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Read the book: «Durch die Wuste», page 27

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Sein Auge leuchtete, seine Wange hatte sich gerötet, und der Ton seiner Stimme kam aus der Tiefe eines vollen Herzens heraus. Er war nicht nur ein schöner, sondern auch ein edler Mann; er kannte die traurigen Verhältnisse seines Landes und hatte vielleicht das Zeug zu einem Helden.

»Du glaubst also, daß die christlichen Prediger, welche aus der Ferne kommen, hier nichts zu wirken vermögen?« fragte ich nun.

»Wir Dschesidi kennen euer heiliges Buch. Dieses sagt: »Chüdanün söz tschekidsch dir, bi tschatlar taschlar – das Wort Gottes ist ein Hammer, welcher Felsen zertrümmert.« Aber kannst du mit einem Hammer das Wasser zermalmen? Kannst du mit ihm die Dünste zerschmettern, welche dem Sumpfe entsteigen und das Leben töten? Frage die Männer, welche aus Jeni dünja192 herüber gekommen sind! Sie haben viel gelehrt und gesprochen; sie haben schöne Sachen geschenkt und verkauft; sie haben sogar als Buchdrucker gearbeitet. Und die Leute haben sie angehört, haben ihre Geschenke genommen, haben sich taufen lassen, und dann sind sie hingegangen, um zu rauben, zu stehlen und zu töten wie vorher. Das heilige Buch wurde in unserer Sprache gedruckt, aber kein Mensch verstand den Dialekt und kein Mensch hier kann schreiben oder lesen. Glaubst du, daß diese frommen Männer uns das Schreiben und das Lesen lehren werden? Unsere Feder darf jetzt nur von scharfem Stahle sein. Oder gehe nach dem berühmten Kloster Rabban Hormuzd, welches einst den Nestorianern gehörte. Jetzt gehört es den Katuliklar193, welche Alkosch und Telkef bekehrten. Einige arme Mönche verhungern auf der dürren Höhe, auf welcher zwei nackte Oelbäume das Dasein des Verschmachtens leben. Warum ist es so und nicht anders? Es fehlt der Jeboschu194, welcher da gebietet: >Günesch ile kamer, sus hem Gibbea jakinda hem dere Adschala – Sonne, stehe stille bei Gibeon und, Mond, im Tale von Ajalon! Es fehlt der Held Schimsa195, welcher die Bösen mit dem Schwerte zwingt, Gutes zu tun. Es fehlt Tschoban Dawud196, der mit seiner Schleuder den Mörder Dscholiah erschlägt. Es fehlt die Flut, welche die Gottlosen ertränkt, damit Nauah197 mit den Seinen niederknien könne vor Allah unter dem Bogen der sieben Farben. Steht in eurem Buche nicht: >Insanlar dscheza estemez-ler dan ruhuma – die Menschen wollen sich von meinem Geiste nicht strafen lassen? Wäre ich ein Musa198, so würde ich meinen Jeboschu und meinen Kaleb durch alle Täler Kurdistans senden und dann mit meinem Schwerte jenen die Wege ebnen, von denen euer Kitab sagt: >Wazar-lar sallami, der-ler ughurü – sie predigen den Frieden, und sie verkündigen das Heil! – Du blickst mich an mit großen Augen; du meinst, der Friede sei besser als der Krieg und die Schaufel besser als die Keule? Ich meine es auch. Aber kannst du dir den Frieden denken, ohne daß er mit dem Säbel errungen ist? Müssen wir hier nicht die Keule tragen, um mit der Schaufel arbeiten zu können? Siehe dich an, nur dich allein! Du trägst sehr viele Waffen an dir, und sie sind besser als diejenigen, welche wir besitzen. Warum trägst du sie? Trägst du sie im Lande der Nemtsche auch, wenn du eine Reise unternimmst?«

»Nein,« mußte ich allerdings antworten.

»Da siehst du! Ihr könnt zur Kilise (Kirche) gehen und zu Allah beten ohne Sorge; ihr könnt euch zum Lehrer setzen und auf seine Stimme hören ohne Angst; ihr könnt eure Eltern ehren und eure Kinder unterweisen ohne Furcht; ihr lebt im Garten Eden unverzagt, denn eurer Schlange ist der Kopf zertreten. Wir aber warten noch des Helden, welcher stillen und beruhigen soll das »Schamata arasynda daghlere – das Geschrei in den Bergen«, von denen euer Buch erzählt. Und ich sage dir, daß er noch kommen wird. Nicht der Russe wird es sein und auch nicht der Engländer, nicht der Türke, der uns aussaugt, und auch nicht der Perser, der uns so höflich belügt und betrügt. Wir glaubten einst, Bonapertah werde es sein, der große Schah der Franzosen; jetzt aber wissen wir, daß der Löwe nicht vom Adler Hilfe erwarten soll, denn das Reich beider ist verschieden. Hast du einmal gehört, was die Dschesidi gelitten haben?«

»Ja.«

»Wir wohnten im Frieden und in Eintracht im Lande Sindschar; aber wir wurden unterdrückt und vertrieben. Es war im Frühjahre; der Fluß war ausgetreten und die Brücke weggerissen. Da lagen unsere Greise, unsere Weiber und Kinder unten bei Mossul am Wasser. Sie wurden in die brausenden Fluten getrieben oder hingeschlachtet wie die wilden Tiere, und auf den Terrassen der Stadt stand das Volk von Mossul und jubelte über die Würgerei. Die Uebriggebliebenen wußten nicht, wohin sie ihr Haupt legen sollten. Sie gingen in die Berge des Maklub, nach Bohtan, Scheikhan, Missuri, nach Syrien und sogar über die russische Grenze. Dort haben sie eine Heimat errungen, dort arbeiten sie, und wenn du ihre Wohnungen, ihre Kleider, ihre Gärten und Felder siehst, so freust du dich; denn da herrscht Fleiß, Ordnung und Sauberkeit, während du rundum nur Schmutz und Faulheit findest. Das aber lockt die andern, und wenn sie Geld und Leute brauchen, so fallen sie über uns her und morden uns und unser Glück. Wir feiern in drei Tagen das Fest unseres großen Heiligen. Wir haben es seit vielen Jahren nicht feiern können, weil die Pilger auf der Reise nach Scheik Adi das Leben gewagt hätten. In diesem Jahre aber scheint es, als ob sich unsere Feinde ruhig verhalten wollten, und so werden wir nach langer Zeit wieder einmal unsern Heiligen verehren. Tschelebim mahalinde geldin – du kommst zur rechten Zeit. Zwar mögen wir Fremde nicht bei unsern Festen haben; du aber bist der Wohltäter der Meinigen und wirst uns willkommen sein.«

Nichts war mir angenehmer, als diese Einladung, denn sie

gab mir Gelegenheit, die Sitten und Gebräuche der rätselhaften Teufelsanbeter kennen zu lernen. Die Radjahell Scheïtan oder Chalk-scheïtanün199 waren mir so schlimm geschildert worden und erschienen mir doch in einem viel bessern Lichte, so daß ich begierig war, mir Aufklärung über sie zu verschaffen.

»Habe Dank für dein freundliches Anerbieten,« antwortete ich. »Ich würde sehr gerne bei dir verweilen, aber wir haben eine Aufgabe zu lösen, welche erfordert, daß wir bald wieder Baadri verlassen.«

»Ich kenne diese Aufgabe,« antwortete er. »Du kannst trotz derselben unser Fest mitfeiern.«

»Du kennst sie?«

»Ja. Ihr wollt zu Amad al Ghandur, dem Sohn des Scheik Mohammed Emin. Er befindet sich in Amadijah.«

»Woher weißt du dies?«

»Von den drei Männern, welche du gerettet hast. Ihr werdet ihn aber jetzt nicht befreien können.«

»Warum?«

»Der Mutessarif von Mossul scheint einen Einfall der östlichen Kurden zu befürchten und hat viele Truppen nach Amadijah bestimmt, von denen bereits eine Anzahl in Amadijah eingetroffen ist.«

»Wie viel?«

»Zwei Jüsbaschi200 mit zweihundert Mann vom sechsten Infanterieregiment Anatoli Ordüssi in Diarbekir und drei Jüsbaschi mit dreihundert Mann vom dritten Infanterieregiment Irak Ordüssi in Kerkjuk, zusammen also fünfhundert Mann, welche unter einem Bimbaschi201 stehen.«

»Und Amadijah liegt zwölf Stunden von hier?«

»Ja; doch die Wege sind so mühsam, daß du innerhalb eines Tages nicht hinzukommen vermagst. Man übernachtet gewöhnlich in Cheloki oder Spandareh und reitet erst am nächsten Morgen über die steilen und beschwerlichen Gharahberge, hinter denen die Ebene und der Felsenkegel von Amadijah liegt.«

»Welche Truppen stehen in Mossul?«

»Teile vom zweiten Dragoner— und vom vierten Infanterieregimente der Division Irak Ordüssi. Auch sie sind in Bewegung. Eine Abteilung soll gegen die Beduinen ziehen, und eine andere wird über unsere Berge kommen, um nach Amadijah zu marschieren.«

»Wie hoch zählen diese letzteren?«

»Tausend Mann unter einem Miralai202, bei dem sich auch ein Alai Emini203 befindet. Diesen Miralai kenne ich; er hat das Weib und die beiden Söhne von Pir204 Kamek getötet und heißt Omar Amed.«

»Weißt du, wo sie sich versammeln?«

»Die, welche gegen die Beduinen bestimmt sind, halten sich in den Ruinen von Kufjundschik verborgen; ich habe durch meine Kundschafter erfahren, daß sie bereits übermorgen aufbrechen werden. Die anderen aber werden erst später marschfertig.«

»Ich glaube, daß du von deinen Kundschaftern falsch berichtet worden bist.«

»Wieso?«

»Glaubst du wirklich, daß der Mutessarif von Mossul Truppen so weit her aus Diarbekir kommen läßt, um sie gegen die östlichen Kurden zu verwenden? Hätte er das zweite Infanterieregiment Irak Ordüssi, welches in Suleimania liegt, nicht viel näher? Und besteht das dritte Regiment in Kerkjuk nicht meistenteils aus Kurden? Glaubst du, daß er den Fehler begeht, dreihundert Mann von ihnen gegen die eigenen Stammesgenossen zu verwenden?«

Er machte eine sehr nachdenkliche Miene und meinte dann:

»Deine Rede ist klug, aber ich begreife sie nicht.«

»Haben die Truppen, welche in Kufjundschik halten, Kanonen bei sich?«

»Nein.«

»Wenn man einen Zug in die Ebene beabsichtigt, wird man gewißlich Kanoniere mitnehmen. Eine Truppe, bei welcher sich keine Artillerie befindet, wird ganz sicher in die Berge bestimmt sein.«

»So hat mein Kundschafter eine Verwechslung begangen. Die Leute, welche in den Ruinen halten, sind nicht gegen die Beduinen, sondern nach Amadijah bestimmt.«

»Sie sollen bereits übermorgen aufbrechen? Dann kommen sie just am Tage eures großen Festes hier an!«

»Emir!«

Er sprach nur dies eine Wort, aber im Tone des höchsten Schreckens. Ich fuhr fort:

»Bemerke, daß weder die Süd— noch die Nordseite von Scheik Adi, sondern nur die West— und die Ostseite für Truppen zugänglich sind. Zehn Stunden von hier versammeln sich im Westen tausend Mann bei Mossul, und zwölf Stunden von hier im Osten vereinigen sich fünfhundert Mann in Amadijah. Scheik Adi wird eingeschlossen, und es ist kein Entrinnen möglich.«

»Herr, wäre dies so gemeint?«

»Glaubst du wirklich, daß fünfhundert Mann hinreichend wären, in das Gebiet der Kurden von Berwari, von Bohtan, Tijari, Chal, Hakkiari, Karitha, Tura-Ghara, Baz und Schirwan einzufallen? Diese Kurden würden ihnen schon am dritten Tage sechstausend Streiter entgegen stellen können.«

»Du hast recht, Emir; es ist auf uns gezielt!«

»Jetzt, wo du dich von den Gründen der Wahrscheinlichkeit überzeugen ließest, vernimm denn: Ich weiß es aus dem eigenen Munde des Mutessarif, daß er euch in Scheik Adi überfallen will.«

»Wirklich?«

»Höre!«

Ich erzählte ihm von meiner Unterredung mit dem Gouverneur das, was mich zu meiner Schlußfolgerung berechtigte. Als ich geendet hatte, erhob er sich und schritt einige Male auf und ab. Dann bot er mir die Hand.

»Ich danke dir, o Herr; du hast uns alle gerettet! Hätten uns fünfzehnhundert Soldaten unerwartet überfallen, so wären wir verloren gewesen; nun aber wird es mir lieb sein, wenn sie wirklich kommen. Der Mutessarif hat uns mit Vorbedacht in Schlaf gelullt, um uns zur Wallfahrt nach Scheik Adi zu verlocken; er hat sich alles sehr schlau ausgesonnen; eines aber hat er außer acht gelassen: – die Mäuse, welche er fangen will, werden so zahlreich werden, daß sie die Katzen zerreißen können. Erzeige mir die Gnade, keinem Menschen etwas von dem zu sagen, was wir gesprochen haben, und erlaube, daß ich mich für einige Augenblicke entferne.«

Er ging hinaus.

»Wie gefällt er dir, Emir?« fragte Mohammed Emin.

»Ebenso wie dir!«

»Und dies soll ein Merd-esch-Scheïtan, ein Teufelsanbeter sein?« fragte Halef. »Einen Dschesiden habe ich mir vorgestellt mit dem Rachen eines Wolfes, mit den Augen eines Tigers und mit den Krallen eines Vampyr!«

»Glaubst du nun immer noch, daß dich die Dschesidi um den Himmel bringen werden?« fragte ich ihn lächelnd.

»Warte es noch ab, Sihdi! Ich habe gehört, daß der Teufel oft eine sehr schöne Gestalt annehme, um den Gläubigen desto sicherer zu betrügen.«

Da öffnete sich die Türe, und ein Mann trat ein, dessen Anblick ein ganz ungewöhnlicher war. Seine Kleidung zeigte das reinste Weiß, und schneeweiß war auch das Haar, welches ihm in langen lockigen Strähnen über den Rücken herabwallte. Er mochte wohl in die achtzig Jahre zählen; seine Wangen waren eingefallen, und seine Augen lagen tief in ihren Höhlen, aber ihr Blick war kühn und scharf, und die Bewegung, mit welcher er eingetreten war und die Türe geschlossen hatte, zeigte eine ganz elastische Gewandtheit. Der volle Bart, welcher ihm rabenschwarz und schwer bis über den Gürtel herniederhing, bildete einen merkwürdigen Kontrast zu dem glänzenden Schnee des Haupthaares. Er verbeugte sich vor uns und grüßte mit volltönender Stimme:

»Günesch-iniz söjündürme-sun – eure Sonne verlösche nie!« Und dann fügte er hinzu: »Hun be kurmangdschi zanin – versteht ihr kurdisch zu sprechen?«

Diese letztere Frage war im kurdischen Dialekte des Kurmangdschi ausgesprochen, und als ich unwillkürlich mit der Antwort zögerte, meinte er:

»Schima zazadscha zani?«

Dies war ganz dieselbe Frage im Zazadialekt. Diese beiden Dialekte sind die bedeutendsten der kurdischen Sprache, die ich damals noch nicht kannte. Ich verstand daher die Worte nicht, erriet aber ihren Sinn und antwortete auf türkisch:

»Seni an-lamez-iz – wir verstehen dich nicht. Jalwar-iz söjlem türkdsche – bitte rede türkisch!«

Dabei erhob ich mich, um ihm meinen Platz anzubieten, wie es seinem Alter gegenüber der Anstand erforderte. Er ergriff meine Hand und fragte:

»Nemtsche sen – bist du der Deutsche?«

»Ja.«

»Izim seni kutschaklam-am – erlaube, daß ich dich umarme!«

Er drückte mich in der herzlichsten Weise an sich, nahm aber den angebotenen Platz nicht an, sondern setzte sich an die Stelle, wo der Bey gesessen hatte.

»Mein Name ist Kamek,« begann er. »Ali Bey sendet mich zu euch.«

»Kamek? Der Bey hat bereits von dir gesprochen.«

»Wobei hat er mich erwähnt?«

»Es würde dir Schmerz machen, es zu hören.«

»Schmerz? Kamek hat niemals Schmerz. Alle Schmerzen, deren das Herz des Menschen fähig ist, habe ich in einer einzigen Stunde durchgekostet. Wie kann es da noch ein Leid für mich geben?«

»Ali Bey sagte, daß du den Miralai Omar Amed kennst.«

Es zuckte keine Falte seines Gesichtes, und seine Stimme klang ganz ruhig, als er antwortete:

»Ich kenne ihn, aber er kennt mich noch nicht. Er hat mir mein Weib und meine Söhne getötet. Was ist‘s mit ihm?«

»Verzeihe; Ali Bey wird es dir selbst sagen!«

»Ich weiß, daß ihr nicht sprechen sollt; aber Ali Bey hat kein Geheimnis vor mir. Er hat mir mitgeteilt, was du ihm von der Absicht der Türken gesagt hast. Glaubst du wirklich, daß sie kommen werden, um unser Fest zu stören?«

»Ich glaube es.«

»Sie sollen uns besser gerüstet finden als damals, wo meine Seele verloren ging. Hast du ein Weib und hast du Kinder?«

»Nein.«

»So kannst du auch nicht ermessen, daß ich lebe und doch längst gestorben bin. Aber du sollst es erfahren. Kennst du Tel Afer?«

»Ja.«

»Du warst dort?«

»Nein, aber ich habe von ihm gelesen.«

»Wo?«

»In den Beschreibungen dieses Landes und auch in – – du bist ein Pir, ein berühmter Heiliger der Dschesidi, du kennst also auch das heilige Buch der Christen?«

»Ich besitze den Teil, welcher Eski-Saryk205 genannt wird, in türkischer Sprache.«

»Nun, so hast du auch gelesen das Buch des Propheten Jesaias?«

»Ich kenne es. Dschesajai ist der erste der sechzehn Propheten.«

»So schlage nach in diesem Buche das siebenunddreißigste Kapitel. Dort lautet der zwölfte Vers: »Haben auch die Götter der Heiden alle die gerettet, so von meinen Vätern vernichtet wurden, Gozam und Haram, und Reseph, und die Söhne Edens zu Thalassar?« Dieses Thalassar ist Tel Afer.«

Er blickte mich erstaunt an.

»So kennt ihr aus eurem heiligen Buche die Städte unseres Landes, welche bereits vor Jahrtausenden bestanden?«

»So ist es.«

»Euer Kitab ist größer als der Kuran. Aber höre! Ich wohnte in Mirkan, am Fuße des Dschebel Sindschar, als die Türken über uns hereinbrachen. Ich flüchtete mit meinem Weibe und zwei Söhnen nach Tel Afer, denn es ist eine feste Stadt, und ich hatte dort einen Freund, welcher mich bei sich aufnahm und verbarg. Aber auch hier drangen die Wütenden ein, um alle Dschesidi, welche hier Schutz gesucht hatten, zu töten. Mein Versteck wurde entdeckt und mein Freund für seine Barmherzigkeit erschossen. Ich ward gebunden und mit Weib und Kindern vor die Stadt gebracht. Dort loderten die Feuer, in denen wir den Tod finden sollten, und dort floß das Blut der Gemarterten. Ein Mülasim206 stach mir, um mir Schmerz zu bereiten, sein Messer durch die Wangen. Hier siehst du die Narben noch. Meine Söhne waren mutige Jünglinge; sie sahen meine Qual und vergriffen sich an ihm. Dafür wurden auch sie gefesselt, und ebenso geschah es ihrer Mutter. Man schlug beiden die rechte Hand ab und schleppte sie dann zum Feuer. Auch mein Weib wurde verbrannt, und ich mußte es sehen. Dann zog der Mülasim das Messer aus meinem Antlitz und stach es mir langsam, sehr langsam in die Brust. Als ich erwachte, war es Nacht, und ich lag unter Leichen. Die Klinge hatte das Herz nicht getroffen, aber ich lag in meinem Blute. Ein Chaldäer fand mich am Morgen und verbarg mich in den Ruinen von Kara-tapeh. Es vergingen viele Wochen, ehe ich mich erheben konnte, und mein Haar war in der Todesstunde der Meinen weiß geworden. Mein Leib lebte wieder, aber meine Seele war tot. Mein Herz ist verschwunden; an seiner Stelle klopft und schlägt ein Name, der Name Omar Amed, denn so hieß jener Mülasim. Er ist jetzt Miralai.«

Er erzählte das in einem einförmigen, gleichgültigen Tone, der mich mehr ergriff, als der glühendste Ausdruck eines unversöhnlichen Rachegefühles. Die Erzählung klang so monoton, so automatisch, als würde sie von einem Narkotisierten oder von einem Nachtwandler vorgetragen. Es war schrecklich anzuhören.

»Du willst dich rächen?« fragte ich.

»Rächen? Was ist Rache?« antwortete er in demselben Tone. »Sie ist eine böse, heimtückische Tat. Ich werde ihn bestrafen, und dann wird mein Leib dorthin gehen, wohin meine Seele vorangegangen ist. – Ihr werdet während unseres Festes bei uns verweilen?«

»Wir wissen es noch nicht.«

»Bleibt hier! Wenn ihr geht, wird euch euer Vorhaben nicht glücken; bleibt ihr aber, so dürft ihr alle Hoffnung haben, daß es gelingen werde; denn es wird euch kein Türke mehr im Wege sein, und die Dschesidi können euch leicht unterstützen.«

Er sprach jetzt wieder in einem ganz andern Tone, und sein Auge hatte das frühere Leben wieder bekommen.

»Unsere Anwesenheit würde euer Fest vielleicht nur stören,« sagte ich in der Absicht, vielleicht einiges über seine Sekte zu erfahren.

Er schüttelte langsam den Kopf.

»Glaubst du auch das Märchen oder vielmehr die Lügen, welche man von uns erzählt? Vergleiche uns mit andern, so wirst du Reinlichkeit und Reinheit finden. Die Reinheit ist es, nach der wir streben; die Reinheit des Leibes und die Reinheit des Geistes, die Reinheit der Rede und die Reinheit der Lehre. Rein ist das Wasser, und rein ist die Flamme. Darum lieben wir das Wasser und taufen mit demselben. Darum verehren wir das Licht als das Symbol des reinen Gottes, von dem auch euer Kitab sagt, daß er in einem Atesch, in einem Lichte wohnt, zu welchem niemand kommen kann. Ihr heiliget euch mit Su ikbalün, dem geweihten Wasser, und wir heiligen uns mit Atesch ikbalün, dem geweihten Feuer. Wir tauchen die Hand in die Flamme und segnen mit derselben unsere Stirn, wie ihr es mit dem Wasser tut. Ihr sagt, Azerat Esau207 sei auf der Erde gewesen und werde einst wiederkommen; wir wissen ebenso, daß er einst unter den Menschen wandelte, und glauben, daß er zurückkehren werde, um uns die Tore des Himmels zu öffnen. Ihr verehrt den Heiland, welcher auf der Erde lebte; wir verehren den Heiland, welcher einst wiederkommen wird. Wir wissen, wann er ein Mensch gewesen ist, aber wir wissen nicht, wann er wiederkommen wird, und daher tun wir das, was er den Seinen befahl, als er sie in dem Baghtsche Gethseman208 schlafend gefunden: »Gözetyn namaz kalyn ansizdan üzerine warilmemisch olursaniz – wachet und betet, auf daß ihr nicht überfallen werdet!« Darum bedienen wir uns des Hahnes, der ein Symbol der Wachsamkeit ist. Tut ihr dies nicht auch? Ich habe mir erzählen lassen, daß die Christen auf den Dächern ihrer Häuser und ihrer Tempel sehr oft einen Hahn anbringen, welcher aus Blech gemacht und mit Gold überzogen ist. Ihr nehmt einen blechernen Hahn und wir einen lebendigen. Sind wir deshalb Götzendiener oder böse Menschen? Eure Priester sind weiser und eure Lehren sind besser; wir würden bessere Lehren haben, wenn wir weisere Priester hätten. Ich bin unter allen Dschesidi der einzige, welcher euer Kitab lesen und schreiben kann, und darum rede ich zu dir, wie kein anderer zu dir reden wird.«

»Warum bittet ihr nicht um Priester, welche die eurigen unterweisen könnten?«

»Weil wir nicht teilnehmen wollen an euren Uneinigkeiten. Die Lehre der Christen ist gespalten. Wenn ihr uns einmal sagen könnt, daß ihr einig seid, so werdet ihr uns willkommen sein. Wenn die Christen des Abendlandes uns Lehrer senden, von denen jeder anders lehrt, so tun sie sich selbst den größten Schaden. Azerat Esau sagt in eurem Kitab: »Im jol de gertscheklik de ömir de – ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben.« Warum haben die Abendländischen so viele Wege, so viele Wahrheiten, da es doch nur den Einen gibt, der das Leben ist? Darum streiten wir uns nicht über den Heiland, der bereits hier gewesen ist, sondern wir halten uns rein und harren des Erlösers, welcher kommen wird.«

Da trat Ali Bey wieder ein, und das war mir – offen gestanden – sehr lieb. Meine Wißbegierde in Beziehung auf die Teufelsanbeter hätte mich beinahe diesem einfachen Kurden gegenüber in Verlegenheit gebracht. Ich mußte bei dem Vorwurfe der Glaubensspaltung in meiner eigenen Heimat schweigen— leider, leider! Der Pir erhob sich und reichte mir die Hand.

»Allah sei bei dir und auch bei mir! Ich gehe den Weg, den ich gehen muß, aber wir werden uns wiedersehen.«

Er reichte auch den Andern die Hand und ging. Ali Bey winkte ihm nach und sagte:

»Das ist der Weiseste unter den Dschesidi; ihm kommt keiner gleich. Er war in Persistan und Indien; er war in Jerusalem und Stambul; er hat überall gesehen und gelernt und sogar ein Buch geschrieben.«

»Ein Buch?« fragte ich erstaunt.

»Er ist der einzige, der richtig schreiben kann. Er wünscht, daß unser Volk einst so klug und gesittet werde, wie die Männer des Abendlandes, und dies können wir nur aus den Büchern der Franken lernen. Damit nun einmal diese Bücher in unserer Sprache niedergeschrieben werden können, hat er viele hundert Wörter unserer Mundarten verzeichnet. Das ist sein Buch.«

»Das wäre ja köstlich! Wo befindet sich dieses Buch?«

»In seiner Wohnung.«

»Und wo ist diese?«

»In meinem Hause. Pir Kamek ist ein Heiliger. Er wandert im Lande umher und ist überall hochwillkommen. Ganz Kurdistan ist seine Wohnung, aber seine Heimat hat er bei mir aufgeschlagen.«

»Denkst du, daß er dieses Buch mir einmal zeigen werde?«

»Er wird es sehr gerne tun.«

»Ich werde ihn sofort darum bitten! Wohin ist er gegangen?«

»Bleibe! Du wirst ihn nicht finden, denn er ist gegangen, um über die Seinigen zu wachen. Dennoch aber sollst du das Buch erhalten; ich werde es dir holen. Vorher aber versprecht mir, daß ihr bleiben wollt!«

»Du meinst, wir sollen den Ritt nach Amadijah aufschieben?«

»Ja. Es waren drei Männer aus Kaloni da. Sie gehören zu dem Zweige Badinan des Stammes Missuri und sind gewandt, tapfer, klug und mir treu ergeben. Ich habe sie ausgesandt nach Amadijah, um die Türken auszukundschaften. Sie werden zugleich versuchen, Amad el Ghandur zu finden; das habe ich ihnen ganz besonders empfohlen, und bis sie Nachricht bringen, mögt ihr es euch bei mir gefallen lassen!«

Damit waren wir herzlich gern einverstanden; Ali Bey umarmte uns vor Freuden nochmals, als wir ihm dies mitteilten, und bat uns:

»Kommt jetzt mit mir, damit auch mein Weib euch sehe!«

Ich war erstaunt über diese Einladung, machte aber später die Erfahrung, daß die Dschesidi ihre Frauen bei weitem nicht so abschließen, wie es die Mohammedaner tun. Sie führen ein patriarchalisches Leben, und nie bin ich im Oriente so an das heimatliche, deutsche Familienleben erinnert worden, als bei ihnen. Natürlich besaßen die gewöhnlichen Leute nicht die Klarheit der religiösen Ansicht wie Pir Kamek, aber dem falschen Griechen, dem schachernden, sittenlosen Armenier, dem rachsüchtigen Araber, dem trägen Türken, dem heuchlerischen Perser und dem raubsüchtigen Kurden gegenüber mußte ich den fälschlicherweise so übel beleumundeten »Teufelsanbeter« achten lernen. Sein Kultus schwankt zwischen Chaldäismus, Islam und Christentum, aber nirgend dürfte das letztere einen so fruchtbaren Boden finden, wie bei den Dschesidi, falls die frommen Sendboten es verstehen wollten, den Sitten und Gebräuchen derselben ein klein wenig Rechnung zu tragen.

Draußen vor dem Hause saß der Buluk Emini neben seinem Esel. Beide speisten, der Esel Gerste und der Baschi-Bozuk getrocknete Feigen vom Sindschar, von denen er mehrere Schnüre vor sich liegen hatte. Und dabei erzählte er kauend den zahlreich um ihn Stehenden von seinen Heldentaten. Halef gesellte sich zu ihm; wir drei andern aber gingen nach der Abteilung des Hauses, welche der Gebieterin zur Wohnung diente.

Sie war sehr jugendlich und trug einen kleinen Knaben auf dem Arme. Ihr schönes schwarzes Haar war in viele, lang herabhängende Zöpfe geflochten, und eine Anzahl funkelnder Goldstücke bedeckte ihre Stirn.

»Seid willkommen, ihr Herren!« sagte sie in schmuckloser, ungekünstelter Einfachheit und reichte uns die Rechte.

Ali Bey nannte uns ihren Namen und ihr dann auch die unsrigen. Ihr Name ist mir leider wieder entfallen. Ich nahm ihr den Knaben vom Arme und küßte ihn. Sie schien mir dies hoch anzurechnen und darauf recht stolz zu sein. Der kleine Bey war allerdings auch ein nettes Kerlchen, höchst sauber gehalten und ganz unähnlich jenen dickleibigen und frühalten orientalischen Kindern, welche man besonders häufig bei den Türken findet. Ali Bey fragte mich, wo wir essen wollten, ob in unserm Gemache oder hier in der Frauenwohnung, und ich entschloß mich sofort für das letztere. Dem kleinen Teufelsanbeter schien es bei mir recht gut zu gefallen; er blitzte mich mit seinen dunklen Aeuglein neckisch an, zauste mir im Barte herum, strampelte vor Vergnügen mit Armen und Beinen und stammelte zuweilen ein Wort, welches weder er noch ich verstand. Wir standen in Beziehung auf das Kurdische auf ganz gleicher Rangstufe, und darum gab ich ihn auch während des Mahles nicht her, was mir die Mutter dadurch vergalt, daß sie mir den besten Teil der Speisen vorlegte und mir nach Tisch ihren Garten zeigte.

Am besten schmeckte mir der Kursch, ein Gericht aus Sahne, welche im Ofen gebacken und dann mit Zucker und Honig übergossen wird, und am besten gefiel mir im Garten jene wundervolle feuerfarbene Baumblüte, bei welcher sich immer Blume neben Blume erzeugt und die von den Arabern Bint el Onsul, Tochter des Konsuls, genannt wird.

Dann holte mich Ali Bey ab, um mir mein Gemach zu zeigen. Es befand sich auf der Plattform des Daches, so daß ich mich der herrlichsten Aussicht erfreute. Als ich eintrat, bemerkte ich auf dem niedrigen Tische ein starkes Heft.

»Das Buch des Pir,« erklärte Ali auf meinen fragenden Blick.

Im Nu hatte ich es ergriffen und mich auf den Diwan niedergelassen. Der Bey aber ging lächelnd hinaus, um mich beim Studium des kostbaren Fundes nicht zu stören. Das Heft war in persisch-arabischer Schrift geschrieben und enthielt eine ansehnliche Sammlung von Wörtern und Redensarten in mehreren kurdischen Dialekten. Ich bemerkte bald, daß es mir nicht sehr schwer fallen werde, mich im Kurdischen verständlich zu machen, sobald es mir nur erst gelungen sei, mir über die phonetische Bedeutung der Buchstaben klar zu werden.

Hier war die Praxis von Bedeutung, und ich beschloß, den hiesigen Aufenthalt in dieser Beziehung so viel wie möglich auszunutzen.

Mittlerweile brach die Dämmerung herein, und unten am Bache, wo die Mädchen Wasser schöpften, während einige Bursche ihnen dabei halfen, erklang folgender Gesang:

»Ghawra min ave theBina michak, dartschin ber pischteDave min chala surat ta kateNatschalnik ak bjerdza ma, bischanda ma Rusete.«209

Das war ein rhythmisch und melodisch hübscher Gesang, wie man ihn sonst im Oriente nicht gleich zu hören bekommt. Ich lauschte, aber leider blieb es bei dieser einen Strophe, und ich erhob mich, um hinauszugehen, wo ein reges Leben herrschte, denn es kamen immerfort Fremde, und es wurde Zelt neben Zelt errichtet. Man merkte, daß ein bedeutendes Fest nahe bevorstand. Als ich vor die Tür trat, sah ich eine ansehnliche Versammlung um den kleinen Buluk Emini stehen, welcher laut erzählte.

»Schon bei Sayda habe ich gekämpft,« rühmte er sich, »und dann auf der Insel Candia, wo wir die Empörer besiegten. Nachher focht ich in Beirut unter dem berühmten Mustapha Nuri Pascha, dessen tapfere Seele jetzt im Paradiese lebt. Damals hatte ich auch meine Nase noch, und diese verlor ich in Serbien, wohin ich mit Schekib Effendi gehen mußte, als Kiamil Pascha den Michael Obrenowitsch fortjagte.«

Der gute Baschi-Bozuk schien gar nicht mehr genau zu wissen, bei welcher Gelegenheit er um seine Nase gekommen war. Er fuhr fort:

»Ich wurde nämlich hinter Bukarest überfallen. Zwar wehrte ich mich tapfer; schon lagen über zwanzig Feinde tot am Boden; da holte einer mit dem Säbel aus; der Hieb sollte mir eigentlich den Kopf spalten, da ich aber denselben zurückzog, so traf er meine Na – – —«

In diesem Augenblick erscholl in unmittelbarer Nähe ein Schrei, wie ich ihn in meinem Leben noch gar nicht gehört hatte. Es klang, als ob auf den hohen, schrillen Pfiff einer Dampfpfeife das Kollern eines Truthahnes folge, und daran schloß sich jenes vielstimmige, ächzende Wimmern, welches man zu hören bekommt, wenn einer Orgel mitten im Spiele der Wind ausgeht. Die Anwesenden starrten erschrocken das Wesen an, welches diese rätselhaften, antediluvianischen Töne ausgestoßen hatte. Ifra aber meinte ruhig:

»Was staunt ihr denn? Mein Esel war‘s! Er kann die Dunkelheit nicht leiden; darum schreit er die ganze Nacht hindurch, bis es wieder licht geworden ist.«

Hm! Wenn es so stand, so war dieser Esel doch eine ganz liebenswürdige Kreatur! Diese Stimme mußte ja Tote lebendig machen! Wer sollte während der Nacht an Schlaf und Ruhe denken, wenn man die musikalischen Impromptüs dieser vierbeinigen Jenny Lind anhören mußte, welche in der Lunge eine Diskantposaune, in der Gurgel einen Dudelsack und im Kehlkopfe die Schnäbel und Klappen von hundert Klarinetten zu haben schien.

192.Amerika.
193.Katholiken.
194.Josua.
195.Simson.
196.Hirt David.
197.Noah.
198.Moses.
199.Teufelsleute.
200.Kapitän, Befehlshaber von hundert Mann.
201.Major, Befehlshaber von tausend Mann.
202.Oberst.
203.Regimentsquartiermeister.
204.Dschesidischer Heiliger.
205.Altes Testament.
206.Leutnant.
207.Der Herr Jesus.
208.Garten Gethsemane.
209.Frei übersetzt: »Ein christliches Mädchen kommt Wasser zu holen.Ich steh´ ihr im Rücken und atme verstohlen.Das Mal ihrer Wange, mein Mund wird es küssen,Und sollt ich in Fesseln nach Rußland dann müssen.«
Age restriction:
12+
Release date on Litres:
04 October 2016
Volume:
570 p. 1 illustration
Copyright holder:
Public Domain