Read the book: «Wenn ich wär, wie ich nicht bin»
WENN ICH WÄR,
WIE ICH NICHT BIN
Geschichten und Gedichte von
Kirsten Steineckert
Engelsdorfer Verlag
Leipzig
2017
Kirsten Steineckert
Biografische Angaben
Geboren: 1951 in Berlin.
Studium der Germanistik und
Kulturwissenschaften an der Humboldt-Universität
Berlin, erst Redakteurin beim Kinderfernsehen,
dann Autorin beim DEFA-Studio für
Synchronisation und seit 1978 als freischaffende
Autorin tätig: Veröffentlichungen von Gedichten,
Liedern, Kurzgeschichten, Lesungen und Auftritte
mit literarisch-musikalischen Veranstaltungen.
Bisherige Veröffentlichungen:
Dazwischen, Gedichte, Spotless-Verlag 1997
...Und jeden Morgen weckt mich die Taube,
Eine poetische Reportage – Tagebuchnotizen,
Texte, Briefe, Träume und Gedichte 1991 – 1994,
Scheunen-Verlag1998, zweite Auflage 2001
Herzwende, Gedichte und Geschichten,
Scheunen-Verlag 2005
Impressum:
Bibliografische Information durch die
Deutsche Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese
Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet
über http://dnb.dnb.de abrufbar.
Copyright (2017) Engelsdorfer Verlag Leipzig
Alle Rechte bei der Autorin
Titel-Illustration und Fotos: Fredy Conrad
Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)
INHALT
Cover
Titel
Über die Autorin
Bisherige Veröffentlichungen
Impressum
Vati als Kapitän
Frühschoppen
Liebe für eine Mark
Schönhauser Allee
Schwänzen
Meine Großeltern
Familientisch
Meine Großeltern II
Eine Französin
Nachbars Sohn
Rummelzeit
Unterm Magistratsschirm
Frühling in der Schönhauser
Der Mathelehrer
Der Nachbar
Komm doch in den Garten Eden
Dorfgespräch
Garten deiner Lüste
Erste Gedichte
She loves you, yeah, yeah
3 x 3 bleibt 9
Abschied
Ich hab den Wundervogel tanzen sehn
Intermezzo
Wenn ich wär, wie ich nicht bin
Erste Ehejahre
Vor der Haustür
Brigitte
Fatale Hilfe
Thomas B.
Wenn ein Gewitter kommt
Otto
Für Daniel
Robert
Frau Kabunke
Familie hatten wir so nicht
Familienleben
Wende
Alltag
Eine Begegnung
Tage, die wie Jahre sind
Der Neue
Karline
Kerstin
Späte Einsicht
Rita, 32, alleinstehend, ein Kind
Wo ick großjeworden bin
Lena
Wetterwechsel
Wahre Liebe
In der Psychiatrie
Friedhof der Vergangenheit
Josi
Ausbruch
Nachtangeln
Es gibt Tage
Manfred und Moni
Mein Schutzengel
September
Bis auf den Grund
Tina
Fluch der Technik
Noch einmal
Erwachen
Böse Geister
Früher war mehr Lametta
Herbstlied
Fast Spanien
Helena, Paris, Amor und Psyche
Alte Liebe
Es ist ein Stern gefallen
Mama
Nachwort
VATI ALS KAPITÄN
Heute hatte Vati seinen guten Tag. Er hat mit uns gespielt. Manchmal macht er das; dann kommt er ins Kinderzimmer und verkündet stolz, dass wir miteinander spielen wollen. Natürlich brechen wir in hellen Jubel aus, damit er nicht enttäuscht ist. Wir spielen jedes Mal dasselbe: Seefahrer.
Wir holen die Papiermützen vom Fasching aus dem Schrank. Vati setzt sich eine Kapitänsmütze auf den Kopf und wird gleich ein Stück größer. Er schickt meinen Bruder hinter den Tisch ans Steuer und mich unter den Tisch in die Kombüse. Wir warten geduldig bis Vati uns mit hartem Kommando-Ton zu sich ruft, dann ist das Unwetter dran. Er beschimpft uns, weil wir den Kurs nicht eingehalten haben, schickt uns weg und hält weiter Ausschau.
Wenn Mutti die Tür aufmacht, kriegt sie Arrest. Da macht sie inzwischen Abendbrot. Vati macht das Spiel viel Spaß. Nur das letzte Mal gab es Streit. Mein Bruder hat einfach gefragt, ob er auch einmal Kapitän sein darf. Da war Vati sauer. Er riss sich die Mütze vom Kopf, schmiss sie in die Ecke und rannte wütend aus dem Zimmer. Dabei zischte er zwischen den Zähnen: »Dann spiel ich eben überhaupt nicht mehr mit euch!«
Es dauerte lange, bis er uns verziehen hatte.
FRÜHSCHOPPEN
Mein Vater hat jeden Sonntag mit mir einen Spaziergang zum Frühschoppen zu Jaschinsky’s in die Eckkneipe gemacht. Dort hatte er seinen Stammplatz. Gleich neben der Theke. Nach einer gewissen Weile wurde ich hungrig, wahrscheinlich nach dem 3., vielleicht aber auch 6. Bier; keine Rücksichtnahme auf die Bedürfnisse meines Vaters.
Onkel Jaschinsky liebte es nicht, wenn ich die anderen Gäste störte und er seinen guten Freund Walter nach Hause schicken musste, damit die leibliche Mutter dem Kind das Mittagessen machen konnte.
Damals wäre es undenkbar gewesen, dass ein »gestandenes Mannsbild«, sich dafür verantwortlich gefühlt hätte. Dazu hatte man ja seine Frau. Mein Vater war keine Ausnahme, er war so wie seine Generation war.
Papa macht Kind mit Mama, Mama bleibt mit Kind zu Hause. Wenn Papa jagen geht, macht sie alles schön für den Jäger. Wenn er mit Beute nach Hause kommt, dankt sie ihm für seine Heldentaten und tut die Suppe auf. Er streicht dem Kind über den Kopf, wenn es brav war, auch mal Mama, wenn er meint, sie hätte es verdient. Papa gibt Mama Küsschen, auch wenn sie gerade nicht will und tut ihr weh, wenn sie es erst recht nicht will. Manchmal hat sie einfach anderes zu tun oder teilt seine Freude an der Freude nicht.
Wenn er laut wird, das Kind in der Tür steht und Mama retten will, lachen beide und tun so, als wäre alles nur ein Spiel. Manchmal wird Papa auch sehr böse, wenn Mama immer öfter nicht so will, wie er. Darauf kann er keine Rücksicht nehmen, sie hat gefälligst ihren ehelichen Pflichten nachzukommen.
Schlimm genug, dass sie immer noch darauf herumreitet, dass er mal mit der Sekretärin was hatte; oder mit der Neuen vom Vertrieb. Da war sie doch schwanger und was hat sie denn erwartet, mit dem Bauch! Schon im 6. Monat war doch die Taille weg, also bitte, das muss sie doch verstehen. Na gut, über die paar Pfund, die sie jetzt noch zu viel hat, da sieht er großzügig hinweg. Sie wird sich doch wohl ein bisschen zusammenreißen können, sonst muss sie sich nicht wundern ... Er ist ja schließlich auch nur ein Mann.
Mama wollte sich nicht weiter wundern, da hat sie eines Tages Kind und einen Koffer genommen und ist in eine andere Wohnung gezogen.
Da hat sich Papa aber gewundert.
LIEBE FÜR EINE MARK
Mein Vati hat mich sicher geliebt. Mit Zärtlichkeiten tat er sich aber sehr schwer. Nie sah ich, dass er meine Mutter nur einfach mal so in den Arm nahm, immer war es ein „Sich-tapsig-Annähern“, „Grobes- auf-den-Hintern tatschen“, zu lautes Gelächter über zotige Witze. Er liebte es, mich abzukitzeln. Aber sein Abkitzeln war meist sehr rüde. Ich fand es nach kurzer Zeit nicht mehr lustig, es tat weh. Ab dem Punkt schien es ihm aber immer mehr Spaß zu machen. Er kannte kein Maß und kein Einhalten, ich hasste es. So wurden Lachtränen oft zu echten.
Er konnte seine Zuneigung schlecht zeigen. Vor allem meine Mutter hatte darunter sehr zu leiden. Er liebte sie aufrichtig und konnte sie deshalb nie endgültig loslassen, auch nach der Scheidung nicht.
Seine Liebe mir gegenüber bewies er auf seine Art. Ich war noch nicht mal 4 Jahre alt, da spielten wir Kinder auf der Straße. Mit bunter Kreide bemalten wir die Geh- und Fahrwege. Damals musste man keine besondere Angst vor Autos haben, 1954 gab es wenige, im Osten noch weniger als im Westen, und die paar, die es gab, fuhren in dieser Nebenstraße selten.
Ich wusste, dass mein Vater zu einer bestimmten Zeit nach Hause kommen würde und sah immer wieder gespannt und sehnsüchtig in diese Richtung. Endlich hielt die Straßenbahn, er stieg aus, ich sprang auf und lief ihm voller Vorfreude entgegen.
Ich streckte ihm meine Arme entgegen, er lächelte, strich mir wuschelig über den Kopf, kramte in seinen Taschen und steckte mir ein Geldstück in die Hand. Ich hatte keine Ahnung, was ich mit dem Geld anfangen sollte, nahm es aber dankbar entgegen.
Dass dieses komische Gefühl im Bauch Enttäuschung war, verstand ich erst später, als alles, wofür er einen belobigen oder bestrafen wollte, mit Geld vergolten wurde. Wenn man etwas falsch machte, musste man 10 oder sogar 20 Pfennige abgeben. Ein nicht aufgehängtes Handtuch, schmutzige Schuhe, beim Einkauf etwas vergessen: es wurde abgerechnet. Für eine gute Zensur oder fürs Auto waschen bekam man etwas.
Als ich ihn ab meinem 12. Lebensjahr fast 30 Jahre lang nicht sehen durfte - weil seine neue Frau es ihm verboten hatte und er sich dem beugte - ersparten wir uns gegenseitig viel Geld.
SCHÖNHAUSER ALLEE
Seit meinem 10. Lebensjahr wohnten wir in Berlin in der Schönhauser Allee. Die Wohnungen hatten wunderschöne große Zimmer mit Stuck an der Decke und, was besonders wichtig war in diesen Zeiten, ein Bad innerhalb der Wohnung. Es gab auch hier Hinterhöfe, dafür aber das volle Leben vorne raus. Da fuhren nicht nur die U-Bahn direkt vor unserem Fenster vorbei, sondern auch die Straßenbahn und Autos in zweierlei Richtungen.
In der zweiten Etage lebten wir in der ersten Zeit mit dem zweiten Mann meiner Mutter und seiner Tochter Christine zusammen. Nachdem er nach 3 Jahren ausgezogen war und Christine später nachholte, blieben meine Mutter und ich in der schönen Altbauwohnung zurück.
Ich wohnte in einem winzigen Kämmerchen, das direkt von der Küche abging. Es war das ehemalige Dienstbotenzimmer mit dazugehörigem Dienstbotenaufgang, der sich als außerordentlich praktisch für heimliche Rendezvous herausstellte.
Wenn meine Mutter nicht unbedingt bemerken sollte, dass mein Freund länger blieb als erlaubt, erklomm er die herrliche Wendeltreppe, die vom Hof direkt in die Küche führte, und so konnten wir unbemerkt miteinander die Zeit verbringen. Bis wir hörten, dass vorne die Wohnungstür aufgeschlossen wurde, dann hatte er gerade noch genug Zeit, um über denselben Weg zu verschwinden.
Gerne schlief ich aber auch bei meiner Mutter, deren Schlafzimmer direkt an der Straße lag. In der Nacht sahen wir die Lichter der Autos über die Schlafzimmerdecke laufen. An den Krach hatten wir uns gewöhnt. Damals ahnte man noch nichts von Langzeithörschäden. Außerdem war der Autoverkehr lange nicht so schlimm wie heute.
So lagen wir oft nachts nebeneinander und konnten uns alles erzählen. Die intimsten Geheimnisse vertrauten wir uns an, stundenlang war sie bereit, mir zuzuhören, das eine oder andere zu- oder abzuraten und kurz vor dem Einschlafen legte sie ihre Hand in die Mitte des großen Bettes, so dass ich mein Gesicht darauf legen konnte. Das gab mir das Gefühl der Geborgenheit und des Verstandenseins, was mich aber nicht davon abhielt, meine Pubertät voll auszuleben, alles besser wissen zu wollen, und ungeduldiger mit meiner Mutter zu sein, als sie es mit mir war.
Aber immer, wenn ich wieder mal auf die Nase gefallen war, wusste ich, wer mir beim Aufstehen helfen würde. Immer wieder meine Mutter.
SCHWÄNZEN
So ab der 2. Klasse verspürte ich – wie Millionen anderer Kinder – nicht immer Lust darauf, jeden Morgen in die Schule zu gehen. So kam auch ich, wie Generationen vor und nach mir, auf die glorreiche Idee, Bauch-, Kopf- oder sonstige Schmerzen zu erfinden. Morgens gejammert half für den ganzen Tag.
Natürlich durfte ich zu Hause bleiben und als erstes war Fiebermessen dran. Was wenig brachte, da ich erst mit 12 Jahren herausfand, dass neben einem geheizten Ofen Fieber zu messen sehr viel sicherer war. In den Jahren bis dahin musste ich mit Bauchschmerzen mein Glück versuchen. Zu meinem Leidwesen glaubte mir meine Mutter nicht immer. Manchmal hat sie Gnade vor Recht ergehen lassen und ich durfte zu Hause bleiben, das aber nur, wenn keine wichtigen Arbeiten anstanden.
Aber meine kluge Mutter hatte eine wunderbare Idee. Sie schenkte mir einen Tag im Jahr, an dem ich ohne Ausreden zu Hause bleiben dürfte. Einfach so. Ab diesem Zeitpunkt überlegte ich jedes Mal, wenn mich die Lust am Schwänzen überkam, ob ich diesen Tag nehmen solle. Aber ... Was wäre, wenn dann noch so ein Tag käme, an dem die Lust aufs Schwänzen viel größer wäre? Und dann wäre der Tag weg! Nein, so hob ich ihn mir jedes Mal wieder auf. Ich kann mich nicht erinnern, ihn je genutzt zu haben. Es hätte ja immer noch ein besserer Tag kommen können.
Mein Mann bot mir vor 2 Jahren an, dass er mir einen großen ganz besonderen Wunsch erfüllen wolle. Mir fiel bisher keiner ein, der so besonders wäre, dass ich ihn einlösen wollte. Dann wäre er ja weg und vielleicht käme dann noch irgendein anderer, viel wichtigerer daher. So blieb er bisher unerfüllt.
Manchmal denke ich, vor einigen Lieben hätte eine Fee kommen und mir Einhalt gebieten sollen. Mit der Aussicht, es käme noch eine nächste, viel bessere, größere Liebe. Ich hätte mir so manchen Irrtum und Kummer ersparen können. Andererseits, wenn ich mich wie als Kind verhalten und immer abgewartet hätte, würde ich heute noch auf die Liebe warten.
Und das wäre verdammt schade, schade auch um manchen gelebten Irrtum.
MEINE GROßELTERN
Meine Großmutter war eine sehr resolute Frau. Mit ihrem grauen Haarkranz, kräftigen Hüften und imponierendem Busen wirkte sie in der kleinen Zweizimmerwohnung noch gewaltiger, als sie war. Sie sprach immer sehr laut, was an der Schwerhörigkeit meines Großvaters lag. Er war klein und schmächtig, wirkte fast demütig neben meiner Großmutter. Seine Stirn war immer in Falten gelegt, was seinem Gesicht einen erstaunten, fast erschrockenen Ausdruck verlieh.
Beeindruckend waren seine mächtig abstehenden Ohren, die er einem entgegenstreckte, wenn er – wieder einmal – kein Wort verstanden hatte. Aber meist machte er sich gar nicht mehr die Mühe, dem Unverstandenen nachzuforschen, er nickte der Einfachheit halber oder brummelte freundlich etwas Zustimmendes vor sich hin. Das wiederum rief den Unmut meiner Großmutter hervor, die nach 50 gemeinsam verlebten Jahren ihren Mann besser kannte, als sich selbst.
Kennengelernt hatten sie sich mit 16. Großvater war ihr Erster und – wie sie betonte – Letzter. Mit 18 heirateten sie. Großvater arbeitete sein Leben lang bei der Bahn als Beamter. Daran änderte auch der Krieg nichts. Man befand ihn als zu klein für einen deutschen Soldaten. Ich habe nie gehört, dass er das in irgendeiner Weise bedauert hätte. So lebten meine Großeltern ein Leben, in dem sich nur die Jahreszeiten änderten. Jeden Morgen, nachdem Großvater seine Mehlsuppe gegessen hatte, ging er zur Arbeit, begleitet von den wohlwollend ermahnenden, lautstarken Worten meiner Großmutter.
Er solle nicht vergessen, die Brote aufzuessen, vorsichtig über die neue Kreuzung zu gehen und die Mütze nicht wieder liegen zu lassen. Wenn er weg war, räumte Großmutter die Wohnung auf, schwatzte zwischendurch ausgiebig mit der Nachbarin über die Nachbarn, ging einkaufen und kochte für den Abend vor.
Punkt 15 Uhr trank sie eine Tasse Kaffee, legte danach die Schürze ab und zog sich eines der beiden festlichen Kleider an, die sie besaß, beide großgeblümt, aus leichtem Stoff in hellen Farben. Dazu eine Bernsteinkette, nur sonntags die mit den Perlen. Sorgfältig kämmte sie ihr Haar und wirkte ab 15.30 Uhr um Jahre jünger. Immer wieder sah sie kurz in den Spiegel, öffnete dann das Fenster, legte ein Kissen auf die Fensterbank und blickte erwartungsvoll die Straße entlang, als würde etwas ganz Ungewöhnliches geschehen.
Punkt 16 Uhr bog Großvater um die Ecke und sah gespannt nach oben. In diesem Moment jubelte Großmutter ihm ein, durch heftiges Winken begleitetes: »Huhu!« entgegen, das Großvater mit einem kurzen Heben der Hand beantwortete. Dann eilte sie zur Wohnungstür, um seine Schritte auf der Treppe zu verfolgen, ihn begeistert in die Arme zu schließen, als hätte sie ihn wochenlang nicht gesehen und auch nicht mehr mit seiner Rückkehr gerechnet. Undenkbar für uns, dass sie einen anderen Mann auch nur angesehen hätte.
Erst auf ihrem Sterbebett erwähnte sie einen Offizier, mit dem sie einmal spazieren gegangen sei. Natürlich war da nichts weiter, aber ein ruhiges Gewissen habe sie erst jetzt, wo sie es endlich gebeichtet habe und auf Großvaters Vergebung hoffe. Sie hatte viel leiser gesprochen als sonst. Großvater schwieg und lächelte, wie er meist lächelte, wenn er nichts verstanden hatte.
Nach Großmutters Tod hatte Großvater plötzlich viel Zeit. Er kümmerte sich nur noch um seinen Garten, der am Rande der kleinen Stadt lag. Jeden Tag ging er in die Laubenkolonie, versorgte seine Blumen; und bog Punkt 16 Uhr um die Ecke seiner Straße.
Immer noch den Kopf erwartungsvoll nach oben gerichtet.
Familientisch
Noch einmal am Familientisch
mit Vaters Sonntagsbraten
er hat von seiner Weihnachtsgans
nie das Rezept verraten.
Noch einmal satt mit dem Glas Wein
in Mamas Sessel fallen
willkommen und verstanden sein
der schönste Platz von allen.
Es lebe der Familientisch
er soll noch lang bestehn
weil immer einer vor der Zeit
aufstehn muss und gehn.
MEINE GROßELTERN II
Meine Großeltern hielten es für selbstverständlich, dass die Familie sie regelmäßig besuchte. So mussten wir sonntags zum Kuchenessen und Doppelkopfspielen antreten: »Oh, bist du groß geworden! Bist du auch brav?!«, riefen sie jedes Mal fast wie aus einem Munde und umarmten mich heftig.
Über die Welt wurde da nicht groß geredet. Meine Mutter versuchte manchmal von ihrer Arbeit zu erzählen, von den bedrohlichen Geschehnissen in der Welt, die doch alle beschäftigten, oder wie wichtig es ist, sich für den Frieden einzusetzen. Meine Großeltern schauten sie nur gelangweilt an, zumal sie der Meinung waren, Frauen sollten sich nicht mit diesen Dingen beschäftigen. Gut kochen können und lieb zum Ehemann sein, das genügte voll auf.
»Ja, Krieg ist schlimm«, klagte meine Großmutter einmal. »Wir haben auch Opfer für den Krieg gebracht: jeden Monat fünfundzwanzig Mark für einen Bauernhof in der Ukraine, den wir dann nie gesehen haben!« Das Gesicht meiner Mutter verzog sich.
»Und was wäre aus den Bauern geworden, die vorher ihr Zuhause dort hatten?« Meine Großmutter winkte ab »Na, die kannten wir ja gar nicht, hätten die auch nie zu sehen bekommen.«
Meine Mutter schaute sie einen kurzen Augenblick unverwandt an, schluckte zweimal, sah den drohenden Blick ihres Mannes, der kein Wort gegen seine Eltern duldete, es sei denn, es kam von ihm.
Dann wandte sie sich an meinen Großvater und fragte ihn so freundlich wie möglich: »Was machen denn deine grünen Bohnen dieses Jahr? Sofort sprang meine Großmutter auf. Und noch bevor mein Großvater richtig antworten konnte, kam sie mit einer Tüte grüner Bohnen aus der Küche.
»Hier, Mädel, sowas gibt es nicht zu kaufen! Koch deinem Mann mal was Schönes«, und dann mit liebevollem Blick zum Großvater, »Gut, dass wir wenigstens unseren Garten haben!«
Wir sind an diesem Sonntag nicht mehr lange geblieben.