Auf der Suche nach dem verlorenen Paradies

Text
Read preview
Mark as finished
How to read the book after purchase
Auf der Suche nach dem verlorenen Paradies
Font:Smaller АаLarger Aa

Klaus Heitmann

Auf der Suche nach dem verlorenen Paradies

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Für Amadea, Raphaela und Sebastian

Singapur 20.3.1985

21.3. 1985

22.3.1985

23.3.1985

24.3.1985

25.3.1985

26.3.1985

27.3.1985

28.3.1985

29.3.1985

30.3.1985

31.3.1985

1.4.1985

2.4.1985

3.4.1985

4.4.1985

Hinweis auf weitere Werke des Autors

Impressum neobooks

Für Amadea, Raphaela und Sebastian

Sekolah Kebandgsaan steht auf dem Heft, das ich in Malaysia gekauft habe, um die Erlebnisse unserer gemeinsamen Reise durch dieses ferne Land festzuhalten. Es ist ein Schulbuch. Schulbücher enthalten das, was Ihr nach dem Willen der Schule über die Welt und das Leben lernen sollt. Aber das Erleben der Welt ist auch selbst eine Schule. Daher ist auch ein Buch über die eigenen Erlebnisse so etwas wie ein Schulbuch. Vieles von dem, was man in der Schule gelernt hat, wird wieder vergessen. Schulbücher sollen daran erinnern, was man einmal gelernt hat. Damit Ihr Euch an diese Reise, die durch viele und merkwürdige Welten ging, erinnert, habe ich dieses Schulbuch geschrieben.

Singapur 20.3.1985

Was tun? Wir haben uns in Singapur getroffen. Judi und die Kinder sind aus Australien gekommen, ich selbst aus Europa. Aber der Plan, gemeinsam nach Bali zu fahren, hat sich zerschlagen. Die Flugreise für fünf Personen sprengt entgegen den Erwartungen das Familienbudget. Jetzt lässt die geographische Lage Singapurs am Ende einer zweitausend Kilometer langen Halbinsel nur noch eine Möglichkeit - nach Norden zu reisen. Also Malaysia. Es gibt nicht viel zu überlegen. Das schwere Gepäck bleibt in unserem chinesischen Hotel in der Altstadt von Singapur. Jeder bekommt einen kleinen Rucksack. Noch einmal Duschen mit Hilfe von Blechbüchsen im Hotel, Essen in dem kleinen Restaurant, das sich in seinem Untergeschoß befindet. Wo fährt der Bus nach Malaysia ab? Gleich um die Ecke! Dann also los: Familie mit kleinen Kindern, 6, 7 und 9 Jahre alt, auf Entdeckungsreise in Südostasien, kein Plan, kein Ziel.

Wir wissen nichts über Malaysia. Erste Hinweise gibt es an der Grenze. Zwei freundliche junge Männer in einer winzigen Holzhütte, die offenbar das Tourist Office sein soll, empfehlen nach einem Blick auf unser spärliches Gepäck Tioman - also auf nach Tioman. Es soll eine Insel im südchinesischen Meer sein.

Der Bus endet gleich nach der Grenze. Taxifahrer und Geldwechsler umlagern uns. Aber man muß die ersten Angebote abwehren. Wir laufen den kurzen Weg zum Grenzort Jahor-Baharu. Gut warm ist es. Eine Dusche wäre fällig. Obwohl es erst früher Nachmittag ist, fährt der nächste Bus, wie sich an der Busstation herausstellt, nicht vor dem nächsten Morgen. Das ist nicht mehr die brodelnde Millionenstadt Singapur. Die Dinge gehen hier einen gemächlicheren Gang.

Die Vorstellung, den restlichen Tag und die Nacht in J-B, wie die Einheimischen sagen, zu verbringen, einem Grenzkaff ein paar Kilometer von Singapur, klingt nicht gerade nach Abenteuer. Also treten wir dem Gedanken näher, ein Taxi nach Mersing, das immerhin 200 Kilometer entfernt ist, zu nehmen. Die Entscheidung wird uns dadurch erleichtert, dass es jetzt nur noch die Hälfte von dem kostet, was 500 Meter weiter, an der Grenze, verlangt wurde (40 statt 80 DM).

Ein freundlicher Inder fährt uns durch endlose Plantagenlandschaften - Ölpalmen und Gummibäume in langen Reihen, immer im gleichen Abstand. Dann folgen vielversprechende Dschungelgebiete, Berge, auf denen Riesenbäume in den Himmel ragen, wodurch die dichtbewachsenen Kämme merkwürdig licht erscheinen. Einmal hält der Inder an, zum Kauf von Melonen und Kokusnüssen.

Unser Fahrer erzählt von seiner Familie und seinem Leben in Malaysia. Vor zwanzig Jahren ist er als junger Mann aus Indien eingewandert, um eine Inderin aus der gleichen Kaste zu heiraten. Dass er Indien verlassen habe, sei die beste Entscheidung seines Lebens gewesen, meint er. Gott froh sei er, diesem armen, überfüllten Land mit all seinem Elend, den einschnürenden Lebensregeln und seinem unberechenbaren Klima entkommen zu sein. In Malaysia habe er ein ausreichendes Einkommen, besitze ein eigenes Haus in Mersing und könne der Zukunft seiner drei Kinder mit großer Hoffnung entgegensehen. Malaysia sei überhaupt in allem das Gegenteil von Indien, wohlhabend, dünn besiedelt, reich an Bodenschätzen; es gebe Wasser im Überfluss und die Menschen könnten sich freier bewegen.

Unter diesen Lobpreisungen erreichen wir nach dreistündiger Fahrt Mersing. Unser Fahrer sucht uns sogar noch das Hotel. Was er uns zuerst ein Stück außerhalb der Stadt am Meer anbietet, ist zauberhaft, sieht aber nicht nach unserem Geldbeutel aus. Wir sind froh, dass kein Zimmer frei ist. Dann findet er uns ein kleines Hotel in der Stadt, das von einer chinesischen Familie be-trieben wird. Das Zimmer ist Teil der Wohnung, vor unserem Einzug haben darin noch die Kinder der Wirtsfamilie gespielt. Jetzt werfen sie den blonden Neuankömmlingen neugierige Blicke nach.

Wir brechen zur Stadtbesichtigung auf. Mersing ist ein freundliches Provinznest mit einer Moschee, einem indischen und einem chinesischen Tempel und allen sonstigen Einrichtungen, die für die drei Hauptreligionen dieses Landes erforderlich sind. Wir machen einen nächtlichen Spaziergang zum Bootshafen, der sich in der Flussmündung befindet, und hören uns um nach Travellers-Informationen für die Reise nach Tioman. Nach dem Essen in einem Restaurant, das reichlich zu scharf geraten war, gehen die Kinder ins Bett; die Erwachsenen nach einem weiteren Bummel durch die schon ausgestorbene Stadt. Morgen werden wir endgültig festes Land verlassen.

21.3. 1985

Provianteinkauf - es soll kein Obst auf Tioman geben - Bankgeschäfte etc. Dann geht es zum Hafen, wo großer Betrieb herrscht. Viele Holzboote liegen am Pier, aber auch ein „größeres“ Schiff, das vergleichsweise modern anmutet. Wir folgen den Travellers, die darin verschwinden. Die Überraschung liegt dahinter - eine kleine Holzschaluppe für uns, gerade groß genug, um zehn bis fünfzehn Leute aufzunehmen, die dazu noch auf dem Boden sitzen müssen. Tioman hat offenbar zwei Gesichter: Das größere Schiff fährt zum Luxushotel Merlin, die Travellers zu einen nicht näher benannten Strand mit dem Seelenverkäufer, der weit mehr als die doppelte Zeit braucht.

Die Fahrt geht durch den langen Flusshafen, dann vorbei an zahlreichen Inselchen vor der Küste, die mit Palmen bestanden und von kleinen weißen Strandbuchten umsäumt sind. Einsiedler- oder Paradiesträume kann man aber kaum pflegen. Die Inseln sind wohl zu klein, um Trinkwasser zu haben. Dann das offene Meer. Weit und breit ist kein Reiseziel zu erkennen. Erst nach längerer Zeit tauchen in der Ferne spitze, jähe Felsen auf - Tioman. Doch der Weg dahin ist erst noch durchzustehen. Die kleine Schaluppe schaukelt hilflos in den wachsenden Wellen. Brecher gehen über die Bordwand, bald auch mancher Mageninhalt. Auch mich hat es erwischt. Wellen und die Abgase des Schiffsmotors, die ohne Auspuff seitlich aus dem Schiff geführt werden, sind schließlich zuviel. Dann döst man stundenlang, auf verquere Weise zwischen allerhand Beinen und Gepäck auf dem Boden hingestreckt. Wann sind wir endlich in Tioman?

Die Kinder turnen indessen unbeeindruckt auf dem wackeligen Boot herum. Eigentlich sollte man besser auf sie aufpassen. Aber bei einigen Wellen hat man genug damit zu tun, sich selbst festzuhalten. Die Kinder unterhalten derweil einige weniger von der Seekrankheit befallene Mitreisende. Im Windschatten von Tioman beruhigt sich das Meer schließlich und es gibt etwas Erleichterung.

Das Boot tuckert noch eine ganze Weile an der Insel entlang. Vor uns breitet sich ein prächtiges Panorama aus: Strände mit Kokuspalmen, dahinter steil aufsteigend Berge mit dichtem Urwald, eine tiefgrüne Wand, aus der die weißen Stämme der Baumriesen herausblinken; über allem anfangs noch steile Felsen - hunderte von Metern hoch.

 

Nach über viereinhalb Stunden endlich Ankunft. Das Boot fährt in eine Bucht. Es gibt keinen Landesteg, man läuft direkt auf den Strand auf. Wir klettern über die Bordwand und waten mit erhobenem Gepäck durch das Wasser zum Ufer. Dort liegen bereits einige Travellers und pflegen der Muße auf dem Strand; es ist sehr einladend hier.

Kein Problem ist es, Unterkunft zu finden. Nazir, der Herr dieses Strandes mit offensichtlich gutem Draht zum Bootskapitän, erwartet uns bereits und bietet kleine A-förmige Hütten mit Palmdach unter Palmen an. Sie bestehen aus einem Raum, haben weder Wasser noch Möbel und natürlich keinen Strom. Wir nehmen zwei Hütten, keine zwanzig Meter vom Strand zum Preis von je 5 DM pro Nacht. Der Blick aus der „Tür“ geht auf das Meer und auf die weiter draußen liegenden Inseln.

Während die Kinder baden, gibt es reichlich Gelegenheit, sich von der strapaziösen Schiffsreise auszuruhen. Es herrscht totale Ruhe. Auf der Insel gibt es keine Autos. Die Bucht ist etwa einen Kilometer breit und nur wenige hundert Meter tief. An ihren beiden Enden türmen sich schwarze Felsquader und riegeln sie von den Nachbarbuchten ab. Kein Bedarf also für Fahrzeuge, man geht zu Fuß. Ein paar dutzend Malayen, die hauptsächlich von der Bewirtung der Travellers leben, wohnen hier in ihren Kampongs. Treffpunkt der Travelers ist Nazir’s Restaurant, das eine kleine Palette einfacher Mahlzeiten und – allerdings nur bis gegen Mittag - kühle Getränke bietet. Unser Strand wird nach dem touristischen Allroundunternehmer, der ihn beherrscht, Nazir’s Beach genannt.

Gegen Abend gehen wir mit einigen jungen Deutschen in die Hauptbucht, wo sich Tekek befindet, mit wenigen hundert Einwohnern der Hauptort der Insel. Der Weg dauert etwa vierzig Minuten. Hier fahren gelegentlich Mopeds auf den schmalen Wegen. In einem bunt beleuchteten Restaurant verspeisen wir einen ebenso so bunten, weil mit allerlei Früchten dekorierten Fisch von beachtlicher Größe.

Der Heimweg wird zu einer nächtlichen Expedition. Es ist vollkommen düster. Der schmale Weg, der nur mit Mühe zu erkennen ist, führt über einige ziemlich schiefe, teilweise schon halb eingesunkene Brücken. Um die Dinge nicht allzu sehr zu erleichtern, fehlen immer wieder mal ein paar Bohlen. Wir behelfen uns zur Vermeidung eines ungewollten nächtlichen Bades in den sicherlich erfrischenden Dschungelbächen mit einer dürftigen Taschenlampe, die einer unser deutschen Begleiter mit sich führt, ansonsten mit Streichhölzern. Gelegentlich hilft der Schein einer Glühbirne von einem malayischen Haus. In der totalen Finsternis blendet allerdings selbst eine schwache Birne, sodass wir in unmittelbarer Nähe der Häuser überhaupt nichts mehr sehen. Die Birne wird, wie wir kurz darauf feststellen, von einem kleinen „Kraftwerk“ gespeist, das von einem Dieselmotor betrieben wird. Es arbeitet nur abends, was der Grund dafür ist, dass es auf der Insel kalte Getränke nur spät abends und morgens gibt.

Dann muss auch noch der Felsvorsprung, der „unsere“ Bucht abtrennt, überwunden werden. Im Dunkeln scheint er geradezu alpine Qualitäten aufzuweisen. Hände, Füße und Hosenboden sind gefragt.

Vielleicht war es die aufregende Rückwanderung im Dunkeln - die Kinder jedenfalls fühlen sich in der lichtlosen Strandhütte nun doch nicht recht heimisch. So nutzen wir die Möglichkeit, die uns Nazir bietet, in das „moderne“ Haus hinter dem Strand überzuwechseln, wo es, wenn das Kraftwerk in Betrieb ist, Strom und sogar einen Ventilator, dazu einen eigenen Waschraum gibt. Es ist das neueste und modernste Gebäude weit und breit. Nazir baut offenbar immer wieder mal ein Stück an, sodass ein Gebäude ähnlich den altmalayischen Langhäusern entsteht. Der Teil, den wir bewohnen, ist gerade erst fertig geworden und gibt mit seinen sauberen „Polstermöbeln“ den Kindern ein wenig das Gefühl, in geordneten Verhältnissen zu leben. Nazir setzt offensichtlich auf Wachstum. Man kann nur hoffen, dass seine unternehmerischen Ambitionen vom malayischen Phlegma begrenzt werden.

Der Ausklang des Tages findet, während die Kinder schon schlafen, am stockdunklen Strand statt. Die brechenden Wellen erzeugen weiße Bänder, die rasend schnell den Strand entlanglaufen. Dann geht es ins Bett. Der Schlaf wird gegen 1 Uhr unterbrochen, als die Temperatur in unserer modernen Behausung schlagartig ansteigt. Der Ventilator hat seine Tätigkeit einstellt, weil das Kraftwerk der Bucht abgestellt worden ist.

22.3.1985

Faulenzen am Strand. Die Kinder sind in ihrem Element. Man spricht mit Reisenden, darunter einem polnischen Offiziellen, vermutlich aus dem auswärtigen Dienst. Beim Zitronensaft in Nazir’s Restaurant stoße ich auf zwei Deutsche, die im Flugzeug nach Singapur neben mir gesessen hatten. Auch andere europäische Träume richten sich auf die ferne Tropeninsel. Man genießt die Ruhe und die Idylle.

Gegen Mittag machen wir einen Spaziergang entlang des Strandes, vorbei an malerisch verstreuten Kampongs, die zwischen allerlei blühenden Sträuchern unter Palmen stehen. Überall sehen wir freundlich lachende Gesichter.

Es herrscht eine Atmosphäre weichen Friedens. Am späten Nachmittag unternehmen wir eine etwas längere Wanderung zum anderen Ende der Bucht. Alle 100 bis 150 Meter kommt ein Bach mit silbrig klarem Wasser aus dem Dschungel, über den kleine Holzbrücken führen.

Schließlich stoßen wir auf das Paradies. Es liegt am ABC-Strand. Malerisch hintereinander gestaffelt stehen hier einige A-förmige-Hütten in einem lockeren Palmenwald. Junge Leute liegen unter großen Bäumen in Hängematten am Strand, lesen, schreiben Tagebücher oder sinnieren über die Schönheit der Welt, eine stille und ausgeruhte Stimmung. Neben der kleinen Siedlung rauscht der unvermeidliche kleine Bach. Kurz vor seinem Austritt auf den Strand füllt er die Badewanne des Paradieses. Sie besteht aus einer Vertiefung in den glatten runden Felsblöcken, die groß genug ist, dass man im kühlen, rauschenden und kristallklaren Bergwasser untertauchen kann. Dazu plätschert die Paradiesdusche hinein, deren Wasser über Bambusrohre aus dem grünen Palmengewirr des Urwaldes geführt wird. Flugs ist die ganze Familie in der Dschungelbadewanne.

Derart erfrischt geht es dann in den Dschungel. Die Bucht endet hinter dem ABC-Strand mit einem Felsvorsprung aus aufgetürmten schwarzen Quadern. Dahinter führt ein schmaler Pfad steil in den dichtesten Wald hinein. Den Kindern wird es unheimlich, zumal es ziemlich dunkel ist. Cinque schimpft und vermutet überall Schlangen und sonstiges Ungetier, insbesondere Tiger. Zur Beruhigung muss ich zu drastischen Mitteln greifen. Ich verspreche jedem, der einen Tiger sieht 1000 DM. Das überzeugt. Die Kinder wissen gleich, dass die Wahrscheinlichkeit, einen Tiger zu finden, dann nicht sehr groß sein kann. Tatsächlich gibt es nicht einmal Moskitos in diesem Wald. So sind die Kinder denn auch bald beruhigt, schaukeln in den Lianen und klettern in den riesigen Baumwurzeln herum, unter denen der Weg durchführt.

Nach einigen hundert Metern beruhigt sich der Weg und führt steil hinunter zu einer kleinen Bucht. Ein Dschungelbach hat hier einige Dutzend Meter weißen Sand aus den Bergen gespült und zwischen den Felsen einen verwunschenen Strandwinkel geschaffen. Er gehört uns ganz alleine. Wir genießen die laue Abendsonne. Die Kinder stauen den Bach und lassen das Wasser danach mit großem Hallo wieder auslaufen. Leider zwingt uns der anbrechende Abend, den zauberhaften Ort alsbald wieder zu verlassen. In den Tropen wird es sehr schnell dunkel.

Der Weg durch den Wald ist inzwischen noch dunkler geworden. Als wir am ABC-Strand ankommen, ist es finster. Hier und da wird eine Hütte mit einer Petroleumlampe beleuchtet. Wir nehmen in dem einfachen Restaurant das Abendessen ein, das wir schon auf dem Hinweg bestellt hatten, Es gibt mehrere Gänge, Fisch, Reis mit Soße, Gemüse und Ananas, all das zu Preisen, die deutlich unter denen liegen, die Nazir verlangt. Die Kinder spielen mit einem jungen Affen, den sie mit Reiskörnern füttern. Er findet Gefallen daran und versorgt sich bald selbst. Sobald man ihm den Rücken kehrt, stibitzt er sich Reis vom Teller.

Wir gesellen uns zu „alten“ Bekannten von der gemeinsam durchlittenen Schiffsfahrt. Die Travellers haben meist eine Neigung zum Philosophischen und Kulturkritischen, genug Stoff also für angeregte Gespräche. So diskutiert man bis tief in die Dunkelheit über Travellerschicksale und über Gott und die Welt.

Durch diese Dunkelheit müssen wir schließlich den Heimweg über Brücken ohne Geländer und umgestürzte Bäume antreten. Diesmal haben wir überhaupt kein Licht. Die Nacht ist mondlos. Allein das Sternenlicht lässt den Saumpfad aufscheinen, der kaum mehr als ein Fuß breit ist. Wir machen die ungewohnte Erfahrung, dass auch solches Licht den Weg weisen kann. Wie viel Helligkeit die Sterne erzeugen, merkt man daran, dass wir vollkommen im Dunkeln tappen, wenn diese Lichtquelle unter dichten Bäumen oder Sträuchern ausfällt. Da hilft nur noch, den Wegrand mit den Füßen zu ertasten.

Nachdem die Kinder im Bett sind, gehen wir ein Stück zurück zum sogenannten blauen Restaurant. Dort treffen wir Dott, eine ältere amerikanische Lady mit verwittertem Gesicht voller Vitalität und Abenteuerlust, die ich bereits am Nachmittag am Strand kennen gelernt hatte. Sie ist mit ihrem Mann, einem Architekten, seit über einem halben Jahr auf Travellersweise unterwegs und bewegt sich unter lauter jungen Leuten. Begeistert erzählt sie von ihren monatelangen Trecks im Himalaya. Bei Dott sind eine junge englische Lehrerin, die in Singapur unterrichtet und eine Chinesin, ebenfalls aus Singapur. Alle sind sehr gesprächsfreudig. So entspinnt sich bis tief in die Nacht hinein – die müden Köche haben das Restaurant längst geschlossen - eine angeregte Diskussion, die von der Wirtschaftskriminalität bis zu allerlei Reiseerlebnissen verläuft. Mir gelingt es, die Chinesin, die demnächst eine Europareise antreten will, davon zu überzeugen, dass es in Europa abgesehen von der Schweiz, wo sie allein lohnende Reiseziele vermutete, noch andere Sehenswürdigkeiten gibt. Am Schluss findet ein allgemeiner Adressentausch statt. Fiona, die englische Lehrerin, lädt uns in ihr Haus nach Singapur ein. Wir haben die feste Absicht, dieser Einladung zu folgen

23.3.1985

Früh morgens blökt eine Kuh mit großer Ausdauer in unser Fenster hinein.

Wir mieten bei Nazir Taucherbrillen und Schnorchel und entdecken eine neue Welt. Unmittelbar am Strand gibt es Korallen. Meist sind es ausgedehnte Korallenfriedhöfe. Dazwischen finden sich aber immer wieder intakte Stellen. Dort nehmen die merkwürdigen Gebilde zwischen Pflanze und Tier höchst bizarre Formen und kräftige Farben an. Alles ist übersät von leuchtenden Korallenfischen; dreißig bis vierzig Zentimeter lange sind dabei, die vollkommen durchsichtig sind, und Schwärme winziger Flimmerlinge, in die man eintauchen kann. Dazwischen ist alles, was sich eine überreiche Phantasie nur erdenken kann. Besonders beeindruckende Exemplare von Korallen finden sich hinter dem Felsvorsprung, der die Bucht abtrennt. Es sind große, einzeln stehende Knollen, auf deren Oberfläche sich Windungen von penibelster Genauigkeit befinden. Das Gehirn hat, um Oberfläche zu gewinnen, ähnliche Muster entwickelt.

Man gerät unweigerlich ins Grübeln über die Gründe für den Reichtum an Formen, den eine einzelne Gattung, ein besonderes Lebenssystem, hervorbringt. Unter Wasser scheint er sogar noch größer als darüber zu sein. Bei jeder Form fällt die Funktionalität geradezu ins Auge. Die immer gleiche Problemstellung, möglichst viel Oberfläche zu schaffen, um mit möglichst viel Kleingetier in Kontakt zu kommen, führt zu ganz unterschiedlichen, offensichtlich aber gleichwertigen Lösungen. Vielfalt und Funktionalität sind, wie sich zeigt, keine Gegensätze. Mancher moderne Architekt könnte daraus lernen.

Ein Schwarm junger Polen fällt ein, Studenten, die eine große Asienreise vor sich haben. Wir unterhalten uns eine Weile mit ihnen, die uns Hause so unendlich weit weg zu sein scheinen. Man muss weit reisen, um seine Nachbarn kennen zu lernen.

Nachmittags zieht es uns wieder in das Paradies. In der untergehenden Sonne tauchte ich am ABC-Strand lange in einem riesigen Korallengebiet, das sich entlang des Felsvorsprunges zieht. Der felsige Untergrund hat hier ein starkes Bodenrelief und dadurch eine weitläufige Unterwasserlandschaft mit tiefen Schluchten und jähen Felswänden gebildet. Anders als bei Nazir’s Strand sind die Korallen des Paradieses weitgehend unbeschädigt. Offensichtlich tut Nazir’s unternehmerisches Wachstum, das „natürlich“ vermehrte Abwässer zur Folge hat, den Korallen nicht gut. In der Dämmerung verblassen schließlich die Farben und ich muss von der schweigend-bizarren Unterwasserwelt fröstelnd Abschied nehmen. Nachträglich denke ich, dass ich mich durch die bunte Glitzerwelt vielleicht doch zu weit habe hinaus locken lassen. Tiger gibt es sicher keine auf Tioman. Aber würde mir jemand 1000 DM für jeden gesichteten Hai bieten?

 

Das Abendmenu nehmen wir wieder im Restaurant des Paradieses ein. Mit leichten Variationen entspricht es dem vom Vorabend. Zu uns setzen sich Dott und ihr Ehemann John. John ist ein später Aussteiger und Friedensbewegter. Er denkt ernsthaft darüber nach, sich wegen der atomaren Bedrohung auf der nördlichen Erdhalbkugel nach Neuseeland zu verziehen, wo er glaubt der Hölle des Ost-Westkonfliktes entkommen zu können. Wir landen im Laufe der langen Unterhaltung unweigerlich bei den allgemeinsten Fragen der Weltpolitik.

Es folgt wieder der nächtliche Marsch zu Nazri - langsam bekommen wir Übung darin, Pfade im Dunkeln aufzuspüren. Nachdem die Kinder im Bett sind, sitzen wir noch ein wenig in Nazri’s Restaurant und sprechen mit den jungen Polen, die erstaunlich weltoffen sind. Wie weit sind wir doch noch davon entfernt, so mit unseren benachbarten Landsleuten sprechen zu können.

You have finished the free preview. Would you like to read more?