Die neunschwänzige Katze

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Die neunschwänzige Katze
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Kendran Brooks

Die neunschwänzige Katze

9. Abenteuer der Familie Lederer

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Vorgeschichte

Dezember 2013

Februar 2014

April 2014

Juni 2014

Verhängnisvolle Fehler

Niederkünfte

Ausflüchte

August 2014

Impressum neobooks

Vorgeschichte

»Du kommst spät.«

Holly Peterson versuchte, ihre Stimme nicht vorwurfsvoll klingen zu lassen, sondern eher gleichgültig, was ihr ganz gut gelang. Sheliza blieb trotzdem im Flur stehen, als wäre sie gegen eine Wand gelaufen, blickte ihre Ersatzmutter wie ertappt an, schaute dann betreten auf die Holzdielen.

»Ja«, bekannte sie stockend, »ich hab nach dem Gebet noch mit ein paar Frauen geplaudert und die Uhrzeit darüber vergessen.«

Sheliza bin-Elik, die Vierzehnjährige aus Syrien geflohene Alawitin, war von Henry Huxley nach London mitgenommen worden. Sie war eine Waise, besaß nur noch ihren Groß-Onkel Jussuf, der jedoch in der Türkei in Untersuchungshaft saß und einer langjährigen Haftstrafe entgegenblicken musste. Darum hatte Henry Huxley das Mädchen nach Großbritannien eingeladen und zu sich nach Hause genommen, doch nicht nur deswegen. Denn Sheliza hatte sich im letzten Sommer in einen sunnitischen Flüchtlingsjungen verliebt und trug seit drei Monaten dessen Kind unter ihrem Herzen. Der zukünftige Vater jedoch wollte weder von der angehenden Mutter noch vom heranwachsenden Baby etwas wissen, verstieß sie beide, wollte um nichts in der Welt die Verantwortung tragen, hatte nach seiner Aussage bloß den Spaß und die Bestätigung seiner Männlichkeit gesucht. Für die so junge Alawitin kam jedoch eine Abtreibung nicht in Frage.

»Ist schon gut«, tröstete Holly Peterson das Mädchen, nickte ihr freundlich lächelnd zu, »ich hatte allerdings gehofft, du hilfst mir beim Backen.«

Weihnachten stand vor der Tür und die Lebensgefährtin von Henry Huxley wollte das erste Mal seit vielen Jahren ein Frohes Fest mit allem Drum und Dran feiern, nun, da sie dank Sheliza unverhofft zu einer kleinen Familie zusammengefunden hatten.

»Bitte entschuldige. War keine Absicht.«

Noch immer sah die junge Alawitin auf den Dielenboden, wirkte jedoch nun nicht mehr demütig, sondern eher trotzig. Vielleicht behagten ihr als gläubige Muslimin die Aussicht auf ein Fest nach christlicher Tradition wenig. Womöglich machte sie sich aber auch bloß Sorgen um ihr Kind, auch um ihre eigene Zukunft. Wer vermochte schon in eine Vierzehnjährige hinein zu blicken?

Endlich nahm sie den Niqab ab, hob danach den Halsausschnitt ihres Abaya über den Kopf und zog ihn über die Schultern vom Körper. Darunter kamen braune Halbschuhe, eine gelbe Stoffhosen und ein dicker, knallroter Wollpullover zum Vorschein, allesamt nicht modisch, auch nicht modern, sondern altbacken langweilig.

Holly hatte einige Versuche unternommen, über die Kleiderfrage näher an die Jugendliche heran zu kommen, sie für sich zu gewinnen, sie auf ihr neues Leben im Westen vorzubereiten. Doch alle ihre Vorschläge und Anregungen fruchtete bislang nicht, schienen eher das Gegenteil zu bewirken, weckten in Sheliza den Trotz, führten bis zur völligen Ablehnung aller westlichen Sitten in Fragen der Kleidung. In Syrien hatte sie sich in ihrer Schulklasse noch geweigert, den Niqab zu tragen. Hier in London war er ihr dagegen Schutz vor einer Umwelt, in der sie sich bislang zwar sicher, jedoch nicht wirklich wohl fühlte.

»Willst du eine heiße Schokolade? Die Plätzchen sind seit einer halben Stunde fertig gebacken und nun genügend abgekühlt.«

Sheliza schüttelte stumm und ablehnend ihren Kopf, sah endlich vom Boden auf und der aparten Britin von Mitte vierzig ins Gesicht.

»Nein danke, Holly. Denn wir essen doch bestimmt gemeinsam zu Abend, sobald Henry zurück ist, oder?«

Henry Huxley verdiente sich sein Geld mit Geheimnissen, genauer gesagt, mit der Auflösung derselben. Seine Einkünfte waren zwar unregelmäßig, doch mehr als ausreichend. So war er, ähnlich wie sein guter Freund Jules Lederer aus der Schweiz, finanziell seit vielen Jahren unabhängig, was nicht bedeutete, dass er seine Leidenschaft mit Mitte sechzig aufgegeben hätte. Doch während die allermeisten Werktätigen zu festen Zeiten ihrer Arbeit nachgingen und ihre Einkünfte im Dienste eines Arbeitgebers oder von Kunden erwarben, traf der Brite seine vielen Kontakte wann immer möglich, gab Informationen weiter, erfuhr neue, hielt so seinen Daumen am Puls der Hauptstadt, an den Kreuzungspunkten ihrer Nervenstränge, wo sich Politik und Wirtschaft allzu oft mit dem Verbrechen trafen.

Sheliza ging in ihr Zimmer, lächelte Holly beim Vorbeigehen wortlos zu.

Die Britin hatte jahrelang unter dem Pseudonym Saxxon Paris als Edel-Escort-Girl gearbeitet, war noch kein Jahr mit Henry Huxley zusammen. Sie war gegen eins achtzig groß, besaß die reifen Formen einer aufregenden Milf, konnte vornehm wie eine Königin auftreten und schreiten wie ein Model auf den Parisern Laufstegen, war intelligent und dazu auch noch klug, verkörperte für viele ihrer früheren Kunden das Idealbild einer Geliebten, zu schön, zu anspruchsvoll, zu anstrengend, um mit ihr ein Leben zu verbringen, jedoch genau richtig für ein paar Tage Ausspannen auf Hawaii oder zwei Wochen Skiurlaub in St. Moritz.

Für Henry sollte Holly ursprünglich einen heiklen Auftrag übernehmen, der jedoch nicht zu Stande kam. Stattdessen verliebten sich die beiden ineinander, zogen wenig später in eine geräumige Wohnung im Stadtteil Mayfair. Die junge Sheliza wollten die beiden so rasch als möglich adoptieren, hatten dazu auch den Segen von Jussuf, ihrem Groß-Onkel, erhalten, mussten sich jedoch erst noch mit den syrischen, türkischen und britischen Gesetzen arrangieren, was wohl noch viele Monate dauern würde. Denn in Syrien war eine Adoption von Muslimen durch Christen verboten, in der Türkei derzeit zumindest theoretisch noch möglich und Großbritannien sah darin keinen Hinderungsgrund. Doch welches Land und welche Rechtsauffassung waren ausschlaggebend für das Schicksal einer jungen Alawitin, die vor dem Bürgerkrieg über die Türkei nach London geflohen war?

Aus dem Zimmer von Sheliza schallte Musik auf den Flur. Auf der Stirn, der immer noch nachdenklich unter der Küchentür stehenden Holly, zeigten sich Furchen und ihre Mundwinkel verhärteten sich. Denn statt Pop, Rock, Country oder Hip-Hop klang wieder diese grässliche orientalische Musik mit heptatonischer Tonleiter an ihre Ohren, dröhnend gespielt von schrillen Schalmeien und dumpfen Trommeln, mit einem arabisch klingenden Singsang, deren Inhalt die Britin nicht verstand, deren harte, abgehackte Vokale in ihr jedoch stets eine gewisse Unruhe erzeugten, ein anschwellendes Unbehagen, wie eine drohende Gefahr, die sich langsam an einen heranschlich, ohne dass man sie bislang klar erkennen konnte.

»Mach dich nicht verrückt«, sagte sie gar nicht leise zu sich selbst und ging dann zurück an den Herd, rührte dort die Bratensoße um, in die sie die Rinderrouladen garen wollte, welche sie aus Rücksicht auf Sheliza selbstverständlich ohne Speck zubereitet hatte.

Sheliza bin-Elik musste sich erst noch in den Takt der westlichen Millionenstadt einleben. Davon war die Britin überzeugt. Denn die bisherigen Teenager-Jahre hatte die gläubige Alawitin in einer kleinen Gemeinde im Norden von Syrien verbracht, einem Ort ohne Diskotheken, ohne Bars, ohne Internet-Kaffees, mit einem einzigen Kinosaal, der von einem Imam geleitet wurde und der darum ausschließlich religiös erbauende Filme aus dem arabischen Raum aufführte. Al-Busayrah war wie eine Kapsel für die junge Muslimin gewesen, ein Ort ohne echten Kontakt nach draußen, in die Welt hinaus, ein Ort, wo das Seelenheil jedes Einzelnen als weit wichtiger gewertet wurde als jeder wirtschaftliche Erfolg.

Dschihadisten, von der sunnitischen Mehrheit herbeigerufen, hatten diesem beschaulichen Leben ein jähes Ende gesetzt. Sie überfielen die Stadt und begannen sogleich, die Christen und Alawiten auszurotten. Auch die Familie bin-Elik fiel ihnen zum Opfer, mit Ausnahme ihres Groß-Onkels Jussuf. Mit ihm zusammen war Sheliza in die Türkei entkommen.

Bestimmt taute die Muslimin auf, sobald ihr Kind zur Welt gekommen war, sobald sie für einen jungen Erdenbürger die Verantwortung übernehmen musste.

Sheliza war aufgeweckt, machte riesige Fortschritte in Englisch, würde ab Januar eine reguläre Schule im Quartier besuchen können. All dies musste Einfluss auf sie ausüben, musste sie verändern, sie aus ihrer Erstarrung lösen, in die sie seit ihrer Ankunft in London gefallen war, angesichts all der öffentlichen Obszönitäten, welche die europäische Hauptstadt mitprägten, angefangen bei den Plakatwänden mit halbbekleideten Frauen und Männern, über die Pfützen von Erbrochenem auf den Gehsteigen an jedem Samstagmorgen, bis hin zu den Minirock tragenden, Zigaretten rauchenden, stark geschminkten, meist älteren Frauen in den Gassen von Soho und Shepherd Market. Holly und auch Henry hatten viel mit dem Mädchen darüber geredet und diskutiert, über all den Schmutz und den Sittenverfall, über das Für und das Wider einer offenen Gesellschaft, über das Miteinander völlig unterschiedlicher Ansprüche und Lebensweisen. Noch fehlten bei Sheliza Einsicht und Toleranz. Nicht verwunderlich für einen Teenager. Man musste ihr einfach mehr Zeit lassen.

 

Henry Huxley kam nach Hause, wurde von Holly mit einem Kuss begrüßt.

»Ich kann in zehn Minuten anrichten.«

»Ist gut, Liebling. Ist Sheliza zurück?«

»Ja, selbstverständlich, auf ihrem Zimmer.«

Mehr sagte Holly nicht, wollte nicht unnötig einen schlafenden Hund wecken, kannte ihren Henry längst gut genug, wusste, dass er der jungen Muslimin womöglich nachspionieren würde, falls er von ihrem häufigen Ausbleiben erfuhr und von all den nicht eingehaltenen Vereinbarungen der letzten Wochen.

Man muss, wann immer möglich, den Menschen, die einem nahe stehen, Vertrauen entgegenbringen. Denn wie könnten wir ohne Vertrauen zusammenleben?

Holly Peterson hielt sich an ihren Grundsatz, der sich meistens bewährt hatte, zumindest, solange es sich nicht um einen ihrer Kunden von früher handelte, sondern um hart arbeitende Menschen, die sich ihren Lebensunterhalt noch selbst verdienten. Denn wer für sich und seine Familie Verantwortung übernahm, der ging auch mit anderen Menschen behutsam um.

»Das wird schon«, beantwortete sie sich selbst die nicht gestellte Frage.

»Ist was?«, schallte es von Henry und vom Sofa aus in die offene Küchenzeile hinüber.

»Nein, alles Bestens.«

Dezember 2013

Es war bislang kaum Schnee gefallen und trotzdem war Weihnachten allgegenwärtig. Die Geschäfte hatten sich herausgeputzt, mit Plastik-Tannengirlanden und bunten Lichtern. Die Verkäuferinnen lächelten besonders freundlich, vielleicht in Erwartung einer möglichst fetten Umsatzprovision, bevor der Start der Ausverkaufssaison nach dem Boxing Day begann. Selbst die Passanten auf den Gehsteigen schienen beschwingter, auf jeden Fall jedoch umsichtiger und zuvorkommender als die übrige Zeit im Jahr. Niemand wollte es sich mit dem Christkind verderben, nicht einmal die Muslimen, Juden, Buddhisten und Hindi.

Henry Huxley, Holly Peterson und Sheliza bin-Elik waren im Harrods unterwegs, hatten sich mit der passenden Winterbekleidung für die Vierzehnjährige herumgeschlagen, hatten sie zum einen oder anderen Stück überreden können. Zumindest vor Holly zeigte die junge Muslimin bislang keine Scheu, akzeptierte sie auch in den Umkleidekabinen, war für ihren Ratschlag durchaus dankbar, auch wenn sie sich stets für das langweiligste und damit auch günstigste Teil aus einer Auswahl entschied.

»Hier ist alles so furchtbar teuer«, meldete Sheliza ihre Bedenken immer wieder an, »eine wollene Mütze für achtzig Pfund? Das sind doch Halsabschneider.«

Die Britin lächelte jeweils nachsichtig, wiegelte ab, fand auch aufmunternde Entschuldigungen oder sprach über das oft sehr hohe Einkommen der Londoner. Sie zeigte große Geduld mit der Alawitin aus Syrien, wollte sich die Weihnachtsstimmung nicht durch möglicherweise berechtigte, aber ungelegene Anklagen und Diskussionen vermiesen lassen.

Später fuhren sie ins Kellergeschoss, besuchten dort den Supermarkt, wo Henry sich eingehend beraten ließ und sich vom Verkäufer fürs Neujahr einen erst kürzlich eingetroffenen, spritzig-fruchtigen Champagner eines kleinen aber feinen Herstellers wortreich aufschwatzen ließ, während Sheliza und Holly ohne großes Interesse die Regale mit den Weinflaschen abgingen und sich die junge Muslimin wiederholt über die aberwitzig hohen Preise beschwerte und den Konsum von Alkohol ganz generell anprangerte.

»Toleranz«, meinte Holly nachsichtig, »muss jeder Mensch erst einmal lernen, Sheliza. Christus hat das Abendmahl der Überlieferung nach mit Brot und Wein gefeiert. Deshalb ist Alkohol bei uns nicht verboten, auch wenn er viel Böses anrichten kann, wenn es jemand mit dem Trinken übertreibt.«

»Darum verstehe ich das auch nicht«, meinte die Vierzehnjährige kopfschüttelnd, »man weiß genau, dass Alkohol für Menschen nicht gut ist und erlaubt ihn trotzdem? Das ergibt einfach keinen Sinn? Zumindest die Religion sollte ihn doch verbieten?«

»Die Bibel lässt den Menschen sehr viele Freiheiten, Sheliza, engt sie weit weniger in der Gestaltung ihres Lebens ein als zum Beispiel der Koran oder die Thora der Juden. Das Christentum glaubt nämlich an zwei Dinge. An die Selbstverantwortung der Menschen für ihr Leben und an die Selbsteinsicht der Menschen, wenn sie sich im Gebet an Gott wenden und ihn um Rat fragen.«

»Aber wäre es nicht besser, wenn auch die Bibel mehr Dinge verbieten würde? Nicht nur das Trinken, sondern auch all die nackten Bilder von Frauen und Männern in der Werbung? Wie kann eine Gesellschaft funktionieren, wenn die Sitten so zerfallen? Das Zusammenleben ist doch viel einfacher, wenn die Menschen mehr Regeln befolgen?«

»Ach, Sheliza«, seufzte Holly leise, »die Welt ist doch weit komplexer, als dass sie durch ein heiliges Buch für alle Zeiten abgebildet werden könnte. Sieh dir doch an, was überall auf der Welt geschieht, ob unter den Christen, den Muslimen, den Buddhisten oder den Hindi. Gewalt tritt überall auf, aber auch Ungerechtigkeiten, Übervorteilung und Betrug. All das verbieten zwar die heiligen Bücher und trotzdem werden sie verbrochen, selbst von gottesfürchtigen Menschen. Die Religion gibt zwar einen Rahmen vor. Doch umsetzen müssen ihn die Menschen selbst und daran hapert es in allen Kulturen und zu allen Zeiten.«

Sheliza schien sich im Moment mit der Erklärung abzufinden, interessierte sich auch nicht länger für den Wein und die Spirituosen, schlenderte gedankenverloren weiter, hinüber zu den Gestellen mit den Konserven. Die Britin folgte ihr wie unabsichtlich und mit Abstand, behielt sie jedoch fast ständig im Auge, versuchte die Gedanken und Gefühle der Vierzehnjährigen zu erraten, wenn sie irgendwo stehenblieb und sich irgendwelche Verkaufswaren näher betrachtete.

Was versprach sich ein muslimischer Teenager von seinem Leben?, fragte sich Holly immerzu und nach einer Weile ergänzte sie in Gedanken, was versprach sich ein schwangerer, muslimischer Teenager von seinem Leben?

*

Alles sprach vor allem vom Karneval, der bereits in wenigen Wochen stattfand. Doch auch in Rio de Janeiro hatten sich die Geschäfte zur Weihnachtszeit herausgeputzt, hatten ihre Auslagen mit weit teureren Produkten als üblich bestückt und mit besonders schönen Verpackungen versehen, ließen die Schaufenster lustig blinken, füllten ihre Verkaufsräume mit möglichst stimmungsvollen Liedern. Chufu Lederer und Mei Ling kämpften sich durch die Massen an Menschen, die mit ihnen zusammen das Barra da Tijuca Einkaufszentrum an diesem Samstagmorgen bestürmten. Die Suche nach möglichst passenden Geschenken trieb die Leute in die Läden und damit den Verkäufern in die gierigen Hände.

Die beiden Psychologie-Studenten waren längst schwer bepackt, schleppten ihre bisherige Beute in wohl gefüllten Kunststofftaschen mit sich.

»Komm, setzen wir uns für einen Moment«, reklamierte Mei das sture Vorwärtsdrängen ihres Freundes von Geschäft zu Geschäft, als sie an einer Gruppe von Parkbänken vorbeikamen, die man an der Kreuzung zweier Gänge aufgestellt hatte. Aufatmend ließ sich der Philippine auf einer von ihnen nieder, stellte die Einkaufstaschen links und rechts von sich ab. Die chinesisch-stämmige Mei Ling setzte sich neben ihn, quetschte sich mit ihren Paketen in die noch freie Lücke zwischen Chufu und der anderen Armlehne.

»Puuh«, meinte sie als Einleitung, »das wird von Jahr zu Jahr schlimmer«, beklagte sie sich über den Ansturm der anderen Käufer auf die Shopping-Mall.

»Wo bleibt nur die Wirtschaftskrise, wenn man sie am dringendsten braucht«, antwortet Chufu sarkastisch. Ein gehetzt blickender Mann blieb irritiert stehen, stierte den Philippinen kurz und ohne rechtes Begreifen an, hetzte kopfschüttelnd weiter.

»Wie weit sind wir mit der Liste?«

»Wir haben alles. Bis auf Die Schande«, antwortete Chufu und wirkte erschöpft.

Mit Die Schande, bezeichnete der Philippine seit einiger Zeit Shamee, die jüngste Schwester von Mei, benannt nach einer Figur in einem chinesischen Theaterstück, das ihr Großvater sehr geliebt hatte, als er noch lebte. Chufu hatte ihren Namen zum englischen The Shame verballhornt, nicht etwa aus lauter Bosheit, sondern weil die Jüngste der Ling Geschwister oft hochnäsig auftrat und sich unnahbar Stolz gab, andere Leute darum oft vor den Kopf stieß und man von ihr in der Öffentlichkeit immerzu beschämt wurde.

»Was wollten wir noch für Shamee besorgen? Ach ja, dieses neue Parfüm von Yves Saint Laurent, dieses Rosenzeug«, sagte Mei mehr zu sich selbst als zu Chufu. Die Psychologie-Studentin trug seit jeher Chanel N° 5, konnte die Mädchen und Frauen nicht verstehen, die ständig hinter neuen Düften herjagten.

Sie packten wieder ihre Taschen und erhoben sich von der Bank, gingen weiter bis zur nächsten Parfümerie, kauften dort die 125ml Flasche, ließen sie hübsch einpacken und nickten sich zu, als sie das Geschäft verließen.

»Mission abgeschlossen«, vermeldete Chufu in möglichst militärischem Tonfall, »alle Feinde niedergestreckt. Der Sieg ist unser.«

*

Auch Lausanne hatte sich weihnachtlich geschmückt, wenn auch weit weniger farbenfroh als Rio de Janeiro und auch nicht so großstädtisch wie London. Hier sah man den Schaufenstern oft noch die liebevolle, aber unbeholfene Hand einer Lehrtochter an oder die Nadeln rieselten bereits von den Fichtenzweigen zu früh geschnittener, dafür echter Äste. Es war das kleinstädtische, das provinzielle, das Alabima Lederer ganz besonders an Lausanne gefiel, das etwas behäbige, gemütliche. Auch mit Jules, ihrem Ehemann, lief es seit ihrem mehrwöchigen Besuch in Addis Abeba und bei ihren Eltern wieder besser. Sie hatte ihm verziehen, sein Misstrauen, seine Verschlossenheit, seine Feigheit. Das glaubte sie zumindest.

Die Äthiopierin freute sich auf die nächsten Wochen. Denn noch vor Weihnachten wollten Henry Huxley und Holly Peterson bei ihnen vorbeischauen und zusammen mit Sheliza bin-Elik die Schweiz besuchen. Alabima kannte das syrische Mädchen noch nicht, hatte nur von Jules von ihr erfahren. Doch was er ihr von der jungen Alawitin erzählt hatte, rührte sie an und machte sie gleichzeitig neugierig.

Ihre Tochter Alina war noch in der Schule. Und ihr Taekwondo-Training, von dem ihr Ehegatte Jules immer noch nichts ahnte, hatte sie eben im Kampfsport-Center beendet, dort geduscht und war nun zu Fuß auf dem Weg zum Markt, um fürs Mittagessen einzukaufen. Tomaten hatten längst keine Saison mehr, doch sie brauchte welche. Und auch Bananen würde sie erneut kaufen. Denn Jules sollte auf Anraten seiner Augenärztin mehr Magnesium zu sich nehmen, was der Schweizer jedoch verweigerte, zumindest in Tablettenform, während er zufällig herumliegenden, gelben Schlauchäpfeln nicht widerstehen konnte, ähnlich einem behaarten Urwaldbewohner, der eben erst gelernt hatte, sein Gleichgewicht auch auf zwei Beinen zu halten. Der Vergleich gefiel der Äthiopierin und sie lächelte still in sich hinein. Nicht, weil sie Jules als Affen sah. Eher weil das Tier so perfekt zu einem Menschen passte, der seine Freiheit nur ungern eingeschränkt sah und darum lieber töricht handelte, sich gleichzeitig den Anschein von Besonnenheit gab, als hätte er alles wohl durchdacht, nur um danach doch ganz instinktiv und unbewusst einer Verlockung zu erliegen.

Die Auswahl an Salaten war erstaunlich groß und sie wählte diesmal Endivien und Zuckerhut aus, wollte den bitteren mit einer sehr würzigen Soße veredeln, die gerippten Blätter des anderen zum Wickeln von Gemüse-Rouladen verwenden. Rosenkohl wanderte ebenso in ihre Tragetasche, wie ein Kilo Mohrrüben, eine Knollensellerie und zwei kleinere Kohlrabi, deren Geschmack Jules ganz besonders mochte. Alina hingegen würde sich einmal mehr beschweren, sobald sie den Duft des Kohlgemüses in die Nase bekam. Die Sechsjährige mochte ihn nicht, hatte ihn nie gemocht, würde ihn nie mögen, wie sie stets behauptete, wenn er wieder einmal auf den Tisch kam.

 

Alabima blickte sich um, sah nicht die vielen Menschen, sah auch nicht die wenigen Tauben, die da und dort hockten oder pickten, sah auch nicht die Häuserfront mit den Geschäften, nahm dafür das Gefühl von Weihnachten in sich auf, die irgendwie gedämpften Geräusche, die auf einmal spürbar lauere Luft, die friedvoll anmutende Stimmung.

Das Leben ist doch schön, oder?

So hatte es ihr Jules einmal übersetzt, dieses gesprochene Intro von Konstantin Wecker auf CD, als der bayerische Künstler auch von einer besonderen Stimmung sprach, spät nachts, in einer Kneipe, auf dem Pissoir, wenn selbst der Mann mit der vergrößerten Prostata diese Worte wählte, während er die Tropfen fast einzeln aus seiner Harnröhre quetschte. Sie lächelte.

*

»Eine wichtige Hürde haben wir geschafft«, vermeldete Henry Huxley zufrieden lächelnd nach seiner Rückkehr in ihr Appartement. Holly und Sheliza sahen den Briten auffordernd an, wollten mehr erfahren.

»Unser Anwalt hat die schriftliche Aussage deines Groß-Onkels erhalten und übersetzen lassen. Jussuf bestätigt, dass deine Eltern mit allergrößter Wahrscheinlichkeit tot sind. Dr. Coppers meint, wir sollen gleich morgen früh mit ihm zusammen vor Gericht erscheinen, damit auch du, Sheliza, eine eidesstattliche Erklärung abgeben kannst. So lässt sich dein Status als Waise juristisch bestimmen.«

Holly sah freudestrahlend Sheliza an. Die Muslimin jedoch, die seit ein paar Tagen auch in der Wohnung stets ein Kopftuch trug, weil sie sich so wohler vor den Augen von Henry fühlte, nicht so nackt und ausgestellt, zeigte eher erschrockene Augen. Es schien ihr erst in diesem Moment bewusst zu werden, dass sie bislang noch keine offizielle Waise war, dass noch niemand den Tod ihrer Eltern bezeugt hatte. Und nun sollte sie also die letzten Nägel in die Särge von Vater und Mutter, aber auch von ihren Geschwistern treiben?

»Ich weiß nicht, ob ich das kann«, meinte sie kleinlaut.

Holly rückte sogleich auf dem Sofa näher zu ihr hin, nahm sie in den Arm, was die Vierzehnjährige geschehen ließ.

»Es ist ein großer Schritt, Sheliza, ohne Zweifel«, sagte sie zur jungen Muslimin, »doch jeder Mensch muss lernen, los zu lassen, irgendwann. Henry und ich wollen dich zu nichts drängen. Doch auch für dein Kind wäre es das Beste, als Britin zur Welt zu kommen.«

Henry sah seine Freundin mahnend und warnend zugleich an. Ihm war das Zusammenzucken der Schultern der Alawiten bei der Erwähnung der Adoption ebenso wenig entgangen, wie der verloren wirkende Blick des Mädchens danach. In so jungen Jahren ein Kind zu bekommen, das war bereits mehr Verantwortung als ein Teenager leisten konnte. Der Brite empfand das Vorpreschen von Holly eher als Zusatzbelastung für Sheliza und keineswegs als Entscheidungshilfe.

»Wir müssen nichts überstürzen«, meinte er väterlich zur Muslimin, »weder den Termin bei Gericht noch eine Adoption.«

Die Alawitin sah auf und direkt in sein Gesicht, schien darin etwas zu suchen, eine Antwort vielleicht auf ihre ständig bohrende Frage, ob die beiden Briten womöglich auf ihren früheren Entscheid einer Adoption zurückkommen wollten und sie gar nicht mehr in Betracht zogen.

»Ich wäre überglücklich, wenn du einer Adoption durch uns irgendwann zustimmst«, versicherte er ihr mit einem offenen Lächeln, »doch wir werden dich niemals bedrängen, niemals von dir dies einfordern. Du bleibst unser höchst geschätzter Gast, unser Pflegekind, solange du noch nicht bereit bist für eine Adoption.«

»Geht das überhaupt? Adoption ohne Ehe?«, fragte die Vierzehnjährige.

Holly drückte sie noch etwas enger an sich.

»Darüber haben Henry und ich längst gesprochen. Wir würden selbstverständlich vorher heiraten.«

»Heiraten? Nur meinetwegen?«

Die junge Alawiten schien entsetzt.

»Nein, weil wir uns lieben und wir zusammenbleiben werden«, versuchte die Britin das Mädchen zu beruhigen, »du wärst nur der Anlass, Sheliza, nicht der Grund.«

Das verwirrte die Muslimin sichtlich, diese Unterscheidung zwischen Anlass und Grund. Denn so weit war ihr Englisch noch nicht entwickelt, dass sie die exakte Abgrenzung zwischen Reason, Cause und Motive verstand. Henry sprang darum ein.

»Was Holly damit ausdrücken will. Wir beide heiraten auf jeden Fall, auch wenn wir noch keinen Termin dafür vereinbart haben. Doch wir würden es sofort tun, wenn es Einfluss auf eine raschere Adoption hätte.«

»Ich will nicht, dass ihr meinetwegen heiratet.«

Holly wollte etwas entgegnen, Henry winkte beschwichtigend ab. Bestimmt kam Sheliza von selbst drauf, wie sie die Worte von ihnen beiden verstehen musste. Sie brauchte bloß ein wenig Zeit dazu. Ein weiteres Eindringen auf den Teenager war eher schädlich als hilfreich. So drückte die aparte Frau das Mädchen noch einmal fest an sich, ließ sie danach los.

»Können wir den Termin morgen früh noch verschieben?«

Die Stimme der Vierzehnjährigen war bittend.

»Selbstverständlich. Ich ruf Dr. Coppers gleich an und sag ab. Eile ist unnötig. Warten wir mindestens bis nach unserem Besuch in der Schweiz damit. Okay?«

Sheliza nickte dankbar. Holly Peterson warf Henry Huxley einen beunruhigten Blick zu. Die junge Muslimin tat so, als hätte sie ihn nicht bemerkt.

*

»Mein Gott, was bist du doch für ein Tölpel«, herrschte Shamee den Bediensteten an, »wie kann man nur so blöd sein und mir dieses Zuckerzeug bringen.«

Angewidert stellte sie das Glas Cola zurück aufs Tablett, das Carlos, der zwanzigjährige neue Angestellte des Hauses ihr immer noch vorhielt. Wie sollte er auch wissen, dass Cola bei Shamee stets den unausgesprochenen Zusatz Zero trug? Gertenschlank war diese Chinesin doch, mager wie ein Bambusrohr.

»Abmarsch. Bring mir das Richtige.«

Es war sein erster Arbeitstag und er hatte die anwesenden Familienmitglieder erst vor wenigen Stunden und auch nur ganz kurz kennengelernt, war vom Major Domus, Aílton Santoro, bis eben noch in den Haushaltsbetrieb der Lings eingeführt worden, wurde von ihm zu seinem ersten Einsatz nach oben und zu dieser hochnäsigen Pute geschickt, die Sturm geklingelt hatte, als gälte es einen Großbrand zu löschen.

»Sehr wohl, Senhorita Shamee Ling«, versuchte er freundlich zu bleiben, was ihm nicht ganz gelang, denn seine Stimme drückte durchaus auch den großen Ärger aus, den er verspürte, »ich bin gleich zurück.«

»Tu bloß nicht so vornehm, du Kanaille«, meinte die Siebzehnjährige schroff, »wenn du mit mir auskommen willst, dann gewöhne dir rasch einen anderen Ton an, Freundchen. Frag Marta oder Aílton. Die können dir erklären, was Sache ist.«

Sie entließ ihn mit einem abfälligen Winken ihrer Hand, hatte die Geste womöglich in einem Kostümschinken aus den 1950er Jahren gesehen und sich vor dem Spiegel selbst beigebracht.

Carlos nickte, nicht besonders tief, nicht besonders ehrerbietig, presste dabei seine Kiefer zusammen, konnte so die spitze Antwort auf seinen Lippen zurückhalten, drehte sich abrupt weg und verschwand. Er war auf den Verdienst in diesem Haus dringend angewiesen, musste seine Mutter und die beiden jüngeren Geschwister finanziell unterstützen, die noch zur Schule gingen und mehr aßen, als erwachsene Männer und trotzdem ständig ein Loch im Bauch fühlten. Nachdem er die Stelle in der Kartonfabrik verloren hatte, mussten sie drei Wochen lang sogar hungern, so knapp waren ihre Geldmittel. Doch die Miete für die Dreizimmer-Wohnung ging nun einmal vor, denn ohne feste Adresse bekam man in der größten Stadt Brasiliens auf dem Arbeitsmarkt keinen Fuß mehr auf den Boden. Sein Onkel kannte zum Glück die Köchin des Hauses Ling. Sie vermittelte sein Vorstellungsgespräch mit dem Major Domus. Der hatte ihn eingehend befragt und auch getestet. Überglücklich erfuhr er am Vortag vom positiven Entscheid, war heute sogar eine Stunde früher als ausgemacht vor dem Gittertor des Anwesens erschienen, hatte beinahe fiebrig auf die vereinbarte Zeit gewartet. Der Lohn war recht gut, sogar besser als in der Fabrik, und die Arbeit erschien ihm ausgesprochen leicht. Etwas Dienern, Botengänge erledigen, bei Reparaturen mithelfen. Ja, einfach und angenehm, das hatte er zumindest angenommen, bis eben erst.

Mit einem stummen Fluch auf den Lippen stieg er die Treppe zur Küche hinab. Unten erwarteten sie ihn am großen Tisch sitzend wie die Geier, der Major Domus Santoro, die Köchin Marta und das Hausmädchen Naara, das fürs Putzen und Bettenmachen angestellt war.

»Und? Alles zufriedenstellend verlaufen?«, fragte ihn die Köchin beinahe anzüglich.