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Schreiben und Lesen im Altisländischen

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Das Korpus der vorliegenden Arbeit ermöglicht eine umfassendere Analyse des Wortschatzes auf Basis der Frametheorie, da die Sagas und jeweiligen Redaktionen aus unterschiedlichen Perioden stammen, was in einer Zeit des Wandels entscheidend ist. Die Sagas sind als Einzeltexte länger als Prologe oder einzelne Abschnitte, so dass eine gründlichere Analyse des Wortschatzes möglich wird. Bei den einzelnen Lexemen wurden in der bisherigen Forschung die syntagmatischen Relationen nur ansatzweise berücksichtigt. Diese sind gerade für die Strukturierung des Frames massgebend. Verschiedene entscheidende Aspekte der bisherigen Forschung sind mögliche Attribute eines Leseframes: LESER, SCHRIFT, TEXT, ZUHÖRER, STIMME, SCHRIFTTRÄGER, SPRACHE, KÖRPER, GEFAHR, GEDÄCHTNIS und RAHMEN. Den Leser unterscheidet Green (2007) in einen ocular, oral und aural reader, wobei die Hörbarkeit der Stimme gerade beim individuellen Lesen selten gesichert ist. Bei der Kollokation lego ab illo ist der Begriff aural reader verwendbar, aber bei verba audiendi ist es unabhängig von der Sprache fraglich, wie man einen aural reader von einem Zuhörer unterscheiden kann. Ich halte es deshalb für sinnvoller, in Leser und Zuhörer zu unterscheiden.

Die folgenden Kapitel ordnen sich nach dem Verb lesa und den Partikelverben lesa upp und lesa yfir, sowie den verba videndi sjá und líta á. Zuletzt folgt das Partikelverb bera fram.

2. lesa

Das bei weitem häufigste auf das Lesen referierende Verb im Altisländischen ist lesa. Es ist gemeingermanisch, wobei die Bedeutung ‚Schrift lesen‘ jedoch nur im Deutschen und Nordgermanischen vorhanden ist (vgl. ahd./as. lesan ‚sammeln, lesen‘), während sie in got. lisan ‚sammeln‘ und aengl. lesan ‚auflesen, sammeln‘ fehlt, so dass urgerm. *lesana- wohl nur ‚sammeln‘ bedeutete. Die Bedeutung ‚Schrift lesen‘ stammt höchstwahrscheinlich aus dem Lateinischen, weil das Verb legere ebenfalls neben ‚lesen‘ auch ‚sammeln‘ bedeutet, und wurde zuerst in das Althochdeutsche bzw. Altsächsische und von da weiter ins Altnordische entlehnt (vgl. Bjorvand/Lindeman 2007: 652, Blöndal 2008: 557f., de Vries 1962: 353, Georges 1998: II, 606–608, Kluge/Seebold 2011: 573).

Die daraus entstandene Polysemie von anord. lesa wird in den Wörterbüchern von Baetke und Fritzner unterschiedlich dargestellt. Laut Baetke (2002: 376) hat lesa vier Bedeutungen, welche teilweise von den syntagmatischen Relationen abhängen, soweit das anhand der Beispiele erkennbar ist: 1. „zusammen-, auflesen, sammeln“ mit den Kollokationen „lesa ber“ ‚Beeren lesen‘ und „lesa e-t saman“ „etwas zusammenlesen“, 2. „(er-)greifen, nehmen“ mit den Subjekten „eldr“ ‚Feuer‘ und „skip“ ‚Schiff‘, dem Akkusativobjekt „haf“ ‚Meer‘ und den Adverbien „fram“ ‚vorwärts‘, „upp eftir“ ‚hinauf nach‘, 3. „Figuren einweben oder sticken“ mit der Ergänzung „á borða“ ‚auf dem Wandteppich‘ und 4. „lesen, verlesen“ mit den Partikelverben „lesa e-t upp“ „vorlesen“ und „lesa yfir“ „durchlesen, studieren“. Dabei wird zu wenig deutlich, dass die vierte Bedeutung ‚lesen‘ nicht nur von den Adverbien upp und yfir abhängt, wie zahlreiche Belege aus der bisherigen Forschung schon ergeben haben. Fritzner (1886–96: II, 485f.) unterscheidet drei Bedeutungen, wobei die ersten beiden von Baetke in Bedeutung 1. zusammengefasst werden: „tage for sig, tage fat paa noget lidt efter lidt, efterhaanden, det ene Stykke efter det andet“ ‚sich etwas nehmen, nach und nach, allmählich ergreifen, das eine Stück nach dem anderen‘ mit denselben Subjekten und Adverbien wie in Baetke, aber neben „skip“ mit den Objekten tróðviðr ‚Dachsparren‘, bára ‚Rinde‘, sviða ‚Art Spiess‘, blóm ‚Blume‘. Bedeutung 2. entspricht 3. in Baetke: „slynge, slaa, kaste“ ‚schlingen, schlagen, werfen‘ mit kaðalshlutr ‚Strickstück‘ neben borði ‚Wandteppich‘ als Akkusativobjekte. Bedeutung 4. in Baetke entspricht 3.: „læse“ ‚lesen‘ mit den Akkusativobjekten kirkjunnar lǫg ‚Kirchengesetz‘, sǫngr ‚Gesang‘ und dem Präpositionalobjekt á bók ‚auf dem Buch‘ und neben den Partikelverben in Baetke noch „lesa e-t fram“ ‚vorlesen („oplæse“)‘ und „lesa um (of) e-n“ ‚verleumden, schlecht über jemanden reden („bagtale en, tale ilde om nogen“)‘. Subjekt sind zum Teil Personennamen, Personalpronomina und die beiden Substantive „biskup“ ‚Bischof‘ und „meistari“ ‚Meister, Magister‘. Die Bedeutung ‚Schrift lesen‘ von lesa ergibt sich also zum Teil aus den syntagmatischen Relationen, obwohl beide Wörterbücher diesbezüglich keine klare Struktur vorgeben. Die Lexeme lǫg und sǫngr beziehen sich auf den Inhalt, bók auf den Schriftträger und das Subjekt auf den Leser. Der älteste Beleg von lesa in einem eindeutig schriftlichen Kontext mit dem Präpositionalobjekt á bók im ONP (lesa) stammt von 1270 (vgl. Cook/Tveitane 1979: 196). Im vorliegenden Korpus gibt es nur wenige Belege des Verbs lesa, wo die Bedeutung ‚Schrift lesen‘ sicher ausgeschlossen werden kann, wie beispielsweise in zwei Belegen der Jóns saga helga mit dem Akkusativobjekt ber ‚Beere‘ (vgl. JSH 102, 103) oder in der Laurentius saga biskups mit dem Adverb saman ‚zusammen‘ (vgl. LSB 45). Für die Bedeutung entscheidend ist vor allem das Akkusativobjekt, das in Beziehung zu etwas Schriftlichem stehen muss. Dieses dem Verb lesa gewidmete längere Kapitel analysiert zuerst die Belege in den einzelnen Sagas, in denen das Belegmaterial wiederum sehr heterogen ist, so dass jedes Teilkapitel zur jeweiligen Saga entsprechend strukturiert wird.

2.1. Die S-Redaktion der Jóns saga helga

Die S-Redaktion der Jóns saga helga hat sechs Belege von lesa an vier Stellen, welche in der Reihenfolge der Erzählung analysiert werden. Die erste Stelle (a.) nennt das Lesen der Leidensgeschichte Jesu in der Messe, die zweite (b.) einen Ovid lesenden Schüler, die dritte (c.) das Lesen eines Ereignisses und die vierte (d.) das Lesen der Messe und des Stundengebets.

Die erste Stelle mit zwei Belegen beschreibt ausführlich, wie ein Text in der Messe gelesen wird und gelesen werden soll:

a) en prestR saa er syngia skylldi messvna hof vpp at lesa passio J þvi er hinn helgi Ion kom ikirkivna en honvm geck lestrinn seinnt ok tregliga. en monnvm þotti þvngtt ok hofvgt at hlyða þeim er hia stoðv. En er hinn helgi Ion fann þat. at prestrinn var næsta gior at fyrir sion af monnvm. þaa leggR hinn helgi Ion stolv yfvir herðar ser ok gengR at prestinvm ok tok bokina or hendi honvm með litilæti ok las passiona sva skorvliga ok skynsamliga er allir vndrvðvz þeir er við vorv staddir (JSH 8).

Aber der Priester, welcher die Messe halten sollte, begann die passio zu lesen, als der heilige Jón in die Kirche kam. Aber seine Lesung ging langsam und schwerfällig voran und die Leute, welche dabei standen, fanden sie schwer und träge anzuhören. Aber als der heilige Jón merkte, dass der Priester davorstand zum Gespött der Leute zu werden, legt er die Stola über seine Schultern und geht zum Priester und nimmt mit Demut das Buch aus seiner Hand und las die passio so grossartig und verständig, dass alle staunten, die dabei standen (Übers. KM).

Das Subjekt des ersten Belegs im Aktivum ist der Priester (prestr), welcher die Messe hält, und gehört zum Attribut LESER. Das Akkusativobjekt enthält lat. passio ‚Leiden‘. Es handelt sich hierbei um die Leidensgeschichte Jesu, welche zu Beginn der Karwoche während der Palmsonntagsmesse nach dem Matthäusevangelium gelesen wird (vgl. Steingrímsson 2003: II, 184f., Anm. 4). Das Lexem passio ist folglich ein Wert für den INHALT des Textes, der metonymisch zum TEXT verschoben ist. Beim zweiten Beleg ist das Akkusativobjekt das gleiche, aber das Subjekt der Diakon Jón (Jón djákni), ebenfalls als LESER. Daneben gibt es als weitere Ergänzung noch zwei Adverbien skǫruliga ‚grossartig‘ und skynsamliga ‚verständig‘, welche die Art und Weise von Jóns Lesung ausdrücken. Wie der Priester liest, wird nicht als Ergänzung zu lesa ausgedrückt, sondern durch einen weiteren Satz: Das Verb lesa wird darin zu lestr substantiviert und bildet das Subjekt zum Verb ganga ‚gehen‘, ergänzt durch die Adverbien seint ‚langsam‘ und tregliga ‚schwerfällig‘. Der LESER bleibt bei dieser Substitution eine Leerstelle, ist aber schon aus dem vorherigen Satz bekannt. Im nächsten Satz wechselt die Perspektive auf die Art und Weise der Lesung vom Erzähler auf die Zuhörer. Dadurch kommt das Attribut ZUHÖRER mit einem Wert menn ‚Leute‘ ins Spiel, welches bei beiden Belegen von lesa eine Leerstelle bildet. Die Wahrnehmung der Zuhörer wird durch die beiden Adjektive þungt ‚schwer‘ und hǫfugt ‚träge‘ beschrieben, welche mit den Adverbien seint und tregliga partiell synonym sind. Auch Jóns Lesung wird noch einmal aus der Perspektive der Zuhörer beschrieben, nämlich dass diese seine Lesung bewunderten. An dieser Stelle wird einerseits die Kompetenz des Lesers beschrieben und andererseits die Wahrnehmung der Zuhörer. Beides geschieht über das Medium der Stimme. Die Adverbien und Adjektive sind folglich als Werte des Attributs STIMME zu betrachten. Im Kontext gibt es weitere Attribute, den SCHRIFTTRÄGER mit dem Wert bók ‚Buch‘, den ORT mit dem Wert kirkja ‚Kirche‘ und den RAHMEN mit dem Wert messa ‚Messe‘, welche ebenfalls zum Frame gehören könnten.

Der Wert bók für den SCHRIFTTRÄGER ist an der zweiten Stelle gleich bei zwei Belegen von lesa im Akkusativobjekt enthalten: b) „þa er sagtt at hann / kom aahlioð at KlængR Þorsteins s(on) […] las bok þaa er kavllvt er Ovidivs *Epistolarum. […] en hann bannaði honvm at lesa þesskonar bækR (JSH 19). ‚Dann wird erzählt, dass er [= Bischof Jón] zu hören bekam, dass Klœngr Þorsteinsson […] das Buch las, das Ovidius Epistolarum genannt wird, […] und er verbot ihm derartige Bücher zu lesen‘ (Übers. KM). Der erste Beleg im Aktivum hat Klœngr Þorsteinsson, einen jungen (ungr), angehenden Priester (prestlingr) als Subjekt. Das Akkusativobjekt bók ist zwar ein Wert für den SCHRIFTTRÄGER, aber metonymisch zum TEXT verschoben, zumal nicht der Schriftträger, sondern der Text darauf gelesen wird. Dies bestätigt der von bók abhängige Relativsatz, welcher sowohl den AUTOR Ovidius als auch den TITEL Epistolarum1 nennt. Somit kommen zwei neue Attribute hinzu, welche in den Attributframe des Textes gehören. Die Kollokation koma á hljóð ‚durch Hören erfahren, zu hören bekommen‘ (vgl. Baetke 2002: 260, Fritzner 1886–96: II, 13) deutet darauf hin, dass Klœngr Þorsteinsson laut las. Ihr Subjekt nennt zudem Bischof Jón als ZUHÖRER. Der zweite Beleg von lesa ist Teil eines Infinitivsatzes, dessen Agens wieder Klœngr Þorsteinsson ist. Akkusativobjekt ist þess konar bœkr. Das Genitivattribut bezieht sich auf den INHALT dieser Bücher, also Liebesgedichte (mansǫngr), welche Bischof Jón verboten hatte (vgl. JSH 19).

 

An dieser Stelle setzt sich der Frame folgendermassen zusammen: Das Agens steht für das Attribut LESER. Das Lexem bók ist ein Wert für das Attribut TEXT. Im Kontext werden verschiedene Werte für den Attributframe genannt: Ovidius als Wert für den AUTOR, Epistolarum für den TITEL und mansǫngr für die TEXTSORTE. Bók als SCHRIFTTRÄGER gehört ebenfalls in diesen Attributframe. Das Lexem hljóð ‚Laut, Klang, Stimme‘ (vgl. Baetke 2002: 260) benennt ausserdem das Attribut STIMME. Auch die von Schnyder (2006: 437f.) thematisierten Gefahren des Lesens werden im Kontext erwähnt, nämlich dass die Lektüre der Liebesgedichte, die Wollust unnötig verursache (vgl. JSH 19). Somit kommt hier noch ein weiteres Attribut GEFAHR mit den Werten líkamlig munúð ‚körperliche Lust‘ und rǫng ást ‚falsche Liebe‘.

An der dritten Stelle ist bók nicht mehr Thema von lesa, sondern atburðr ‚Ereignis‘:

c) En hinn næsta dag eptir þaa komv afvnd. heilags J(ons) byskvps þeir menn er þaa vorv nykomnir af hafi ok færðv honvm bok eina. aa þeiri bok var sa atbvrðr ritaðr er aa þessv landi var þaa miok okvnnR. […] Ok er h(eilagr) Jon byskvp ok Rikini prestr havfðv lesit þenna atbvrð þaa mællti prestrinn við byskvp brosandi (JSH 26).

Aber am nächsten Tag danach kamen Männer zu Bischof Jón, die neulich vom Meer her gekommen sind, und brachten ihm ein Buch. In diesem Buch war das Ereignis aufgeschrieben, welches in diesem Land noch völlig unbekannt war. […] Und als der heilige Bischof Jón und der Priester Ríkinni dieses Ereignis gelesen hatten, sprach der Priester lächelnd zum Bischof (Übers. KM).

Subjekt sind hier zwei Personen, Bischof Jón und Priester Ríkinni. Akkusativobjekt lautet þenna atburð ‚dieses Ereignis‘. Das Demonstrativpronomen verweist auf den vorhergehenden Satz á þeirri bók var sá atburðr ritaðr ‚auf diesem Buch war dieses Ereignis geschrieben‘ (s. a. Kap. II.2.1.c.), d.h. atburðr ist in diesem Satz ein Wert für den INHALT und bók für den SCHRIFTTRÄGER. Diese beiden Attribute gehören in den Attributframe Text, und atburðr ist wieder metonymisch zum TEXT verschoben. Mit diesem Text ist die im Mittelalter weit verbreitete Erzählung Flagellacio crucis in Berytho gemeint, welche auch auf Isländisch in zwei Handschriften erhalten ist (vgl. Steingrímsson 2003: II, 232f., Anm. 1).

Das Besondere an diesem Beleg ist, dass zwei Personen lesen. Green (2007: 10) erwähnt ebenfalls Fälle, in denen mehrere Personen gemeinsam lesen, die auch in Illuminationen abgebildet sind. Die Interpretation ist bei dieser Praxis allerdings schwierig, da drei Möglichkeiten in Frage kommen: 1. Alle lesen gleichzeitig, 2. sie lesen einander abwechselnd vor oder 3. eine Person liest den anderen vor. Diese drei Möglichkeiten kommen auch bei Jón und Ríkinni in Frage, so dass nicht sicher zu entscheiden ist, wer Leser und wer Zuhörer ist.

Die vierte Stelle ist als einzige in der ältesten Handschrift S1 erhalten, von der sich S2 aber nicht unterscheidet:

d) A þessi sømu tið var BraNdr byskup siukr mioc sva at haN matti eigi leidaz til kirkiv oc let haN lesa tiðir oc messo i herbergi sínv. þetta var afyrstv vikv faustv oc sva gort bæði mið viku dagiN oc fimta dagiN (JSH 37).

Zur gleichen Zeit war Bischof Brandr sehr krank, so dass man ihn nicht in die Kirche bringen konnte. Und er liess Stundengebet und Messe in seinem Zimmer lesen. Dies war in der ersten Fastenwoche und wurde am Mittwoch und Donnerstag so gemacht (Übers. KM).

Lesa ist bei diesem Beleg Teil der Kausativkonstruktion mit láta ‚lassen‘ + Inf. Subjekt bzw. Causer ist Bischof Brandr als AUFTRAGGEBER. Das Agens bildet eine Leerstelle. Das Akkusativobjekt tíðir ok messu ‚Stundengebet und Messe‘ enthält Werte für das Attribut RAHMEN. Damit wäre ein Wert des Rahmens metonymisch zum TEXT verschoben, d.h. der Text, der in diesem Rahmen gelesen wird. Das Rezitieren sakraler Texte stellt aber nur einen Teil der Messe dar (vgl. Johansson 1967: 163–171). Bei lesa messu handelt sich deshalb viel eher um eine Synekdoche und steht somit für das Abhalten der Messe bzw. des Stundengebets. Zusätzlich wird auch der Wert herbergi ‚Zimmer‘ für das Attribut ORT im Präpositionalobjekt í e-u genannt, der bei diesem Beleg vom wahrscheinlichen Defaultwert kirkja ‚Kirche‘ abweicht, weil Bischof Brandr zu krank ist, um in die Kirche zu gehen. Das Verb lesa wird im nachfolgenden Satz durch gera ‚machen‘ im Passiv substituiert, welches die Zeitangaben miðvikudaginn ok fimmtadaginn ‚am Mittwoch und Donnerstag‘ hat, welche diese Abweichung zeitlich einschränken. Folglich gibt es auch ein Attribut ZEIT.

Der Kernframe von lesa in der S-Redaktion der Jóns saga helga besteht aus den Attributen LESER und TEXT. Die Werte für den LESER als Agens sind geistliche Ränge wie prestlingr, prestr und biskup. Die Werte für den TEXT sind metonymisch verschoben, denn bók ist primär ein Wert für den SCHRIFTTRÄGER sowie atburðr und passio solche für den INHALT. Im Kontext ist eine Reihe von weiteren Attributen vorhanden, welche aber keine Ergänzung von lesa bilden, sondern zum Attributframe TEXT gehören, wie weitere Werte aus dem Kontext, zum Beispiel mansǫngr für die TEXTSORTE, Ovidius für den AUTOR oder Epistolarum für den TITEL. Einen Sonderfall stellen die Werte messa und tíðir dar, welche eigentlich zum Attribut RAHMEN gehören. Es handelt sich erstens um eine Metonymie vom RAHMEN zum TEXT und zweitens um eine Synekdoche vom Lesen zum Abhalten des Rituals. Die Kollokation lesa messu/tíðir unterscheidet sich also semantisch von den übrigen. Beim Messe- bzw. Stundengebetframe spielt der Wert herbergi für das Attribut ORT eine Rolle, weil er vom Defaultwert kirkja abweicht. Die Kausativkonstruktion mit láta + Inf. verweist auf ein weiteres Attribut AUFTRAGGEBER mit dem Wert biskup.

Das Attribut STIMME, das möglicherweise das Lexem hljóð bezeichnet, bildet nicht in allen Belegen eine Ergänzung von lesa, hat aber eine grosse Reihe von Werten: skǫruliga und skynsamliga. Ähnliche Adverbien befinden sich im Kontext: seint, tregliga, þungt und hǫfugt. Es ist an dieser Stelle des Analyseteils noch nicht möglich einen Defaultwert festzulegen, zumal die Stimme auch von der Situation abhängig ist. Das lässt vermuten, dass zwischen den Werten der Attribute RAHMEN und STIMME ein Constraint besteht.

Der Kontext liefert noch weitere Attribute, welche zum Frame gehören könnten: die ZEIT mit Wochentagen als Werten, den ZUHÖRER mit den Werten biskup, menn und möglicherweise prestr und die GEFAHR mit den Werten líkamlig munúð und rǫng ást.

Die Konstruktion lesa e-t + Adv. verbindet soweit lediglich die Attribute LESER, TEXT und STIMME, die Kollokation láta lesa messu/tíðir í e-u die Attribute AUFTRAGGEBER, RAHMEN und ORT.

2.2. Die L-Redaktion der Jóns saga helga

Die L-Redaktion hat elf Belege von lesa. Drei Stellen der S-Redaktion kommen auch hier vor und werden deshalb als erstes analysiert. Darauf folgen das Lesen von lateinischen Heiligenlegenden, von Gebeten und der heiligen Schrift. Der Übersichtlichkeit halber wird dieses Kapitel nach den Kollokationen in Unterkaptiel unterteilt.

2.2.1. lesa passionem ‚die Passion lesen‘

Die Stelle mit der Lesung der Leidensgeschichte Jesu mit zwei Belegen von lesa ist der S-Redaktion zwar inhaltlich und syntaktisch ähnlich (vgl. Kap. III.2.1.a.), hat aber einige lexikalische Unterschiede:

bar sua til at prestr sa er las waars herra passionem. bar seint fram ok stirðliga ok eigi miok rett þessa haaleitu þiǫnastu. styggiandi miǫck eyru viðrstandanda lyðs meðr sinum leiðiligvm lesningi. / Sem Ion diackn heyrði hans lestr. ok ser at prestrin fæR her af nockurn sua kinn roða ok fyrirlitning. Hrærezst hans millda hiarta til dugnaðar við prestinn. Geingr af þui fram meðr litillatum likams burð. tekr bockina stilliliga af prestinum. les siðann sua sniallt ok skiallt. rett ok greiniligha. at konungrinn ok allir uidrverandi undruðu mickilliga hans listuligann fram burð (JSH 61f.).

Es geschah nun, dass der Priester, welcher die Passion unseres Herrn las, diesen erhabenen Dienst langsam, steif und nicht sehr richtig vorbrachte und die Ohren der anwesenden Leute mit seiner hässlichen Lesung sehr störte. Als der Diakon Jón seine Lesung hörte und sah, dass der Priester deshalb rot im Gesicht und geringgeschätzt wurde, wurde sein mildes Herz dazu bewegt dem Priester zu helfen. Er geht deshalb nach vorne mit einer demütigen Körperhaltung, entnimmt dem Priester still das Buch und liest dann so gewandt und vernehmlich, richtig und deutlich, dass der König und alle Anwesenden sehr über sein geschicktes Vorbringen staunten (Übers. KM).

Subjekt des ersten Beleges ist der Priester (prestr) und jenes des zweiten der Diakon Jón (Jón djákni), jedoch hat nur der erste Beleg ein Akkusativobjekt mit dem Substantiv passio, einem Wert für den INHALT, der metonymisch zum TEXT verschoben ist. Beim zweiten Beleg ist diese Stelle leer. Es muss sich aber wie in der S-Redaktion um denselben Text handeln. Wie in der S-Redaktion ist der zweite Beleg in der L-Redaktion mit zwei Adverbienpaaren ergänzt: snjallt ok skjallt ‚gewandt und vernehmlich‘ und rétt ok greiniliga ‚richtig und deutlich‘. Diese bilden auch hier Werte des Attributs STIMME. Die Werte für die STIMME des Priesters sind hingegen die drei Adverbien seint ‚langsam‘, stirðliga ‚steif‘ und eigi mjǫk rétt ‚nicht sehr richtig‘, welche aber nicht lesa sondern von bera fram ‚vorbringen, vortragen‘ abhängen. Die Perspektive der Anwesenden wird ebenfalls einbezogen, deren Ohren durch die hässliche Lesung (leiðiligr lesningr) – hier wieder eine Substantivierung von lesa mit Adjektiv – gestört werden. Dieses Adjektiv leiðiligr ‚hässlich‘ kann ebenso als Wert dem Attribut STIMME zugeordnet werden. Jóns Lesung wird zusätzlich aus der Perspektive der Anwesenden beschrieben, indem das Verb bera fram zu framburðr ‚Vorbringen, Vortrag‘ substantiviert und mit dem Adjektiv listuligr ‚geschickt‘ versehen wird, so dass mit diesem Adjektiv ein weiterer Wert hinzukommt. Die Verben bera fram und lesa haben die gleiche Extension, was auch für deren Substantivierungen lesningr und framburðr gilt. Alle vier Lexeme teilen sich das Attribut STIMME, welches bei den Verben als Adverb und bei den Substantiven als Adjektiv ergänzt wird. Lesa ist semantisch breiter, weil es die Konzepte ENTZIFFERN und VORTRAGEN verbindet, während sich bera fram nur auf letzteres beschränkt.

Wie schon in der S-Redaktion ergeben sich auch aus dem Kontext noch weitere Attribute: So werden der SCHRIFTTRÄGER bók ‚Buch‘, die ZUHÖRER viðrstandandi lýðr ‚anwesende Leute‘ bzw. viðrverandi ‚Anwesende‘ und auch der RAHMEN messa ‚Messe‘ erwähnt. Der Frame ist in beiden Redaktionen trotz der lexikalischen Unterschiede gleich zusammengesetzt, bestehend aus LESER, TEXT und STIMME.