Sarah oder der Wendekreis der Jungfrau

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Sarah oder der Wendekreis der Jungfrau
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für Helga Hoiss

1955 - 1992

Verlag: Epubli GmbH, Berlin

ISBN: 978-3-752996-38-8

Copyright by Klaus E. Kofler © 2020

Umschlagfoto und Gestaltung: Peter J. Gnad

Autorfoto: Didi Lipkovich

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, ohne Zustimmung des Verlages und des Autors, ist unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.


Klaus E.Kofler

geb.1949 in Klagenfurt, Österreich

Autor, Musiker, Komponist


Sarah
oder
der Wendekreis der Jungfrau


Roman

von

Klaus E. Kofler

I

Es war ein grauer Morgen und ich hatte Kopfschmerzen. Sonntag noch dazu, die Glocken der nahen Kirche hatten mich aus dem Schlaf gerissen. Mühsam wälzte ich mich auf die andere Seite, sah meiner Frau beim Schlafen zu. Die hatte sicher auch Kopfschmerzen, der vergangene Abend mit den Nachbarn vom dritten Stock war sehr weinlastig gewesen, man hatte, wie schon so oft, über Gott und die Welt schwadroniert und es war spät geworden.

Aber das kümmerte Robert gar nicht.

Robert, der Hund, unser Rauhaardackel saß wedelnd und murrend neben dem Bett, er wartete schon dringend auf seinen morgendlichen Ausgang mit Darmentleerung und Nachrichtensuche an den Bäumen der Straße, wo seine Freunde bereits ihr Geschäft verrichtet hatten.

Meine Frau, noch schlaftrunken, bemerkte die aufkommende Aktivität, sagte: "Geh schlaf doch noch weiter, gib' a Ruh'…" drehte sich um und schnarchte leise weiter.

Chancenlos, es gab kein Entrinnen, Roberts Augen und der darin liegende Vorwurf, trieben mich aus dem Bett. Vielleicht konnte ich ja später, am Nachmittag, noch etwas Schlaf nachholen.

Die Kirchenglocken trieben mich noch in den Wahnsinn, dieses Gedröhne, so früh am Morgen, es dröhnte auch in meinem Kopf. Ich verschwand im Badezimmer, da war es wenigstens nicht so laut.

Auf der Straße war alles ruhig, nur wenig Verkehr, nur wenige Menschen unterwegs, das kam mir entgegen, ich war an keinen nachbarlichen Gesprächen interessiert. Mein Kopf brauchte wohl noch etwas mehr an Auslüftung.

Robert war das alles egal, er hatte ja nicht zuviel getrunken, er lächelte mich an, ich grinste mühsam zurück. Er umrundete alle Bäume der Straße, zog mich hinter sich her, wollte wohl auch noch in den nahen Park, da gab es noch so viele schöne Bäume an denen man schnüffeln konnte.

Willenlos folgte ich ihm, es war egal wohin wir gingen, seine Wege mussten gegangen werden.

Aber dann gab es plötzlich eine Überraschung, Robert bog nach links ab, hin zu dem kleinen Platz in der Innenstadt, da wo üblicherweise eher das Nachtgeschäft blühte, da waren Restaurants, Kneipen, Weinstuben und eben auch jenes Lokal, in dem ich manchmal abends Freunde traf.

Der Kellner, ein kleiner Italiener namens Marcello stand vor der Tür, kniete sich nieder, als er uns sah, um den Hund zu begrüßen.

"Ah, Roberto, come stai…komma härr da, du Chund !"

Ich stand da, wartete bis der Anfall vorüber war, wollte schon wieder umdrehen, da kam die Verführung in Form einer Schale mit Futter. Es gab mehrere Hunde die in diese Kneipe kamen, mit ihren Herrchens oder Frauchens, deshalb hatte Marcello auch immer ein paar leckere Bissen bereit.

Der Hund war schuld, ich musste ihm ja schon fast hinein folgen, er zog mich hinter sich her. Und da stand ich nun wieder, in der alten Kneipe, wo ich gar nicht hingewollt hatte.

Aber es roch so gut, nach heißem Punsch und anderen Geisten, da gab es auch den legendären Calmus. Nirgendwoanders konnte man das bekommen, die Kneipe war berühmt für alle diese Spezialitäten in Sachen Schnäpse.

Robert bekam dann noch eine Schale Wasser, während ich mich nach einem Sitzplatz umsah.

Das Lokal war wie immer gut besetzt. Man konnte an den Gesichtern erkennen, dass manche eine anstrengende Nacht im Alkohol verbracht hatten und den Weg nach Hause scheuten, die "Nacht" war noch nicht zu Ende gebracht.

II


Nun, wenn ich schon da war, dann konnte ich auch gleich versuchen das Kopfweh hier mit einem sogenannten "Heil-Bier" oder auch "Reparaturseidl" genannt loszuwerden.

"Ein Bier bitte“, rief ich der ältlichen Wirtin zu, sie lächelte mich verstehend, wissend an.

Ich setzte mich mit einem nur gemurmelten "gestatten", zu einem etwas älteren Herrn an dessen Tisch.

"Bitteschön, wenn's sein muß - Ich bin der Ernst, aber das heißt nicht, dass ich auch immer ernst bin." Eine Antwort über die ich erst nachdenken musste.

"Harvey, auch angenehm", etwas verlegen doch vorwitzig meine Ansage, ich setzte mich zu ihm.

"Ah, Harvey, angenehm... lüpfen wir noch einen", war seine fragende Erwiderung, er lachte leise. Seine Mundwinkel zuckten. Mein Einstieg war wohl gelungen.

Er kannte den Film: "Mein Freund Harvey" mit James Steward in der Hauptrolle, in dem ein lebensgroßer imaginärer Hase ihm beim Trinken beobachtete und mit ihm diskutierte.

"Nenn mich trotzdem Joe, das ist leichter zu merken", nickte ich ihm zu.

Eine Weile saßen wir einander schweigend gegenüber. Robert hatte es sich unter meinem Sessel gemütlich gemacht, er fühlte sich sichtlich wohl in der Kneipe.

Bewundernd beobachtete ich einen an der Theke stehenden Gast, der sich mithilfe seines Schals das Glas mit einem Viertel Schnaps zügig zum Mund zog, um ja nichts auszuschütten, weil seine Hände so zitterten.

Ich musterte heimlich den vor sich hinschmunzelnden Gesellen neben mir, der genüsslich an seinem Getränk nuckelte:

“Althippie, Trinker - weil mich seine etwas geröteten Augen hin und wieder freundlich anlächelten, Hutgröße 52, tippte ich, ohne seine langen Haare. Aber gepflegt, ein leichter Buckel, als hätte er an seinem Leben schon schwer getragen, das kleine Bäuchlein zeugte von leichter Wohlstandsverwahrlosung, die Kleidung leger aber ein wenig nach Rauch und Moder duftend, die Zähne sahen aus, als hätte ein Zahnarzt gute Arbeit geleistet, sie schienen jünger als er, die Zigarette zitterte ein wenig, wenn sie sich dem Aschenbecher näherte, alles in allem eine durchaus interessante Erscheinung an diesem Morgen ohne sonstige Motivation.

Normalerweise sitze ich ja lieber alleine, "Small-Talk" ist nicht meines, ich lausche lieber, anstatt mich für die Sorgen meiner Mittrinker zu begeistern, aber alle anderen Tische waren belegt gewesen. Das Bier langte schäumend an, ich nahm einen angemessenen Schluck und seufzte wohlig.

Die dringend gebrauchten Elektrolyte breiteten sich in meinem Körper aus und die notwendige Beruhigung meiner Nerven setzte langsam ein: "Hey Joe, hier bist du daheim", flüsterte es in mir.

"Bist du von dieser vergangenen Nacht übrig geblieben, oder hat dich der scheinheilige Sonntag in die offenen Arme dieser Lokalität getrieben ?"

Ich zuckte nur mit der Schulter: "Wahrscheinlich hatte ich dasselbe Problem wie du, oder?"

Er sah mir lange in die Augen, bevor er mir antwortete und die Antwort hatte es in sich, ich begann ihn mit etwas mehr Neugierde zu betrachten.

"Weißt du… oft ist alles ganz anders, als man meint, oft ist es alles ganz anders, als es scheint – der Vorhang hebt sich nicht gleich und auch nicht ganz."

"Zwei große Calmus bitte“, rief ich der Wirtin hinter der Theke zu.

"Ich lade dich ein," sagte Ernst, in vollem Ernst. "Du bist ein ganz sympathischer Bursche, redest wenigstens keinen Schwachsinn, das gefällt mir.

Wir prosteten einander zu, seine Augen lächelten etwas schräg zu mir herüber, ich grinste zurück und ahnte, dass dies wohl noch ein launiger Tag würde.

Als hätte er meine Gedanken erraten meinte er:

“Haben sie die heutige Schlagzeile in der Runenzeitung gelesen?“.

Ich erstarrte: “Nein, solchen Schrott lese ich prinzipiell nicht, die Moritaten-News - und Sie lesen das hoffentlich auch nur unter dem Motto: Unterhaltung.“

"Leider lesen die Leute diesen gedruckten Unsinn, als ob es sich um die Verkündung der Wahrheit handelt – glauben darf man denen nichts…"

Ich nickte zustimmend, wir gossen den Inhalt der Gläser in unsere Kehlen, lächelten einander zu.

“Noch zwei Calmus bitte!“ Ich bestellte quasi aus Verlegenheit. "Diesmal zahle ich !" Die Gläser kamen und wir ließen den Inhalt hinutergbrennen, ein „ahh“ entwich gleichzeitig unseren Kehlen.

“Wie streunen sie durch ihr Leben, junger Freund?“, torkelte es aus seinem Mund, der Nachschub an Alkohol machte sich bemerkbar.

“Ich streune nicht, ich bin nur etwas…ach, ich weiß nicht, was ich eigentlich bin. Ich arbeite… ich meine, ich hab' einen Job."

Ernst verzog sein Gesicht, nickte leise, trank den Rest aus dem Glas, nickte wieder.

"Ja, wir sind alle nur Gefangene unserer Umstände, der sogenannten 'Gegebenheiten', die uns begleiten, eingekerkert wie in eine Zwangsjacke !"

Ich sah ihn erstaunt an. Das war kein "normaler" Betrunkener.

"Was machst denn du… so früh hier in der Kneipe ?"

Der Kellner stellte neuerlich zwei Calmus auf den kleinen Tisch. Robert, unter meinem Sessel bekam wieder ein "Leckerli", wie Marcello es nannte, so wurden wir alle ruhiggestellt - Fressen und Saufen.

 

“Ich mache alles oder auch nichts und denke nach, was ich machen könnte, wenn ich was machen wollte… ich bin ja in Pension, ich muss gar nix mehr“.

“Erträgst du die Welt im nüchternen Zustand, als Versuch und Irrtum?“ fragte ich. (Klugscheissen konnte schließlich auch ich - ich hoffte es war Kant Emmanuel, mit dem "Versuch und Irrtum", ich wollte mich ja nicht blamieren!)

“Meine Nüchternheit ist nicht mit Alkohol zu besänftigen. Das Schaukelpferd der uns zu lenken Versuchenden und zum Galoppieren zwingenden macht mich schwindeln.

Wie zur Bestätigung schaukelte sein Kopf nach links und dann nach rechts und retour.

"Außerdem ist die Wirklichkeit eine Illusion, hervorgerufen durch Mangel an Alkohol! Irisches Sprichwort", er grinste ein schiefes Grinsen.

“Ich verrate dir ein Geheimnis, das jeder kennt, so gerne in Anspruch nimmt, und so oft schiefgeht; es gibt nur die Liebe, die das Leben erträglich macht!

Er zündete sich wieder eine Zigarette an.

Wenn er gerade nicht rauchte, klopften seine Finger leise irgendwelche Rhythmen auf die Tischplatte. War er nur nervös, oder war es gar ein Leiden das ihn plagte ?

"Und was hast du gemacht, als du noch arbeiten musstest – oder bist du… reich, hast du geerbt oder…was ?

Er redete weiter, als ob er meine Frage nicht gehört hätte.

“Männer können mit Liebe nicht umgehen. Frauen haben sie im Patriarchat zu Helden erziehen müssen. Und Helden sind vorprogrammierte Verlierer.

In der Waagschale zwischen Liebe und Hass pendeln sie zu Letzterem. Das Patriarchat hat leider noch nicht ausgedient. Sonst lebten wir wahrscheinlich in einer friedlicheren Welt“.

"Zwei Calmus bitte!“ schrie ich. Das würden die letzten zwei sein, ich war jetzt bereits ziemlich erheitert.

Ich schaute seinen Rauchschwaden zu und dachte über diesen Schwachsinn nach:

“Was ist denn für dich Liebe?“, fragte ich vorwitzig und begann zu bereuen, dass ich nichts gefrühstückt hatte.

“Liebe ist nur ein Wort, lieber Joe. Deine Antwort wirst du irgendwann selbst finden. Meine wäre: Sex ist das Karussell, das dich am Anfang schwindeln lässt. Aber irgendwann steigst du aus. Im Schwindel des Ausstiegs taumelst du, hältst eine Hand, die dich den Boden unter den Füßen wiederfinden lässt. Und du entdeckst die Zärtlichkeit, den Feind der Gier.

Du wirfst deinen Egoismus über die Reling deines überfüllten Seelenschiffes und näherst dich dem Menschen, der in dir wohnt.

Dem richtigen Menschen, dem, von dem du meinst, dass er wahrhaftig sein könnte, you know?“.

Das wortballastige Geschwätz begann mich zu nerven. Fuck you. Was wollte dieser alte Sack? Mir, der ich soviel erlebt hatte, die Welt erklären?

“Noch eine Runde, die Herren?“, Marcello fragte eher nur rein rhetorisch, er sah auch, dass die beiden Gäste bereits genug intus hatten.

“Zeitig betrunken ist man den ganzen Tag voran“, meinte der alte Herr und ich, in meinem aufgewärmten Dusel, konnte ihm nur mehr zustimmen, ich nickte lächelnd:

“Täglich betrunken ist auch ein geregeltes Leben!“.

“Na junger Mann, du kennst wohl auch den Almanach der Trinksprüche aus dem 18.Jahrhundert!“.

Er lachte wohlwollend und bestellte ohne mit der Wimper zu zucken noch zwei Biere: "Zum Schwemmen und Spülen, für die Nieren, die mögen das…geht auf mich!"

“Du liest wohl viel“, fragte ich etwas verschämt und blickte in seine blassblauen müden Augen.

“Ja, ich habe viel gelesen. Lesen kann dich in den Himmel des Erlebens donnern oder auch dein restliches Leben blitzartig zerstören."

Langsam wurde er mir ein bisschen zuviel, zuviel der Schwafelei, auch der abgehobenen Weisheit, die er zur Schau trug. Ich hatte auch schon wirklich genügend Alkohol im übernachtigen Kopf, es wurde genug.

"Ich glaube ich muss nach Hause, meine Frau wartet sicher auch schon mit dem Essen auf mich und wenn ich zu spät komme, gibt’s Haue !"

Ein kurzer Augenblick aufkommender Ernsthaftigkeit.

Er grinste etwas resignierend, deutete auf eine dicke Aktentasche, die neben ihm auf der kleinen Bank lag.

"Ja, das kenne ich alles, ich hatte ja auch mal ein… nein, ich hatte kein 'normales Leben' – das war jetzt ein akuter Irrtum."

Er nahm die abgewetzte Aktentasche zur Hand und entnahm ihr, wichtig darin kramend, ein Bündel Papiere, offensichtlich ein Manuskript.

"Liest du auch manchmal Bücher oder schaust du nur in die Glotze, wenn du abends nach Hause kommst ?"

Ich bejahte heftig, früher hatte ich viel gelesen, die russischen Schriftsteller genauso wie die deutschen Klassiker, auch italienische Literatur, aber in letzter Zeit war das Lesen etwas ins Hintertreffen geraten.

"Nimm das und und lies, junger Freund… lies diesen Scheiss, das ist mein Leben in Worte gefasst… mein Leben, und es wurde schon wieder abgelehnt… von der Intelligentia, der Verlagsmafia.

Er machte eine kleine Pause, sah mich prüfend an, ob ich denn nach seinem Angebot noch würdig genug aus den Augen schaute… Ganz traute er mir wohl doch noch immer nicht über den Weg.

"Das sind die Fuß- und Fingerabdrücke meines Lebens - wenn wir einander wiedersehen sollten, wirst du mich mit anderen Augen sehen! Falls wir einander wiedersehen – ich werde demnächst erst mal auf eine Reise gehen.“

Ich wusste, ehrlich gesagt nicht, was ich an dieser Stelle noch hätte sagen sollen. Etwas beschämt nahm ich den Stoß Papiere entgegen, lächelte ihn mit gemischten Gefühlen an. Ja, es war durchaus eine Ehre, wenn einem jemand "sein Leben" in Buchform in die Hände legt. Ich wusste nur nicht, was ich letztendlich damit machen sollte…

"Ich komme ja eigentlich doch recht häufig hierher, weil halt auch viele Freunde da sind… aber dich habe ich hier noch nie gesehen…"

"ich bin hier auch nur eher zufällig hereingeschneit, auf dem Weg meine Frustration zu besaufen, aber es wollte mir beim besten Willen nicht gelingen – Du hast mir da jetzt erheblich weitergeholfen !"

Ich lächelte, was hätte ich auch sonst tun können.

Robert ließ ein freudiges "Wuff" hören, als er kapierte, dass Herrchen sich nun endlich wieder auf den Rückweg machen wollte.

Ernst beugte sich zu Robert, kraulte ihn hinter den Ohren, Robert schnurrte fast wie eine Katze.

“Danke für das Vertrauen und bis bald mal, hoffentlich“, sagte ich noch höflich, lächelte freundlich, zahlte, winkte den restlichen Gästen zu, man kannte einander ja, zumindest vom Sehen.

Es war Robert, der mich schnurstracks und in erhöhtem Tempo nach Hause führte oder besser, er zog mich hinter sich her.

Nach dem großartigen Essen, das "Blunz`ngröstl schmiegte sich zärtlich und wohlwollend in meinen Magen, legte ich mich dann auch endlich auf ein Schläfchen hin.

Als ich am frühen Abend wieder erwachte, saß meine Frau vorm Fernseher, Robert schlief in seinem Körbchen, alles war in Ordnung, alles in der Reihe, alles wieder ganz "normal", so wie es sich an einem Sonntagabend gehörte.

Und so nahm ich denn, neugierig wie ich eben bin, den Stoß Papiere zur Hand, trank einen steifen Kaffee, zündete mir eine Zigarette an und begann etwas gelangweilt, dann aber doch nicht ohne Neugierde, Ernsts Manuskript zu lesen. Mal sehen, was dieser Verrückte zu sagen hatte.

III

SARAH ODER DER WENDEKREIS DER JUNGFRAU

stand da als Überschrift.

Ernst Berling

Roman

"When I was young

I never needed anyone

and making love was just for fun.

Those days are gone"

All by Myself/ Eric Carmen

Henry, 1970

Damals, als ich noch Henry Miller war , du weißt schon, der Schreiberling aus Amerika. Wenn du gefragt werden solltest: “Was gibt es in Amerika?“

Lautet deine Antwort einfach: " Alles!". Amerika ist ja nicht nur New York und Broadway, ist auch Tombstone, Wyatt Earp, Nebraska, John Wayne, Monroe, Californian Girls, Nashwille, Hot Dogs, Burgers, Kukuxklan, Black Power, CIA und FBI, Jerry Cotton, Charlie Parker, Wes Montgomery, Soul und Blues, Hustler und so on....

Also dieser Schriftsteller mit Halbglatze, Hornbrille und Hut, Sexus, Nexus, Plexus, Wendekreis des Krebses und einst wegen angeblich pornographischen Texten verboten

Heute kann man darüber nur mehr schmunzeln, die "Pornographie“ ist alltäglich geworden und deshalb so langweilig.

Jeder Zwölfjährige weiß heute über Sado-Maso Praktiken Bescheid, weil er die Pornoseiten im Internet besuchen kann ohne gestört zu werden.

“Erinnerung ist der Talisman des Schlafwandlers auf dem Boden der Ewigkeit“,

schrieb er und das schluckte ich wie Muttermilch.

Ewigkeit, die nach dem Scheiterhaufen des Krematoriums auf mich und alle anderen wartete.

Es galt zu Leben.

Jetzt!

Einzutauchen in Sumpf oder in kristallklares Wasser.

Die innere Hitze zu kühlen, egal wie , nur

kühlen

kosten

konsumieren

“Nichts ist so, wie es einmal war

und es kommt immer anders als man denkt“, banal aber ziemlich wahr,

das spürte und dachte ich.

“Nimm Anlauf und köpfle ins Unbekannte.

Wiederholung lähmt das Empfinden.

Wiederholung formt dich zum Museumsstück in deiner persönlichen Ausstellung.

Vergiss sie.

Verlass sie!

Erinnerung ist keine Fotografie, die erzählt nur Oberflächen.

Erinnerung kann man vielleicht malen, Striche ziehen, Farben spritzen.

Picasso

Chagal

Klimt

Rubens

Dali

Michelangelo

Miro

whuschhhhh...

Gefühle, die manchmal wieder auftauchen wie das Glitzern auf Meereswellen, die immer schäumend überschwappen wenn du es am wenigsten erwartest.

Das ist vielleicht Erinnerung“.

Natürlich war ich nicht wirklich Henry Miller, aber ich bin ihm nach seiner Lektüre ziemlich ähnlich geworden. Lesen ist ja immer auch ein Suchen. Sich selbst in anderer Menschen Träumen wiederzufinden. Im Vergleich zu wachsen versuchen.

Ich habe meinen "Pint“ mit anderen Augen angesehen.

Mit anderen Händen angefasst.

Frauen kennengelernt ohne sie wirklich kennenzulernen.

Ich hab auch eine June kennengelernt. Die June mit den hochgesteckten blonden Haaren?

Blond

jung

gefährlich

verführerisch

geheimnisvoll...

Seine geliebte June, die ihn beinahe in den Wahnsinn trieb?

Weil der Trieb stärker ist als jede Vernunft. Intellekt ertrinkt in langen Beinen und großen Brüsten. In blond, brünett, schwarz und rot.

Nein, nicht seine June, die Meine!

Sie hieß eigentlich nicht June, sondern Josefine, aber ich nannte sie Josi, klang nicht ganz so provinziell, und wenn ich etwas hasste, dann war es Provinzialität.

Fort von kleinlichem Nachbargeschwätz, raus aus der engen zwei Zimmerwohnung mit dem geklebten braunen Linoleumboden, dem Kaltwasserhahn, dem Sparherd, der nach Kohlen schrie, die man ängstlich des nächtens dem Kellerloch entreißen musste, dem weißen Lohnsäckchen, das der Vater am Monatsersten der Mutter in die abgearbeiteten Hände drückte,

ihre enttäuschten Blicke erhaschend,

ihrer beider Sprachlosigkeit lauschend,

ihre mangelnde Zärtlichkeit füreinander aus den Augenwinkeln zu ertappen,

die Zeugen Jehovas von der Türschwelle zu scheuchen,

die hölzernen Treppenhausstiegen wöchentlich kehren zu helfen,

das ewige Jammern der Großmutter zu ertragen und trotzdem das Stück Glück mitgenommen zu haben um das weitere Leben in Angriff nehmen zu können.

Auf geht’s.

Voran, immer voran!

Schließlich kam ich ja von da und ging nach dort, in eine Großstadt, die nicht wirklich groß war, aber größer als alles, was ich bis dahin gekannt hatte.

Ich will sie hier einfach "Großöd“ nennen, damit du nicht alle Straßen googeln musst, die ich erwähnen werde, bedank dich nicht bei mir.

Ja, google mal Großöd!!!

Also: Josi hatte eine zu große Nase.

Aber das wusste ich noch nicht, als ich um Mitternacht....

 

nein,nein,nein.........

es war vier Uhr früh, Sommer und warm und das Pflaster der Sportgasse war so nass nach einem Platzregen, dass ich beinahe ausgerutscht wäre, als ich die sanfte Steigung in das "Sportbuffet“, die Lieblingskneipe aller Schlaflosen, hinauftorkelte.

“Wild thing, you make my heart sing, you make everything groovy...wild thing, da da dada“ von den Troggs sang ich launig vor mich hin.

Ein einsamer dunkelhäutiger Radfahrer hechelte mir entgegen, der die Zeitungen austrug, um die Menschheit nicht ohne wichtige Informationen zu hinterlassen.

“Guten Morgen, mein Lieber, lass die Zeitungen nicht nass werden, gute Nachrichten können nicht schwimmen und schlechte leider nicht untergehen, hahaha“, schrie ich ihm sinnloserweise nach. „Geh scheissen, Saufkopf“, war seine charmante Erwiderung, und er trat kräftig in die Pedale.“Ja,

sie lernen schnell Deutsch, diese intelligenten Einwanderer“, dachte ich noch.

Die Luft legte sanft ein feuchtes Handtuch um meinen Körper.

Ja, ich hatte ein bisschen getrunken, oder vielleicht auch ein bisschen zu viel.

Egal.

Ich war Musiker und kam gerade aus dem "Stadl", dem Lokal, in dem ich wie jeden Abend gespielt hatte.

Tanzmusik für Lebenslustige von acht Uhr abends bis drei Uhr früh.

Ein seltsames Unterhaltungsetablissement: Am Eingang eine Vitrine mit im Kernöl ersäuften Salaten.

Der Chef grillte Cevapcici, Plescavica, gespickte Leber und und andere Feinheiten. Es roch nach Süden und ranzigem Fett. Ein paar Schritte nach vor dann die langgestreckte Theke.

Danach links und rechts kleine, aus Holz geschnitzte Logen und dazwischen die Tanzfläche.

Der auf sich bewegende Füße wartende Vergnügungsschlauch.

Der Schweißgeruch der Tänzer für Ewigkeiten eingesogen von den hölzernen Stehern zwischen den Logen.

Such dir eine Loge aus, es ist gemütlich!

Die Weinauswahl: Bedenklich!

"Stierblut" aus Ungarn in dunkelrot mit Kopfwehgarantie oder "Hemd in Arsch“ ziehender Weißwein.

Alles in Allem: Spaßfaktor, denn sonst wären die Bude und ihre Gäste nicht täglich voll gewesen.

Aber zurück auf meinen Weg, der mich täglich nach getaner "Arbeit“ ins Elysium führte.

Im "Sportbuffet“ um vier Uhr früh roch es nämlich ähnlich. Der Chef des "Stadls“ war auch der Besitzer dieses "Beisels“, in hochdeutsch auch "Kneipe“ genannt, oder in hochsteirisch auch "Wind`n“, ein sehr blumiger Ausdruck, der vielleicht meinte, dass man nach einigen feuchtfröhlichen Stunden darin ahnte, wohin der Wind weht......

Er war privat ein amtlicher Zauberer mit bezahlten Aufführungen, obwohl oder weil er aussah wie ein verschreckter Kauz, Sommeranzug in türkisch Armani und passende Kravatte in grell. Basedow Augen, braungetönt, dünn gescheiteltes Blondhaar und ein zerknautschter Schnurrbart, der schüchtern die Oberlippe bedeckte....klein, zierlich und behende.

Beim Lächeln habe ich ihn nie ertappt.

Trotzdem er zwei Sommer mein Chef war, hat er mit mir nie mehr gesprochen als:

"Was willst Du trinken? Was willst du essen?“ mit seiner hohen dünnen Stimme und glupschte mich an.

Aber im Sportbuffet trank und aß ich auf Hauspreis. Immerhin ein kleines Zeichen von Respekt.

Ich war noch sehr jung, aber das wusste ich damals natürlich nicht.

Henry war schließlich über vierzig und cool. Einen Hut wie er hatte ich auch nicht auf.

Die Haare hingen mir über das regenfeuchte Gesicht und das machte mich eine Spur unsicher, eitel wie ich war. „You`re so vain, you`re probably think the song is about you...“ von Carly Simon ging mir noch durch den Kopf.

Trotzdem zielsicher und forschen Schrittes trat ich ein.

Ich setzte mich in eine Ecke mit dem Gesicht zur Türe ("Setz dich nie mit dem Rücken zum Eingang“, besagt eine alte Bauernregel) und bestellte mir ein Bier:

“Ein Bunkerl bitte!“ rief ich dem herumschwirrenden Ober nach.

Nach kurzer Überlegung winkte ich mir noch einen großen Schnaps dazu, schließlich war es vier Uhr früh vorbei und "genug kann nie genügen“, sang einst ein begnadeter Barde. Rings um mich lautes Gemurmel,

hektische Ober

Luft zum Schneiden

und ein wunderbarer Geruch nach Bier und frischem Gulasch

Ich betrachtete die Ringe, die das nasse Bierglas am Tisch hinterließ.

Im Hintergrund säuselte es leise aus dem Lautsprecher:

"Geh nicht vorbei, als wär nichts gescheh`n, es ist zu spät um zu lüüügen“ von Christian Anders, eine durchaus erträgliche Schnulze.

Ich dachte über mein Leben nach.

Bilder tänzeln

Farben flackern

Worte stolpern

Von einem, der von Kleinöd nach Großöd gezogen war und sich plötzlich so weltmännisch vorkam.

Ich hatte Geld im Sack, Taschengeld, das ich mir selber auszahlen konnte. Reich wie ein Scheich, nur ohne Gefolge.

Der ganze Kleinstadtmief lag hinter mir und konnte mich am Arsch lecken.

"Auf Nimmerwiedersehen! Nevermore, nevermore !“

Ich glaube, auch du kennst dieses Gefühl:

"Nicht mehr von den Eltern abhängig zu sein, die Gedanken aussprechen zu dürfen, die du einst heimlich in ein Tagebuch geschrieben hättest, das du aber nie geführt hast.

Den lästigen Wehrdienst hinter dir,

das Maturazeugnis als Führerschein in ein besseres Leben vor Nässe und Diebstahl sicher gelagert,

ein Studium wartete, um den Glasscherbenviertelepigonen in eine bessere Zukunft zu geleiten…....“

Plötzlich ging am Tisch gegenüber ein Streit los.

Tschinderibummmm...

Geschrei

Getaumel

Gefuchtel

“Nimm die Finger von meiner Alten, du Bauernschädel!“

"Behalt dir den schlampigen Fetzn, sowas greif ich nicht mit Handschuhen an!“

"Meine Frau beleidigst du nicht, du Nudelaug!“(Eine wienerische Bezeichnung für einen neugierig erigierten Penis).

Ein Bierkrug wurde zweckentfremdet und dem Kontrahenten über den Schädel gestülpt. Ihm rann das Blut über das Gesicht. Stumm staunend lag er am Boden hingestreckt.

Ein Aufruhr, wie wenn du einen toten Heuschreck in einen Ameisenhaufen wirfst!

Das Mädchen, das mit an deren Tisch gesessen hatte, flüchtete wortlos und hektisch zu mir, setzte sich unaufgefordert und trank blitzartig meinen Schnaps aus.

Gluck und zisch

Durchaus verständlich

(Ich schupfe meine bunte Glasmurmel ins Loch.

Meine Mitmurmelspieler schreien neiderfüllt: “Du betrügst!“.

Ich hatte alle ihre Murmeln gewonnen.

Ich sack sie ein und lächle stolz:

"Gefühl ist alles!“)

Sie hatte eine etwas zu große Nase, du weißt schon....

"Das Leben ist hart und der Kopf hat eine weiche Schale“, begann ich zu philosophieren und schmunzelte in ihre Augen.

Ihre Haare waren kurz und schwarz, nicht so blond und lang und aufgesteckt wie bei Henry´s June, aber hübsch irgendwie und man kann ja ruhig einmal der gelesenen Wirklichkeit entfliehen.

Walnussfarbene Augen und vornehme Blässe. Außerdem war sie ausgesprochen gut gebaut und der Minirock ließ meine Herzfrequenz steigen..

Also lüpfte ich meinen imaginären Hut und stellte mich vor: "Gestatten, der Schnaps geht auf meine Rechnung“. "Herzlichen Dank, deine Josefine!“ war ihre Antwort.

Während die Rettungsmänner den blutenden Bauernschädel (oder auch das Soziologieprofessorköpfchen) hustend und stöhnend durch das rauchgeschwängerte Lokal auf einer Bahre ins Freie schleppten meinte sie:

"Eifersucht ist ein rechtes Mittel, dem Leben Würze zu verleihen“.

Ich darauf: "Blut ist ein ganz besonderer Saft“ (schließlich hatte ich Goethe vor Miller gelesen).

So kamen wir locker ins Gespräch.

Hin und wieder tasteten sich unsere Blicke durch das vollgefüllte Lokal und wir wagten nicht, einander allzuwissend anzublicken, denn überspringende Funken kannte man noch aus dem Physikunterricht.

Dass sich meine Hand inzwischen vorsichtig unter ihren Minirock zu ihrem Höschen vortastete, ist zu dieser Uhrzeit und in meinem verklärten Zustand durchaus verständlich.

Streichel, streichel, streichel....

Außerdem wusste ein Mann von Welt, dass man sein Ziel immer direkt ansteuern muss. “Wenn du es eilig hast, mach einen Umweg“, heißt ein chinesisches Sprichwort. Ich hatte es nicht eilig.

Sie zuckte mit keiner Wimper, aber mit ihren Schenkeln. Henry bekam einen Steifen und June schmunzelte: „Na hallo, was machst du so sonst noch“, fragte sie.

"Ich bin Musiker“ sagte ich.

"Ah ja“, antwortete sie, "das merkt man an deinen flinken Fingern....“

Meine Antwort:" Draußen trocken und innen feucht, das Elixier des Lebens, was?"