Read the book: «Was Sara verbirgt»
Lajla und Sara sind beste Freundinnen, ein eingespieltes Team. Doch plötzlich ist Sara wie ausgewechselt, ihr Blick leer, ihre Schlagfertigkeit verschwunden, sie hat Angst vor ihrem eigenen Schatten. Und selbst wenn Lajla verspricht, nicht nachzubohren – sie muss den Mistkerl finden, der Sara vergewaltigt hat. Schweigen wäre falsch!
Mit größter Einsicht und Sensibilität findet Kathrine Nedrejord Worte für die Angst, Wut und Verzweiflung eines jungen Mädchens und erzählt zugleich eine bewegende, klug komponierte Geschichte über Freundschaft und Loyalität.
Ein wichtiges Buch zu einem erschütternden Thema!
Kathrine Nedrejord
Aus dem Norwegischen
von Lotta Rüegger und Holger Wolandt
Für Maret Lajla
Inhalt
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
MANCHE ERINNERUNGEN verändern sich im Nachhinein. Als lege das Gedächtnis einen rosaroten Filter darüber, weil du begreifst, dass damals zum letzten Mal alles gut war. Weder Sara noch ich wissen, dass dies ein solcher Augenblick ist, als wir uns an einem Samstagvormittag Anfang September nach meinem Fußballtraining vor der Sporthalle treffen. Die herbstlichen Farben blitzen zaghaft hervor. Karasjok wirkt müde und entspannt wie wir alle. Wir glauben, ein ganz normales Wochenende würde beginnen.
Sara kaut Kaugummi, pustet Blasen, sagt, dass sie am Kiosk mit ein paar Leuten aus der Zwölften gestritten hat, während sie auf das Ende des Trainings wartete.
»Die glauben wirklich, dass dieses eine Jahr, das sie mir voraushaben, sie unschlagbar macht«, meint sie. »Aber ich habe ihnen die Mäuler gestopft.«
»Und zwar wie?«, will ich wissen.
»Ich hab’ was über Inzucht und IQ gesagt«, erklärt sie grinsend.
Dann lacht sie übertrieben dreckig.
Ihr Hexengelächter, wie sie es nennt.
Ich lächle kopfschüttelnd.
»Irgendein Tor geschossen?«, fragt sie und deutet mit dem Kopf auf die Sporthalle hinter uns.
»Ja, klar«, antworte ich.
»Aber nicht so viele wie Máhtte«, stichelt sie.
Sie weiß, wie sehr es mich stört, dass mein kleiner Bruder allgemein für sein sportliches Talent bekannt ist. Obwohl ich zwei Jahre älter bin, habe ich diesen Status nie auch nur annäherungsweise erreicht. Wenn die Leute meinen Nachnamen hören, dann denken sie gleich an Máhtte. Sara weiß, wie sehr mich das nervt. Als Antwort gähne ich nur. Sara knufft mich in die Seite.
»Keine Panik«, sagt sie. »Du holst Gold, wenn es nach mir geht.«
»Es geht aber nicht nach dir«, seufze ich.
Ich schließe mein Fahrrad auf und schiebe. Sara hasst Fahrräder, also bleibt mir nichts anderes übrig, als zu Fuß zu gehen, obwohl der Weg von der Sporthalle ins Zentrum ganz schön weit ist. Wir sind allein mit der Straße und den Bäumen. Karasjok – der Ort auf der Landzunge im Fluss, wie unser Norwegischlehrer aus dem Süden in der ersten Stunde zufrieden verkündete. Das hatte er sich angelesen. Er wollte uns beweisen, dass er kein dummer, unwissender Norweger ist. Und wirkte gerade deswegen erst recht wie einer.
»Was hast du heute Abend vor?«, frage ich. Das ist eine vollkommen harmlose Frage, und ich ahne nicht, dass ich mir über diese Unterhaltung bald das Hirn zermartern und nach Anhaltspunkten suchen werde.
»Klemet«, antwortet Sara und bläst noch eine Kaugummiblase.
Ich verziehe das Gesicht. Sara, der das nicht entgeht, hebt die Augenbrauen.
»Er ist ganz in Ordnung, wenn man mit ihm allein ist«, sagt sie.
»Schon gut«, erwidere ich.
Sara lacht.
»Herrgott, Lajla!«, sagt sie. »Du bist so eine schlechte Lügnerin.«
»Ich lüge nicht.«
»Du hasst ihn doch.« Sie lacht und knufft mich schon wieder.
Aber da täuscht sie sich. Ich hasse Klemet nicht. Ich begreife nur nicht, was jemand wie Sara in ihm sieht. Sie, zierlich-klein, mit kohlrabenschwarzem Haar und schmalen Augen – hübsch, aber nicht auf diese durchschnittliche Art, immer ohne Makeup, aber in Kleidern, die ihr viel besser stehen als allen anderen. Streifen, Muster, Farben. Sara ist der einzige Grund dafür, warum ich die Weiterführende Schule hier im Ort gewählt und mir nicht ein Zimmer in Alta genommen habe.
Und wer ist Klemet schon? Ein Achtzehnjähriger, der letztes Jahr die Schule geschmissen hat. Er ist das schwarze Schaf der Familie und kriegt nichts von dem hin, was sein großer Bruder Jonas schafft. Dass sie überhaupt Geschwister sind, ist ein Rätsel. Jetzt arbeitet Klemet Teilzeit bei Rema 1000, dem Supermarkt im Zentrum, und schraubt an Autos herum, obwohl er bei der Fahrprüfung durchgefallen ist. Nächsten Monat will er es angeblich noch einmal versuchen. Durch Sara weiß ich mehr über sein Leben, als mir lieb ist. Groß, dünn und bleich ist er. Und trägt nie etwas Buntes. Ich wette, dass er nur selten lacht.
Vielleicht bin ich ja auch nur eifersüchtig. Bevor Klemet irgendwann im Sommer aufgetaucht ist, waren wir alles füreinander, Sara und ich. Ja, ich hatte auch noch den Fußball, und ja, Sara hat damals schon Gitarre gespielt, aber wir hatten immer sehr viel Zeit füreinander. Jetzt hat sich Klemet zwischen uns gedrängt und sorgt für Unruhe. Ein Rivale, denke ich, obwohl ich für Sara etwas anderes sein will als Klemet. Das ist schwierig. Ich will, dass sie glücklich ist. Aber, wenn möglich, mit jemand anderem als Klemet.
Mama sagt, wir seien sehr unterschiedlich, Sara und ich. Sie ist klein und dunkelhaarig, und ihre Erscheinung hat etwas beinahe Feindseliges. Ich bin groß und blond und lächle meistens, jedenfalls solange wir die Spiele gewinnen. So wirkt es vielleicht von außen, aber zwischen uns, zwischen Sara und mir, gibt es so viel mehr als diese Kontraste. Wäre Sara nicht in meiner Klasse gewesen, dann hätte ich die zehn Jahre Grund- und Mittelstufe wahrscheinlich nicht durchgehalten.
Sowohl Saras als auch meine Mutter stammen von Sámi mit nomadischem Lebensstil ab. Die Familien unserer Väter waren hingegen immer sesshaft. Für Leute außerhalb Karasjoks mag das irgendwie unwichtig klingen. Aber hier verläuft oft ein Graben zwischen diesen beiden Lagern. Die Nomaden gegen die Sesshaften, und die Sesshaften gegen Nomaden. Sara und ich sind weder das eine noch das andere. Vielleicht hätten wir auf beiden Seiten stehen können, stattdessen gehören wir keiner der Gruppen an. Denn es ist schwer, sich gegen einen Teil seines Erbes zu wenden. Also gab es immer nur uns beide. Ohne Herde. In der Grundschule gab es viel Streit, Mobbing und Fronten zwischen den Bankreihen.
Glücklicherweise ist dieses Klassenzimmer Vergangenheit. Und glücklicherweise sind Sara und ich in den Unterrichtsstunden immer noch zusammen, allerdings mit vielen anderen Leuten um uns herum. Die Mädchen, die in der Mittelstufe am gemeinsten waren, wie Anne-Biret mit dem Schmollmund und den blond gefärbten Haaren, haben nichts mehr zu sagen. Sie versuchen es nicht einmal mehr. Als wären wir mittlerweile zu groß, um Feindinnen zu spielen. Aber Sara ist immer noch die, die mir am meisten bedeutet.
Darum ist dieser Augenblick, in dem wir zwei nichtsahnend die Straße entlangschlendern, so wichtig. Sara bietet mir einen Kaugummi an, und wir gehen blasenpustend weiter.
»Ich schaffe dieses Jahr in Norwegisch eine Eins«, sagt Sara, »auch wenn er strenger wirkt, dieser neue Lehrer.«
»Der aus dem Süden?«, frage ich.
»Ja«, antwortet sie.
»Der tut doch nur so«, meine ich. »Eigentlich ist er wahnsinnig jung und unsicher.«
Sara lacht.
»Jedenfalls brauche ich die Eins. Egal wie. Um bei Medizin reinzukommen. Samisch ist leicht, in Norwegisch muss ich mich etwas mehr anstrengen«, sagt sie und schaut träumerisch in die Luft. Vielleicht sieht sie sich ja gerade im weißen Kittel mit Stethoskop um den Hals. Was weiß ich.
Und da gehen wir also, immer noch auf demselben Planeten.
Ich ahne nicht, dass uns nur wenige Stunden von einer Katastrophe trennen.
Dass ich sie in vielerlei Hinsicht bald verlieren werde. Die dunkelhaarige, kleine, große Sara.
Als eine von uns, vielleicht ich, vielleicht Sara, endlich seufzt und sagt: »Vielleicht mal Zeit, nach Hause zu stiefeln«, geschieht das mit Gelassenheit, beinahe gelangweilt.
»Na dann, bis morgen!«, murmeln wir beide.
Als ich gegen Mitternacht ganz plötzlich erwache, weil verzweifelt an mein Zimmerfenster gehämmert wird, ist es mit der Gelassenheit und Langeweile vorbei. Endgültig.
Und Sara und ich werden nie wieder so sein wie letzthin auf dem Heimweg.
1
Fast zwölf Stunden später erwache ich also von heftigem Klopfen.
Erst denke ich, es sei Teil eines Traums.
Ich drehe mich zur Seite und seufze leise. Aber das Klopfen geht weiter. Ich bin gezwungen, die Augen zu öffnen. Sie sind vom Schlaf verklebt. Ich strecke die Hand aus und knipse die Nachttischlampe an. Das Licht blendet. Ich schließe erneut die Augen. Das Klopfen wird heftiger. Erst jetzt begreife ich, dass es vom Fenster kommt. Ich stelle die Füße auf den Boden. Eiskalt.
Ich denke, das werden irgendwelche Freunde von Máhtte, meinem kleinen Bruder, sein. Sicher Jan-Henrik und die anderen Idioten, die ihn vergöttern.
Von klein auf haben sie sich immer wieder neue Dinge einfallen lassen, um mich zu ärgern. Je schlauer sie werden, desto ausgefeilter sind ihre Methoden. Letztes Jahr zu meinem Geburtstag ist es ihnen gelungen, Mamas Kuchen mit einem selbst gebackenen zu vertauschen. Er wirkte zwar essbar, hatte aber zur Folge, dass ich mich auf dem Klo übergeben musste, bis nichts mehr in meinem Magen war.
Ich stehe also auf, gehe zum Fenster und mache mich auf Halloween-Masken und Gebrüll gefasst. Besonders originell sind sie nämlich immer noch nicht. Meistens holen sie sich ihre Inspiration aus dem Internet. Wenn ich mich nicht irre, haben sie Mama letzte Woche vor dem Küchenfenster einen Mordsschrecken eingejagt.
Ich wappne mich mit einer versteinerten Miene und ziehe die Gardine beiseite. – Keine Masken. Keine Jungenclique. Keine Rufe, kein Gebrüll.
Da steht nur Sara, blass und mit weit aufgerissenen Augen. Ich kann ihre Stimme kaum durch das Fenster hören.
»Mach auf.«
Ich starre sie einen Moment lang an. Vielleicht versuche ich die Lage zu verstehen oder mich zu erinnern, wann das schon einmal vorgekommen ist. Sara vor dem Fenster. Das ist noch nie passiert. Und ihr Gesicht sieht seltsam aus. Anders. Wie das eines Tiers. Ich öffne das Fenster einen Spalt weit und mühe mich mit der Kindersicherung ab, um es ganz zu öffnen. Sara sagt nichts, klettert einfach rein.
»Wo hast du deine Jacke gelassen?«, frage ich leise.
Sie trägt nur einen dünnen Pullover und zieht die Ärmel nach unten.
»Leihst du mir eine?«, fragt sie statt zu antworten.
Ihre Stimme klingt kühl, fast kalt. Ich gehe zum Schrank und nehme den grauen Hoodie heraus, den ich immer nach dem Fußballtraining trage. Er ist ihr zu groß. Alle meine Kleider sind Sara zu groß. Ich bin hochgewachsen und habe einen Busen, der in allen Kleidern zu viel Platz einnimmt. So ist es seit der siebten Klasse. Manchmal haben wir darüber gelacht, Kleider getauscht und Fotos gemacht. Aber jetzt ist sie nicht dazu aufgelegt. Ich habe keine Ahnung, in welcher Stimmung sie gerade ist.
Wenn sie nicht aussähe und röche wie Sara, würde ich glauben, ich hätte einen anderen Menschen vor mir.
Sie nimmt den Hoodie und zieht ihn über. Da sehe ich rote Flecken an ihrem Hals. Kratzer. Ich schlucke.
»Ist was passiert?«, frage ich.
Sara nimmt einen Schal, den ich auf dem Stuhl liegen habe, und wickelt ihn um den Hals. Irgendwas ist auch mit ihren Augen. Die Wimperntusche ist verlaufen. Eigentlich unterscheidet sich ihr Gesicht gar nicht so sehr von den erwarteten Halloween-Masken. Das verwirrt mich.
»Wolltest du nicht zu Klemet?«
Nachdem sie sich in meine Kleider gehüllt hat, setzt sie sich auf die Bettkante, zieht die Decke an sich heran und wickelt sich ein.
»Habt ihr gestritten?«, frage ich.
Sara schaut Richtung Tür und blinzelt einige Male.
»Schlafen die anderen?«, fragt sie flüsternd.
Ich zucke mit den Achseln.
»Máhtte hängt sicher noch vor dem Computer«, antworte ich. »In seinem Zimmer.«
Sara nickt und lässt die Schultern ein wenig sinken.
Ich denke, dass da zwar Sara sitzt, aber irgendetwas nicht stimmt. Ich sehe sie an, doch sie weicht mir aus, schaut an die Decke, an die Wand, durchdringend. Ich lasse meinen Blick über sie gleiten und erreiche die Hände, die sie in die Ärmel zurückziehen will, auch da sind rote Kratzer. Ihr Gesicht, die Wangen, sie sind nicht auf die normale Art gerötet. War da nicht auch was mit dem Pullover? Mit dem Hals. Ich habe nur einen Blick auf ihn erhascht, bevor sie meinen Hoodie übergestreift hat. Der hatte ordentlich was abbekommen. Ich bin mir fast sicher. Doch es ging so schnell.
Einmal in der Neunten haben Anne-Biret mit dem Schmollmund und ich uns beim Sport so wahnsinnig gestritten, dass sie in der Umkleide mit einer Papierschere auf mich losgegangen ist. In meinem Kopf war es in dem Moment vollkommen leer. Anschließend konnte ich die Ereignisse nicht mehr rekonstruieren. Ich konnte nur die verletzte Hand vorzeigen, und irgendwie hatte ich sie zu Boden gerungen. Ich war stärker, obwohl Anne-Biret eine Waffe hatte. Der Lehrer wusste nicht recht, wen er bestrafen sollte. Als er endlich angetrödelt kam, sah es aus, als sei ich die Schuldige. Ich hatte Anne-Biret »unschädlich« gemacht, wie es im Film heißt. Es fiel mir schwer, zu erklären, wie. Vielleicht wurde ja Anne-Biret deswegen zum Partygirl. Gerüchte kamen auf, dass sie mit allen möglichen Jungs reihum schlief. Vielleicht besteht da aber kein Zusammenhang. Höchstwahrscheinlich nicht. Es war einfach nur eine Prügelei, die ich gewonnen habe.
Aber zurück zu Sara: Sie griff mich zwar nicht an, sondern kletterte einfach nur durch mein Fenster, doch für mich blieb die Welt stehen wie damals in der Umkleide. Die Zeit verging schnell und langsam zugleich.
Vor meinem Zimmer sind Geräusche zu hören.
Sara setzt sich abrupt auf und schaut verängstigt zur Tür.
»Lajla?«, ruft Mama aus dem Flur.
Ich stehe auf, gehe zur Tür und versuche gleichzeitig Sara einen beruhigenden Blick zuzuwerfen, aber die hat sich in einer Ecke des Bettes hinter der Decke verschanzt. Sie erinnert an ein Tier, denke ich. An Anne-Birets Kaninchen, wenn sie den Stall öffnet, um es herauszunehmen. Es verkriecht sich immer ganz zuhinterst und will unsichtbar sein.
»Was ist?«, frage ich. Ich öffne die Tür nur einen Spalt weit.
»Geh nicht zu spät ins Bett!«, sagt sie. »Denk an das Spiel morgen.«
»Na klar«, antworte ich und huste ein wenig, um damit Saras Anwesenheit zu übertönen.
»Alles in Ordnung?«
Mama zieht eine Augenbraue hoch.
»Ja doch«, antworte ich.
Mama will weitere Fragen stellen, aber ich komme ihr zuvor:
»Ich bin ziemlich erledigt. Viele Hausaufgaben im Augenblick«, sage ich, als Erklärung für alles, was ihr vielleicht spanisch vorkommt. Mama lässt sich damit abspeisen. Sie nickt.
»Sieh zu, dass du genug Schlaf bekommst«, sagt sie.
»Gute Nacht«, erwidere ich rasch und schließe vorsichtig die Tür, weil ich weiß, wie Anne-Birets Kaninchen auf abrupte Bewegungen reagiert. Sara senkt die Decke einen Zentimeter, nicht mehr. Sie flüstert:
»Erzähl’ ihnen nicht, dass ich hier war.«
»Natürlich nicht.«
Ich schlucke.
»Aber was ist denn passiert?«
Sara schüttelt den Kopf.
»Vergiss es, nichts Wichtiges.«
Aber uns beiden ist klar, dass das schlichtweg gelogen ist.
Ich habe Lust, nachzuhaken. Sie erzählt mir doch sonst immer alles, selbst die schlimmsten Sachen. Ich weiß alles über die Probleme ihrer Mutter nach der Scheidung von ihrem Vater. Ihr Vater zog mit einer neuen Frau nach Utsjok hinter der finnischen Grenze, und ihre Mutter hörte auf zu arbeiten, leerte die Flaschen in der Hausbar und kaufte anschließend die Ladenregale leer, um sich zu trösten. Damals hat mich Sara nie zu sich nach Hause eingeladen und oft bei mir übernachtet. Sie behauptete, fast genauso wütend auf ihren Vater zu sein wie ihre Mutter. Und dass sie einerseits Verständnis für die Mutter habe, andererseits aber auch nicht, weil da noch die erst achtjährigen Zwillinge seien, für die sie sich hätte zusammenreißen müssen. Ich begleitete Sara zur Gemeindeschwester und war stolz auf sie, als sie vorschlug, dass die Zwillinge und sie eine Weile bei ihrer Tante auf der anderen Straßenseite wohnen könnten. Sie hatte bereits mit der Tante geredet. Weil es ihre Mutter verletzen würde, wollte sie nicht, dass sie erfuhr, dass es Saras Idee gewesen war. Sara wirkte so erwachsen. Ich saß neben ihr und dachte, dass es mir in einer vergleichbaren Situation niemals gelungen wäre, sowohl an Máhtte als auch an mich zu denken. Wahrscheinlich hätte ich nur unablässig geweint und mir selbst leidgetan. Eine Lösung hätte ich mir bestimmt nicht einfallen lassen.
›Sara die Starke‹, taufte ich sie.
Dieselbe Sara, die jetzt die Lippen zusammenpresst.
Da mir nichts Besseres einfällt, strecke ich die Hände aus, um sie zu umarmen. Aber da zuckt Sara zusammen und stößt mich so heftig weg, dass ich auch danach noch ihre wütenden Handflächen auf meinem Brustkorb spüre. Ich weiche zwei Schritte zurück, stoße gegen die Schreibtischkante und kann nur mit Mühe das Gleichgewicht halten.
»Au!«, sage ich, etwas zu laut, etwas zu schroff.
Sara sieht mich verängstigt an.
»Sorry! Sorry! Sorry!«, sagt sie, aber ihr Blick ist immer noch derselbe, entsetzt.
Vorsichtig fasse ich mir an die Stelle, wo sie mich gestoßen hat. Es tut zwar nicht furchtbar weh, aber ich fühle mich überrumpelt. Wir sind so spät Freundinnen geworden, dass die Zeiten, in denen man sich prügelte, vorbei waren. Und wir geraten uns auch nicht, wie viele andere Mädchen, bei jeder Gelegenheit in die Haare. Wir haben immer einen gewissen Abstand gewahrt. Bis jetzt.
Sara legt sich hin und schließt vorsichtig die Augen.
Ich sehe, dass sich ihre Lider bewegen. Papa hat mal erzählt, dass man einem Schlafenden so ansieht, ob er sich mitten in einem Traum befindet. Aber Sara schläft und träumt nicht.
Die Ärmel des Pullovers rutschen ein wenig hoch.
Ich sehe die Kratzer und nehme mir vor, Klemet eine Abreibung zu verpassen. Er ist kaum stärker als ich, rein körperlich. Vielleicht ist er stärker als Sara, aber nicht als ich.
»Sara«, sage ich bittend.
Sie öffnet die Augen und sieht, dass ich ihre Handgelenke betrachte. Jetzt versucht sie nicht mehr, sie zu verbergen, sondern sieht mich nur an.
»Ich kann nicht, Lajla«, sagt sie.
Sie erklärt nicht, was sie nicht kann.
Aber ihre Antwort ist so unverrückbar, so endgültig.
Und dann noch einmal:
»Ich kann es einfach nicht.«
Ich antworte nicht.
Sie kneift die Augen zusammen, und ihre Stimme ist fast unhörbar:
»Sonst bringt er mich um.«
2
Es ist Montag, und ich warte auf Sara.
Wir treffen uns immer vor der Schule, bevor es zur ersten Stunde klingelt.
Als sie gestern aus dem Fenster gesprungen ist, hat sie noch gerufen: »Bis morgen!«
Ich warte also immer noch. Unser Norwegischlehrer hat sicher schon mit seinem altnordischen Zeugs angefangen. Sara kommt nie zu spät. Sara beantwortet immer ihre SMSe. Sara schwänzt nicht. Bereits vor dem Sommer hat sie mir die Anwesenheitsregeln in der weiterführenden Schule erklärt, und wie wichtig es sei, diese zu befolgen, um nicht in irgendeinem Fach durchzufallen. Sie tat das eigentlich mehr meinetwegen als um ihrer selbst willen. Sie hat immer etwas weniger gefehlt als ich und hat bessere Noten als ich. Und wenn ich etwas sage, dann meine ich wahnsinnig viel. Schließlich will Sara hoch hinaus. Sara will Ärztin werden.
Ich schicke die vierte SMS:
»Wo bist du? Bist du krank?«
Eigentlich müsste ich reingehen. Ich müsste atemlos eine Entschuldigung vorbringen, um meine Note nicht aufs Spiel zu setzen. Außerdem ist es ziemlich kühl. Ich habe die Jeansjacke angezogen, obwohl Mama protestiert hat und mich dazu überreden wollte, die Winterjacke anzuziehen. Es ärgert mich, wenn Mama recht hat. Es ärgert mich, dass Sara nicht antwortet. Aber es sind verschiedene Arten von Ärger. In meinen Ärger über Sara mischt sich das Gefühl, etwas falsch gemacht zu haben. Ich hätte sie in der Nacht zum Sonntag nicht nach Hause lassen dürfen, ohne eine einzige Antwort erhalten zu haben. Ich rufe sie an.
Es klingelt und klingelt, fordernd.
Dann endlich höre ich Saras Stimme, obwohl ich mir erst gar nicht so sicher bin, dass es ihre Stimme ist. Sie klingt ganz schwach:
»Ja? Ich bin’s.«
»Wo steckst du?«, frage ich.
Eine lange, fast unendliche Pause. Ich will schon fragen, ob sie noch da ist, als sie endlich antwortet:
»Zu Hause.«
»Kommst du heute nicht in die Schule?«, will ich wissen.
Wieder eine kleine Pause.
»Nein, ich glaube nicht.«
Es ist ihre Stimme, und auch wieder nicht. Sie klingt fern, als befände sie sich in den USA und als müssten ihre Worte einen meilenweiten Weg durch Kabel und Netzwerke zurücklegen, um mich zu erreichen. Aber sie ist, soweit ich weiß, weniger als einen Kilometer entfernt.
»Ist es wegen dieser Sache am Wochenende?«, frage ich.
»Hör doch auf damit!«
Ich weiß nicht, was ich sagen soll.
»Oh.«
»Lass es einfach, okay?«
Ich flüstere ein Ja.
Es wird wieder still. Lange. Ich muss etwas sagen.
»Kommst du morgen?«
»Natürlich«, antwortet Sara.
Dann beeilt sie sich, das Gespräch zu beenden, ehe ich weitere Fragen stellen kann. Ich schaue auf das Display, als wäre das Handy an der seltsamen Unterhaltung schuld. Ich habe einen Fehler gemacht, denke ich. Ich hätte sie ausfragen müssen, als sie bei mir zu Hause war. Aber sie hat sich geweigert. Jedes Mal, wenn ich mich dem Thema näherte, hat sie von etwas anderem geredet oder sich unter der Decke verkrochen und so getan, als würde sie mich nicht hören. Lass mich in Ruhe, schien sie zu sagen. – Und zwar so nachdrücklich und deutlich, dass ich einfach nur gehorchen konnte.
Ich schaue auf die Uhr über dem Eingang. Die Stunde ist noch nicht vorbei. Wenn der Norwegischlehrer gute Laune hat, ignoriert er meine Verspätung vielleicht. Aber andererseits –
Das ist nicht in Ordnung. Es ist falsch, dass Sara zu Hause ist und dass mir mein unentschuldigtes Fehlen mehr Sorgen bereitet als ihre Probleme, oder?
Genau, so ist es.
Ich kann sie jetzt nicht im Stich lassen, denke ich. Aber was kann man tun? Wenn sich die beste Freundin seltsam benimmt und nicht reden will? Ich bin irgendwie in meinem Unwissen gefangen. Eigentlich müsste sich etwas herausfinden lassen.
Aber wie?
Statt in den Unterricht zu gehen, nehme ich Kurs auf den Supermarkt. Klemet. Was soll ich ihm sagen? Ich muss ihn ausfragen. Ich habe keine Angst. Nicht vor Klemet. Er war zwar nie besonders nett zu mir, aber zu den superbeliebten Leuten gehört er auch nicht. Und mir ist es schließlich gelungen, die rabiate Anne-Biret samt Schere in der Hand in die Knie zu zwingen.
Und was Klemet getan hat, denke ich, obwohl ich mir nicht ganz sicher sein kann, ist nicht gut. Das ist einfach nicht normal, denke ich. Sonst wäre Sara heute in der Schule und würde neben mir in der Klasse sitzen und mich anstupsen, sobald ich ins Träumen gerate, damit ich auch ja die wichtigsten Dinge für die nächste Klassenarbeit mitbekomme. Sara hält mich bei der Stange. So ist es einfach. So soll es sein. Verdammter, beschissener Klemet. Nur er kann sie bedroht haben.
Sie hat es nur einmal gesagt, sehr leise zwar, aber deutlich genug. Sie hat keinen Namen genannt, aber wer hätte es sonst sein sollen? Klemet bringt sie um, wenn sie was sagt. Verfluchter, tragischer, pathetischer, verdammter Klemet, denke ich. So ein Idiot.
Ich schlendere in den Rema 1000, der zu dieser Tageszeit fast leer ist. Eine ältere Frau in geblümter Wolljacke mit dazu passender roter Kopfbedeckung türmt Hühnerfilet-Pakete, die im Sonderangebot sind, in ihren Korb. Das Personal steht bei den Milchprodukten. Ich gehe dorthin. Die meisten kenne ich vom Sehen. So groß ist Karasjok nicht, dass man den Überblick verlieren könnte.
»Ist Klemet da?«, frage ich.
Sie schauen mich kritisch an.
»Bist du nicht die große Schwester von Máhtte?«, fragt eine. Alle kennen Máhtte. Alle wissen, dass er einer der besten Spieler der Fußballmannschaft ist und vielleicht sogar einmal mit einem Spielervertrag von hier wegkommt. Aber Máhtte ist mir egal. Ganz gleichgültig, wie viele Tore er schießt, zu Hause ist er eine Nervensäge und ärgert mich.
»Klemet?«, sage ich noch einmal.
Eine zuckt mit den Achseln.
Wenn sie nicht sofort antworten, schüttle ich gleich jemanden, denke ich. Keiner sieht besonders stark aus, sie wirken blass, dünn und uninteressiert. Sie sehen aus, als hätte die dunkle Jahreszeit bei ihnen schon begonnen und sie befänden sich bereits im Winterschlaf.
»Vermutlich ist er zu Hause«, sagt eine von ihnen. »Er hat heute keine Schicht.«
Er wohnt auf der anderen Seite des Flusses.
Wenn ich mich beeile, komme ich noch rechtzeitig zur zweiten Stunde. Mathe. Es ist aber keine Katastrophe, wenn ich sie verpasse. In der dritten Stunde ist Sport – das einzige Fach, in dem ich besser bin als Sara. Da kann ich locker hingehen, aber vorher will ich noch mit Klemet sprechen. Ich gehe also wieder und überhöre den Ruf einer der Bleichen, Lethargischen, dass ich mich ruhig für die Hilfe bedanken könnte.
Ich beeile mich. Jetzt werde ich Klemet aufspüren.