der Ausübung des Notwehrrechts hätte der Bahnfahrer keine lebensbedrohlichen Handlungen vornehmen dürfen, zumal er nicht mit einem Angriff auf sein Leben konfrontiert war und andere Passagiere hätte um Hilfe bitten können.

268BGHSt 48, 207ff.; Erpresserfälle: Der Angeklagte wurde von einem Bekannten zeitweise zur Zahlung von Geldbeträgen im Gesamtwert von 6000 € erpresst. Der Bekannte hätte den Angeklagten im Fall der Nichtzahlung bei der Polizei wegen der Herstellung von Raubkopien angezeigt. Eines Abends sucht der Bekannte den Angeklagten bei ihm zu Hause auf und fordert von dem Angeklagten 5000 €, da er ansonsten zur Polizei gehen würde. Als der Angeklagte nicht zahlen will, droht der Bekannte mit der Zerstörung von Einrichtungsgegenständen. Daraufhin übergibt der Angeklagte dem Bekannten 5000 € in bar. Anschließend tritt er hinter den Bekannten und schneidet ihm ohne Vorwarnung mit einem Küchenmesser die Kehle durch, woraufhin der Bekannte verstirbt. – Die Drohungen des Bekannten begründen einen andauernden Angriff auf die Willensfreiheit des Angeklagten, so dass diesem prinzipiell das Notwehrrecht zusteht. Jedoch stellt die Tötung keine gebotene Verteidigungshandlung dar, da es dem Angeklagten möglich gewesen wäre, staatliche Hilfe |98|einzuholen. Weder das individuelle Schutzinteresse des Angeklagten noch das allgemeine Rechtsbewährungsinteresse tragen in dieser Situation die von ihm ergriffene Verteidigungshandlung.

269BGH StraFo 2010, 499, 500; Voraussetzungen der Notwehrprovokation: Zwei Jugendliche leben seit längerer Zeit in andauerndem Streit. Eines abends fordert der eine den anderen auf, sofort zu ihm zu kommen, was der Aufgeforderte zutreffend als Ankündigung von Schlägen durch den als Intensivtäter bekannten älteren Bruder des anderen Jugendlichen versteht. Er bittet daher seinen Vater mitzukommen. Der Vater erklärt sich bereit, weil er die Sache (gewaltlos) klären möchte. Er hält jedoch auch eine körperliche Auseinandersetzung für möglich. Mit seinem Sohn und zwei Freunden sucht der Vater, der (wie des Öfteren) ein Butterflymesser bei sich führt, die Gaststätte auf, in der sich der Bruder des anderen Jugendlichen befindet. Der Bruder erscheint mit einem Holzknüppel und in Begleitung acht weiterer Personen. Nach einem kurzen heftigen Wortwechsel schlägt er mit dem Knüppel auf den Arm des Vaters. Als er erneut ausholt und auf den Kopfbereich des Vaters zielt, sticht dieser mit dem Butterflymesser von hinten in den Oberkörper des Bruders, was zu einer lebensbedrohlichen, aber nicht tödlich verlaufenden Verletzung führt. – Das dem Vater gegen den Angriff des Bruders zustehende Notwehrrecht ist nicht unter dem Gesichtspunkt einer Notwehrprovokation eingeschränkt. Eine Notwehrprovokation setzt zumindest ein sozialethisch zu missbilligendes Vorverhalten voraus. Infolge der langdauernden Auseinandersetzungen der beiden Jugendlichen musste der Vater es nicht dem Zufall überlassen, ob der Bruder des einen Jugendlichen auf seinen Sohn treffen und diesen körperlich misshandeln würde. Vielmehr durfte er diesen zur Rede stellen, um sich um eine gewaltlose Klärung der Auseinandersetzung zu bemühen, auch wenn er selbst einen gewaltsamen Verlauf des Geschehens für möglich hielt. Mangels sozialethisch zu missbilligendem Vorverhaltens liegt daher keine Notwehrprovokation vor.

 
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