Schulsozialarbeit

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Schulsozialarbeit
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utb 2929

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Prof. Dr. phil. Karsten Speck ist Erziehungswissenschaftler und lehrt am Institut für Pädagogik der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Weitere Informationen finden Sie unter www.schulsozialarbeit.net.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

UTB-Band-Nr.: 2929

ISBN 978-3-8252-5294-6 (Print)

ISBN 978-3-8385-5294-1 (PDF- E-Book)

ISBN 978-3-8463-5294-6 (EPUB)

4. Auflage

© 2020 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, Verlag, München

Dieses Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne schriftliche Zustimmung der Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, München, unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen in andere Sprachen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Printed in EU

Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart

Satz: Da-TeX Gerd Blumenstein, Leipzig

Ernst Reinhardt Verlag, Kemnatenstr. 46, D-80639 München

Net: www.reinhardt-verlag.de E-Mail: info@reinhardt-verlag.de

Inhalt

Vorwort zur 3. Auflage

1Historische Entwicklung der Schulsozialarbeit

2Aktueller Stand der Schulsozialarbeit

2.1Fachliche und fachpolitische Entwicklung

2.2Quantitative Verbreitung und Entwicklung

3Begriffsklärung und Definition zur Schulsozialarbeit

4Begründungen, Ziele und Zielgruppen von Schulsozialarbeit

4.1Funktion und Verhältnis von Jugendhilfe und Schule

4.2Begründungsmuster für Schulsozialarbeit

4.3Zielgruppen von Schulsozialarbeit

5Rechtsgrundlagen, Förderpolitik und Finanzierung der Schulsozialarbeit

5.1Schulgesetz bzw. Kinder- und Jugendhilfegesetz

5.2Gegenwärtige Förderung der Schulsozialarbeit

5.3Zukünftige rechtliche und finanzielle Absicherung

6Angebote, methodisches Handeln und Handlungsprinzipien von Schulsozialarbeit

6.1Angebote

6.2Methoden und methodisches Handeln

6.3Grundsätze und Handlungsprinzipien

7Rahmenbedingungen der Schulsozialarbeit

7.1Personelle Rahmenbedingungen

7.2Trägerbezogene Rahmenbedingungen

7.3Finanzielle Rahmenbedingungen

7.4Räumliche Rahmenbedingungen

7.5Materiell-technische Rahmenbedingungen

7.6Kooperationsbezogene Rahmenbedingungen

8Kooperation zwischen LehrerInnen und SchulsozialarbeiterInnen

8.1Empirische Befunde

8.2Erklärungsansätze für Kooperationsprobleme

8.3Lösungsansätze für eine gelingende Kooperation

9Ergebnisse und Wirkungen von Schulsozialarbeit

9.1Ergebnisse und Wirkungspotenziale

9.2Wirkungsmodell

10Qualitätsentwicklung und Selbstevaluation in der Schulsozialarbeit

10.1Begriffsklärung

10.2Entwicklung der Qualitäts- und Selbstevaluationsdebatte

10.3Stand der Qualitäts- und Selbstevaluationsdebatte

10.4Verfahren und Instrumente zur Qualitätsentwicklung

11Ausbildung, Curriculum und Fortbildung in der Schulsozialarbeit

11.1Ausbildungssituation

11.2Curriculum für die Ausbildung

11.3Fortbildung für SchulsozialarbeiterInnen und LehrerInnen

12Aktuelle Herausforderungen

12.1Herausforderungen im Arbeitsfeld

12.2Herausforderung in der Forschung

Anhang

Prüfungsfragen

Adressen zur Schulsozialarbeit

Ausgewählte Vernetzungsseiten auf Länderebene

Ausgewählte Organisationen in Deutschland, der Schweiz und Österreich

Landesarbeitsgemeinschaften

Literatur

Sachregister

Vorwort zur 3. Auflage

Die 3. Auflage des Buches „Schulsozialarbeit. Eine Einführung“ weist einerseits darauf hin, dass sich die Schulsozialarbeit im deutschsprachigen Raum etablieren konnte und andererseits, dass ein großer Bedarf an einem Überblick zur Schulsozialarbeit in Form eines Einführungswerks besteht.

Inzwischen kann die Schulsozialarbeit auf eine längere Tradition im deutschsprachigen Raum zurückblicken. Angelehnt an die amerikanische School Social Work und gefördert durch schulische, familiäre und gesellschaftliche Veränderungen entwickelte sich ein Arbeitsfeld, in dem SozialarbeiterInnen mit LehrerInnen – mehr oder weniger kontinuierlich – am Ort Schule zusammenarbeiten und jugendhilfespezifische Angebote in die Schule einbringen. Das Arbeitsfeld Schulsozialarbeit hat sich seit den 1970er Jahren deutlich verändert und die Anzahl an Schulsozialarbeitsprojekten und fest angestellten SchulsozialarbeiterInnen in Deutschland, Österreich und der Schweiz deutlich zugenommen. Schulsozialarbeit ist aus dem Alltag vieler SchulleiterInnen, LehrerInnen und SchülerInnen nicht mehr wegzudenken. Auch auf der fachlichen Ebene hat es eine spürbare Weiterentwicklung gegeben. Die Schulsozialarbeit wird inhaltlich unterstützt durch eine Vielzahl an Fachpublikationen, Tagungen und Fortbildungen, fachpolitischen Stellungnahmen und Positionspapieren sowie Aktivitäten von entsprechenden Landesarbeitsgemeinschaften. Sie ist nicht zuletzt Ausbildungsbestandteil an zahlreichen Universitäten und Fachhochschulen. Sieht man vom Handbuch Schulsozialarbeit von Raab, Rademacker und Winzen aus dem Jahre 1987 ab, konnte trotz dieser Entwicklung lange Zeit nicht auf einen systematisierenden Überblick zur Schulsozialarbeit im deutschsprachigen Raum in Form eines Einführungswerks mit Basisinformationen zur Schulsozialarbeit zurückgegriffen werden. Geht man von der sehr positiven Resonanz und den vorliegenden Rückmeldungen an den Verlag aus, dann konnte diese Lücke mit dem Buch „Schulsozialarbeit. Eine Einführung“ geschlossen werden.

 

Das vorliegende Buch hat vor diesem Hintergrund das Anliegen, den Leserinnen und Lesern eine allgemeinverständliche und komprimierte Einführung in die Schulsozialarbeit zu geben. Ich gehe zum Ersten auf die Entwicklung, den Stand und die Begründung von Schulsozialarbeit ein. Darüber hinaus erläutere ich zum Zweiten die Rechtsgrundlagen, die Angebote, die Handlungsprinzipien sowie die Rahmenbedingungen von Schulsozialarbeit. Zum Dritten geht es in diesem Buch um die spannungsreiche Kooperation zwischen LehrerInnen und SozialarbeiterInnen, die Ergebnisse und Wirkungen von Schulsozialarbeit sowie die Aus- und Fortbildung zur Schulsozialarbeit. Abschließend werde ich zum Vierten Herausforderungen des Arbeitsfeldes und Forschungsdefizite zur Schulsozialarbeit aufzeigen. Die vorliegende Einführung in die Schulsozialarbeit ist zum einen für Personen konzipiert, die sich ganz neu in das Themengebiet einarbeiten wollen (z. B. Studierende, BerufsanfängerInnen). Es soll zum anderen aber auch Fachleuten dienen, die in ihrem beruflichen Alltag einen systematischen Überblick oder Antworten auf konkrete Fragestellungen zur Schulsozialarbeit benötigen (z. B. SozialarbeiterInnen, LehrerInnen, Verwaltungsfachkräfte, freie und öffentliche Träger der Jugendhilfe sowie Lehrende und ForscherInnen in Universitäten und Fachhochschulen).

Für die 3. Auflage wurde der Text der 2. Auflage vollständig durchgesehen, hinsichtlich neuer Entwicklungen aktualisiert und an zahlreichen Stellen aufgrund von Rückmeldungen aus der Praxis, Forschung und Ausbildung erweitert und zum Teil geändert. Hinzugekommen sind vor allem Ausführungen 1. zur theoretischen Verortung und zum Bildungsverständnis der Schulsozialarbeit, 2. zum Profil der Schulsozialarbeit und zur Professionalität der SchulsozialarbeiterInnen, 3. zur aktuellen Datenlage und zu den Forschungsergebnissen in der Schulsozialarbeit, 4. zu Fragen der Diversität, Inklusion, Elternarbeit und Ganztagsschule in der Schulsozialarbeit sowie 5. zur Lage der Schulsozialarbeit in der Schweiz, in Österreich und in Liechtenstein. Trotz der Aktualisierungen und Erweiterungen soll das Buch weiterhin seinen Überblickcharakter behalten. Dies beinhaltet zwangsläufig eine Auswahl und Verdichtung der Inhalte. Für die darüber hinaus interessierten LeserInnen werden im Text viele Literaturverweise angeboten. Die Prüfungsfragen (Anhang) und -lösungen sind neu zu dieser 3. Auflage. Die Lösungen werden als Online-Zusatzmaterial unter www.utb.de und www.reinhardt-verlag.de zum Download zur Verfügung gestellt.

Ich bedanke mich für die Unterstützung bei der Überarbeitung des Buches bei den Sozial- und Bildungsministerien sowie meinen studentischen MitarbeiterInnen Marian Meyer und Sabrina Frohn. Über Rückmeldungen zum Buch würde ich mich freuen.

Oldenburg, Juni 2014

Karsten Speck

1 Historische Entwicklung der Schulsozialarbeit

Die Entwicklung der heutigen Schulsozialarbeit im deutschsprachigen Raum geht auf einen wenig bekannten Buchbeitrag von Maas zur amerikanischen „School Social Work“ aus dem Jahre 1966 zurück. Diesen Beitrag griff Abels 1971 in einem inzwischen vielfach zitierten Artikel zum Thema „Schulsozialarbeit – Ein Beitrag zum Ausgleich von Sozialisationsdefiziten“ auf. Seit Anfang der 1970er Jahre etablierte sich die Schulsozialarbeit in Deutschland – begrifflich und konzeptionell beeinflusst durch die amerikanische „School Social Work“ – als ein Arbeitsfeld an der Schnittstelle zwischen Jugendhilfe und Schule. In der Schweiz begannen erste Projekte der Schulsozialarbeit auch in den 1970er Jahren; ein systematischer Ausbau fand jedoch erst Ende der 1990er Jahre statt (Drilling 2009). Österreich hat ebenfalls bereits eine längere Tradition in der Schulsozialarbeit, seit dem Jahr 2010 gibt es gezielte Ausbaustrategien zur Schulsozialarbeit vom Bundesministerium für Unterricht Kunst und Kultur (u. a. mit Mitteln aus dem Europäischen Sozialfonds). In Liechtenstein wurde – mit der Zustimmung des Landtages von 2003 – im Jahr 2004 mit dem Aufbau von Schulsozialarbeit begonnen.

Bei genauerer Betrachtung lassen sich allerdings bereits lange vor den 1970er Jahren historische Vorläufer erkennen, die zumindest partielle Überschneidungen zur Schulsozialarbeit aufweisen (Grossmann 1987; Mörschner 1988; Aden-Grossmann 1995). Erwähnenswert sind insbesondere die Armen- und Industrieschulen (im 18. Jh.), die Schulkinderfürsorge (ab 1870), die Schulpflege (ab 1907), die reformpädagogischen Ansätze einer sozialpädagogischen Schule (in der Weimarer Republik) und die Hamburger Schülerhilfe (in den 1930er Jahren) (Iben 1967; Kersting 1985; Mühlum 1993). Kritiker teilen diese Kontinuitätsannahme allerdings nicht. Sie sind der Ansicht, dass sich Schule und Sozialpädagogik historisch getrennt entwickelt haben und das Schulwesen (z. B. in Deutschland) lange Zeit vorrangig für die höhere Bildung und nicht für die Erziehungsfürsorge zuständig war (Homfeldt et al. 1977; Raab/Rademacker 1982). Unstrittig ist, dass die Kooperation von Sozialpädagogik und Schule in vielen deutschsprachigen Ländern nach 1945 bis fast Anfang der 1970er Jahre – sieht man von einzelnen Tagungen und kritischen Reflexionen ab (Mehringer 1961 und Iben 1967) – kein relevantes Thema im Schul- und Jugendhilfebereich war. Letztlich existierte eine klare und von Schule und Jugendhilfe weitgehend unhinterfragte Aufgabenteilung (Kersting 1985): Die Schule war für die „normalen“, die Jugendhilfe kompensatorisch und nachgeordnet für die auffälligen Jugendlichen zuständig. Ergänzend gab es noch eine außerschulische Jugendarbeit.

Die Etablierung von einzelnen Projekten der Schulsozialarbeit in Deutschland in den 1970er Jahren begann mit einer intensiven sozialpädagogischen Diskussion über das Konzept von Schulsozialarbeit (Abels 1971 und 1972; Helbrecht-Jordan 1978; BAG JAW 1973; 1975a und b; 1976) sowie ersten Erfahrungsberichten aus Modellversuchen an Gesamtschulen, die auf Institutionalisierungs- und Kooperationsprobleme hinwiesen (Tillmann 1976a; Arbeitskreis Hessische Sozialarbeit 1978; BMBW 1978a und b). Nach einiger Zeit entstand außerdem ein konzeptioneller „Richtungsstreit“, bei dem sich VertreterInnen einer „sozialpädagogischen Schule“ (Homfeldt et al. 1977; Malinowski/Herriger 1979 und 1981; Herriger/Malinowski 1981) und VertreterInnen einer „Sozialarbeit in der Schule“ (Holthaus et al. 1980; Meusel/Ruback 1981) fast unversöhnlich gegenüberstanden. Darüber hinaus verfestigte sich eine vehemente sozialpädagogische Kritik an der bestehenden Schule und ihren Folgewirkungen für die SchülerInnen sowie z.T. an der stigmatisierenden Wirkung der Jugendhilfe (Tillmann 1987, 385ff.; Brusten/Holtappels 1985). Die rasche Etablierung von Schulsozialarbeitsprojekten erfolgte allerdings weniger auf der Basis fundierter Konzeptdiskussionen zwischen Schule und Jugendhilfe, sondern vor allem aufgrund eines akuten schulischen Problemdrucks: Als ausschlaggebend erwiesen sich die Bildungsreformdebatten Ende 1960er Jahre, der gestiegene Betreuungsaufwand im Freizeitbereich an Schulen sowie der wahrgenommene Zuwachs an Problemen und Verhaltensauffälligkeiten bei SchülerInnen. Die Bedeutung der zusätzlichen sozialpädagogischen Fachkräfte wurde also in erster Linie in ihrer Absicherungsfunktion des Schulbetriebes gesehen. Die spezifischen Ziele, Zugänge, Methoden und Kompetenzen der sozialpädagogischen Fachkräfte hingegen wurden vernachlässigt (Kentler 1972; Kath 1973). Vor diesem Hintergrund verwundert nicht, dass Hornstein bereits 1971 kritisierte, dass die Bildungsplanung ohne sozialpädagogische Bezüge und Perspektiven erfolgt (z. B. Strukturplan, Bildungsbericht der Bundesregierung).

Die 1980er Jahre bedeuteten für die Schulsozialarbeit in Deutschland auf der einen Seite eine klare Stagnation, da die Bildungsreform als gescheitert betrachtet wurde und in diesem Zuge Projekte der Schulsozialarbeit quantitativ reduziert wurden (Tillmann 1987). Auf der anderen Seite entwickelte sich eine vielfältige Fortbildungs-, Forschungs- und Publikationslandschaft zur Schulsozialarbeit. Erwähnenswert sind hier vor allem wissenschaftliche Begleitungen zu Einzelprojekten der Schulsozialarbeit (Tillmann 1982a; Staufer/Stickelmann 1984; DJI 1984b; Kersting 1985; Salustowicz 1986; Frommann et al. 1987) sowie vielfältige Untersuchungen, Tagungen, Materialien und Publikationen des Deutschen Jugendinstituts (DJI) mit Bestandsaufnahmen und Beiträgen zur fachlichen Weiterentwicklung der Schulsozialarbeit in Deutschland (Raab/Rademacker 1981 und 1982; Schneider et al. 1982; DJI 1984a, 1984b und 1985 und als Überblick Raab et al. 1987). Konzeptionell waren die 1980er Jahre durch eine Vielfalt an Trägerschaften und Ansätzen von schulbezogenen Angeboten der Jugendhilfe gekennzeichnet. Dies führte letztlich dazu, für alle Kooperationsformen von Jugendhilfe und Schule die Bezeichnung Schulsozialarbeit als Oberbegriff einzuführen.

 

In den 1990er Jahren kam es dann zu einem deutlichen Ausbau der Schulsozialarbeit und darauf bezogenen Forschungsaktivitäten in Deutschland und der Schweiz (Baier/Heeg 2011; Speck/Olk 2010a und b; Drilling 2009; Olk et al. 2000). Hierfür gab es im Wesentlichen zwei Gründe: Zum einen entwickelte sich auf der konzeptionellen Ebene ein verändertes Aufgabenverständnis und Problembewusstsein in der Jugendhilfe und Schule, das gegenseitige Öffnungen zwischen beiden Institutionen erleichterte. Aufseiten der Jugendhilfe waren eine Verringerung der Schulkritik und eine Öffnung für Schule spürbar. In dieser Richtung sind insbesondere hervorzuheben:

a das Fachkonzept einer offensiven und präventiven, „lebensweltorientierten Jugendhilfe“ (BMJFFG 1990, 122ff.; Thiersch 1997; Grunwald/Thiersch 2004),

b das sozialpädagogisch und auf eine Kooperation mit der Institution Schule ausgerichtete Kinder- und Jugendhilfegesetz (1990/1991) sowie

c die zunehmende Fachdiskussion und die vielfachen Plädoyers zur Kooperation von Jugendhilfe und Schule bzw. Schulsozialarbeit (Brenner/Nörber 1992; Aden-Grossmann 1995; Flösser et al. 1995; Hurrelmann 1996; Gilles 1996 und 1998).

Aufseiten der Schule erfolgte parallel dazu eine umfassende Schulentwicklungs-, Professionalisierungs- und Qualitätsdebatte, in der der Auftrag und die Aufgaben von Schule und LehrerInnen diskutiert wurden (Helsper et al. 1996; Terhart 1996a und 1996b; Wenzel 1998; die Beiträge in Grossenbacher et al. 1997; Horster 1998; Fend 1998). Die Diskussionen führten sukzessive zu einer stärkeren Öffnung von Schule gegenüber außerschulischen Partnern und damit auch der Sozialpädagogik. Erkennbar ist dies unter anderem

a an den sozialpädagogischen Themen in „Schulpublikationen“ (z. B. die Beiträge in Fatke/Valtin 1997; Deinet 1998a, 338 ff.),

b den vielfältigen Programmen zur Öffnung von Schule sowie

c der Berücksichtigung von außerschulischen Kontakten bei der Formulierung von Qualitätskriterien für Schulen.

Der Ausbau der Schulsozialarbeit in den 1990er Jahren in vielen deutschsprachigen Ländern (Deutschland, Schweiz, Österreich) wurde jedoch nicht nur durch konzeptionelle Debatten gefördert. Durch konkrete Förderprogramme zur Schulsozialarbeit auf der Landes- und Kommunal-/Kantonsebene kam es in den 1990er Jahren auch zu einem quantitativen Ausbau der Schulsozialarbeit. Ausschlaggebend für die Förderprogramme war vor allem der Versuch, die negativen Folgen gesellschaftlicher Transformations- und Veränderungsprozesses für das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen zu kompensieren sowie Belastungen und Probleme zu verringern (Drilling 2009, 19 ff.; Olk et al. 2000; Rademacker 1996, 226 ff.; Prüß/Bettmer 1996, 240 ff.). Die Förderprogramme wurden durch eine Vielzahl an wissenschaftlichen Forschungsprojekten und Begleitungen unterstützt.

Dass die Öffnung von Schule zur Jugendhilfe auch in den 1990er Jahren keineswegs selbstverständlich war, erkennt man – wie Nieslony (1996) zu Recht kritisierte – an der vielfach zitierten Denkschrift der Bildungskommission des Landes Nordrhein-Westfalen zur „Zukunft der Bildung – Schule der Zukunft“, die nur am Rande auf die Jugendhilfe einging (Bildungskommission NRW 1995).

2 Aktueller Stand der Schulsozialarbeit

2.1 Fachliche und fachpolitische Entwicklung

Auf der fachlichen Ebene zeichnet sich im deutschsprachigen Raum seit Ende der 1990er/Anfang der 2000er Jahre eine deutliche Weiterentwicklung zur Schulsozialarbeit ab. Veröffentlichungen zur Schulsozialarbeit konzentrieren sich seltener auf projektbezogene, evaluierende Fragestellungen im Rahmen von wissenschaftlichen Begleitungen sowie die als schwierig eingeschätzte Kooperation von LehrerInnen und SozialarbeiterInnen. Stattdessen stehen häufiger auch

das Konzept und Profil von Schulsozialarbeit (Deutscher Verein 2014a; Kooperationsverbund 2006; GEW 2003; Rademacker 2002; Maykus 2001; Olk et al. 2000; Braun/Wetzel 2000; Hollenstein/Tillmann 2000),

das Bildungsverständnis und der Bildungsertrag der Schulsozialarbeit (Kooperationsverbund Schulsozialarbeit 2013; BAG JSA 2005),

die Verortung der Schulsozialarbeit in multiprofessionellen Ganztagsschulen, Sozialraumkonzepten und Bildungslandschaften (Spies 2013; Speck et al. 2011b und c; Bolay et al. 2003),

die Professionalität und das methodische Handeln der SchulsozialarbeiterInnen (Baier/Deinet 2011; Hollenstein/Nieslony 2012; Pötter/Segel 2009; Braun 1999 und 1997; Verein für Kommunalwissenschaften 1997; Wulfers 1994 und 1991) sowie

die Wirkungspotenziale und Wirkungen der Schulsozialarbeit (Baier/Heeg 2011; Speck/Olk 2010a und b; Olk/Speck 2009; Drilling 2009; Speck 2006a; Bolay 2004a und 2004b; Elsner/Rademacker 1997; Hentze et al. 1997) im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit.

Auf der fachpolitischen Ebene ist unbestritten, dass es einen hohen Bedarf für Schulsozialarbeit gibt. Dementsprechend gehört das Arbeitsfeld Schulsozialarbeit seit Anfang der 1990er Jahren (BMJFFG 1990; BMFSFJ 1994 und 1998) zunehmend zu einem festen Bestandteil der Kinder- und Jugendpolitik und der Kinder- und Jugendberichte (z. B. BMFSFJ 2002a; 2005; 2009). Der 14. Kinder- und Jugendbericht verweist unter anderem auf die hohe Anerkennung der Schulsozialarbeit in den Schulen, den deutlichen personellen Zuwachs in der Schulsozialarbeit in den letzten Jahren sowie den eigenständigen sozialpädagogischen Auftrag der Fachkräfte der Schulsozialarbeit in den Schulen (BMFSFJ 2013, 329 ff.). Viele jugend- und vereinzelt auch schulpolitisch bedeutsame Verbände, Organisationen, Kommissionen und Arbeitsgruppen auf der Bundesebene haben zudem in den 1990er und 2000er Jahren ausführliche Stellungnahmen und Empfehlungen zur Schulsozialarbeit veröffentlicht (siehe Kasten).

Stellungnahmen und Empfehlungen zur Schulsozialarbeit auf der Bundesebene

• Arbeiterwohlfahrt Bundesverband (AWO 2013),

• AvenirSocial und SchulsozialarbeiterInnen-Verband (2010a und b),

• Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter (BAGLJÄ 2014; 1993),

• Bundesarbeitsgemeinschaft Evangelische Jugendsozialarbeit (BAG EJSA 2012),

• Bundesarbeitsgemeinschaft Katholische Jugendsozialarbeit (BAG KJS 2002),

• Bundeselternrat (2014),

• Der Paritätische (2013; 2005),

• Der Paritätische, Bundesarbeitsgemeinschaft Katholische Jugendsozialarbeit, Bundesarbeitsgemeinschaft Evangelische Jugendsozialarbeit (Der Paritätische, BAG EJSA und BAG KJS 2014),

• Deutscher Lehrertag des Verbandes Bildung und Erziehung (VBE 2003),

• Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge (Deutscher Verein 2014a und b; 2013),

• Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW 2011; 2003; 1994; 1980),

• Kooperationsverbund Jugendsozialarbeit (2013),

• Kooperationsverbund Schulsozialarbeit (2013; 2006),

• Sachverständigenkommissionen der Kinder- und Jugendberichte (BMJFFG 1990; BMFSFJ 2013, 2009, 2005, 2002a, 1998, 1994),

• Verein für Kommunalwissenschaften (1997).

In den fachpolitischen Stellungnahmen und Empfehlungen wird die Schulsozialarbeit auf der Bundesebene weitgehend unstrittig als ein kontinuierliches, präventives und sozialpädagogisches Angebot der Jugendhilfe am Ort Schule für grundsätzlich alle Kinder und Jugendlichen verstanden, das eine breite Angebotspalette und eine hohe Präsenzzeit der sozialpädagogischen Fachkräfte in den Schulen, eine gleichberechtigte Kooperation zwischen LehrerInnen und SozialarbeiterInnen, gemeinsame Kommunikationsstrukturen, Absprachen und Fortbildungen zwischen Jugendhilfe und Schule sowie abgesicherte Finanzierungsstrukturen und Rahmenbedingungen benötigt. Bemerkenswert an den Stellungnahmen und Empfehlungen sind einerseits die übereinstimmenden Positionen zum Ausbau der Schulsozialarbeit und andererseits die nach wie vor bestehenden Forderungen nach einer abgesicherten Finanzierungsgrundlage.

Über die konkreten fachpolitischen Stellungnahmen und Empfehlungen zur Schulsozialarbeit hinaus haben sich in den 1990er und 2000er Jahren sehr viele Verbände, Organisationen, Kommissionen und Arbeitsgruppen auf der Bundesebene mit der Schulsozialarbeit im Rahmen von übergreifenden Positionspapieren zur Kooperation von Jugendhilfe und Schule beschäftigt. Beispiele hierfür sind a) der Länderbericht und das Arbeitspapier der Obersten Landesjugendbehörden zur Kooperation von Jugendhilfe und Schule (AGOLJB 1996; 2000), b) die Handlungsempfehlungen der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe zur Kooperation von Jugendhilfe und Schule (AGJ 2006; auch 2003), c) die Leitgedanken der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft zur Kooperation von Schule und Jugendhilfe (GEW 2005), d) die Stellungnahmen der Bundesarbeitsgemeinschaft Jugendsozialarbeit zum Selbstverständnis der Jugendsozialarbeit in Ganztagsschulen und zum Verhältnis von Jugendsozialarbeit und Schule (BAG JSA 2005; BAG JAW 1996), e) die Handreichung des Diakonischen Werkes der Evangelischen Kirche zur Kooperation Kinder- und Jugendhilfe und Schule (Diakonisches Werk 2006), f) die Stellungnahmen des Bundesjugendkuratoriums zum Ganztagsprogramm des Bundes und für ein neues Verhältnis von Bildung und Jugendhilfe (BJK 2002a und b; 2003; BJK/Sachverständigenkommission/AGJ 2002) sowie g) die Empfehlungen und Arbeitshilfen des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge zur Zusammenarbeit der Kinder- und Jugendhilfe mit der Schule (2001 und 2000). Für den Bedeutungszuwachs der Kooperation von Jugendhilfe und Schule in den 1990er und 2000er Jahren spricht auch, dass das Thema seit dieser Zeit regelmäßig Gegenstand der Jugendministerkonferenz (JMK 2000; 2002; 2004) und sogar gemeinsamer Erklärungen aus dem Jugendhilfe- und Schulbereich ist (AGJ und KMK 2008; JMK und KMK 2002 und 2004; Forum Bildung 2001; KMK und AGJ 1998).

2.2 Quantitative Verbreitung und Entwicklung

Über die tatsächliche quantitative Verbreitung und die Entwicklung von Schulsozialarbeit im deutschsprachigen Raum liegt bis Mitte der 2010er Jahre nur eine unzureichende und fragmentierte Datengrundlage vor. Es fehlt an einer grundlegenden Bestandsaufnahme, die das gesamte Spektrum von Trägern der Schulsozialarbeit im Blick hat (schulische Träger, örtliche Träger der Jugendhilfe, freie Träger der Jugendhilfe, ggf. Arbeitsverwaltung) und alle Schultypen, Bundesländer/Kantone und Kommunen/Gemeinden erfasst.

Für die Verbreitung von Schulsozialarbeit in Deutschland liegen Daten aus a) verschiedenen bundesweiten Bestandsaufnahmen bei Jugendämtern, Schulen und SchülerInnen, b) der bundesweiten Kinder- und Jugendhilfestatistik und c) Veröffentlichungen aus Länderprogrammen und -statistiken zur Schulsozialarbeit (z. B. Internetpräsentationen, Statistiken, Studien von wissenschaftliche Begleitungen, politische Äußerungen, Kleine Anfragen) vor. Zu berücksichtigen ist, dass die Daten mit einer gewissen Vorsicht zu interpretieren sind, da sie unterschiedliche Begriffsverständnisse nutzen, zum Teil älteren Ursprungs sind, mitunter auf eingeschränkten Informationen der Befragtengruppen beruhen, bei bestimmten Befragtengruppen erhoben worden sind und zum Teil mit sozial erwünschten Antworten einhergehen.

Zu a) Das Deutsche Jugendinstitut (DJI) beschäftigte sich auf der Basis eigener Untersuchungen und Analysen bereits seit langem mit der Verbreitung von Schulsozialarbeit in Deutschland (Raab/Rademacker 1982, 53 ff.). In einer ersten umfassenden Bestandsaufnahme zur Kooperation von Jugendhilfe und Schule in Deutschland bei den Jugendämtern im Jahre 1983 (Raab et al. 1987, 239 ff.) wurde durch das Deutsche Jugendinstitut ermittelt, dass in 9 % der Jugendämter eigene Schulsozialarbeits-Projekte, in 5 % der Ämter Schulsozialarbeits-Projekte von freien Trägern der Jugendhilfe und in immerhin 16 % der Ämter Schulsozialarbeits-Projekte in schulischer Trägerschaft bestanden. Befragungsergebnisse des Deutschen Jugendinstituts bei den Jugendämtern in Deutschland, die im Jahr 2013 veröffentlicht worden sind, zeigen, dass die Verbreitung von Schulsozialarbeit in den 2000er Jahren, im Vergleich zu den 1980er und 1990er Jahren, deutlich zugenommen hat. Bestand im Jahr 1996 in der Hälfte der Jugendamtsbezirke ein Projekt der Schulsozialarbeit (49 %), existierten im Jahr 2008 bereits in zwei Dritteln der Jugendamtsbezirke entsprechende Schulsozialarbeits-Projekte (70 %). Projekte der Schulsozialarbeit gab es dabei häufiger in ostdeutschen als in westdeutschen Jugendamtsbezirken (84 % vs. 64 %). Darüber sind Projekte der Schulsozialarbeit zunehmend häufiger bei freien Trägern und seltener ausschließlich bei öffentlichen Trägern angesiedelt (van Santen et al. 2003, 277 ff. und 328 ff. sowie Gadow et al. 2013, 125 ff., Tab. 1).

Tab. 1: Schulsozialarbeits-Projekte in den Jugendamtsbezirken 1996 und 2008 – Angaben der Jugendämter (in Prozent; van Santen et al. 2003, 277 ff. sowie Gadow et al. 2013, 125 f.)


1996200020042008
Gesamtvorhandene Schulsozialarbeits- Projekte in den Jugendamtsbezirken49667870
Trägerschaft der Projekte ausschließlich öffentlicher Trägerteils öffentlicher/teils freier Trägerausschließlich freier Träger491833401744351154262549

Weitere Zahlen zur Verbreitung von Schulsozialarbeit in den Schulen in Deutschland liefert eine andere Befragung des Deutschen Jugendinstituts Anfang der 2000er Jahre bei Schulleitungen. Den Ergebnissen zufolge gab es – legt man die Aussagen der befragten SchulleiterInnen zugrunde – im Jahr 2002 an 22 % der allgemeinbildenden Schulen Schulsozialarbeit (Behr-Heintze/Lipski 2005, 16). Ein Projekt der Schulsozialarbeit war umso wahrscheinlicher, je eher es sich um eine Schule in Ostdeutschland, eine Gesamt- oder Hauptschule, eine Ganztagsschule, eine große Schule sowie eine Schule mit einer hohen Zahl ausländischer Jugendlicher und einer Vielzahl an SchülerInnen aus sozial belasteten Familien handelte (Behr-Heintze/Lipski 2005, 25).

Aus dem Jugendsurvey von 2003 (Deutsches Jugendinstitut 2003) und der AID:A-Studie von 2009 (Deutsches Jugendinstitut 2009) sind ferner bundesweite Aussagen von SchülerInnen zur Nutzung von Schulsozialarbeit in Deutschland zu gewinnen. Die Daten verweisen darauf, dass Schulsozialarbeit lediglich von einem Teil der SchülerInnen selbst aktiv genutzt wird. Dem Jugendsurvey von 2003 zufolge nutzten 5,1 % der 12 bis 15jährigen bzw. 4,8 % der 16–29jährigen SchülerInnen das Angebot der Schulsozialarbeit. Die AID:A-Studie aus dem Jahr 2009 verweist auf eine Nutzungsquote von 9,1 % bei den 13 bis 17jährigen SchülerInnen in Deutschland (Tab. 2).