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Der Schut

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»Vom Erfüllen oder Nichterfüllen meinerseits kann keine Rede sein. Du bist der Vater und hast also allein zu bestimmen, was dein Sohn zu tun oder zu lassen hat. Es kommt nur auf dich an, ob du ihn mitnehmen willst oder nicht.«

»Das sagst du, Sihdi; aber die Haddedihn werden anders denken. Ich vermute, daß sie sich weigern werden, einen Knaben mitzunehmen.«

»Das kann ich ihnen, aufrichtig gesagt, gar nicht verdenken, obwohl sie den beabsichtigten Ritt viel leichter nehmen als ich.«

»Leichter? So hältst du ihn für schwieriger als sie?«

»Nicht allein für schwieriger, sondern auch für gefährlicher.«

»Gefährlich? Weshalb?«

»Ihr habt mir die Führung übergeben und, wie ich nur zu dir allein sage, ganz wohl daran getan, denn ich bin als Abendländer viel bedenklicher als sie. Ich habe mich gewöhnt, mir alles vorher zu überlegen, und halte es für leicht möglich, daß wir einen Zusammenstoß mit den Bebbeh haben.«

»Wir können aber doch leicht die Gegend vermeiden, in welcher sie sich jetzt befinden!«

»Nein, das können wir wahrscheinlich nicht, denn es ist leicht denkbar, daß sie sich grad dort befinden, wohin wir jetzt wollen.«

»Am Grabe Mohammed Emins etwa?«

»Ja.«

»Was können sie dort wollen?«

»Dasselbe, was wir beabsichtigen.«

»Ich verstehe dich nicht, Sihdi. Sie können doch nicht auf den Gedanken kommen, am Grabe des Scheiks, der ihr Feind und Gegner war, zu beten!«

»Das wird ihnen freilich nicht einfallen; aber es gibt ein anderes Grab dort, welches sie grad an demselben Tage anziehen kann. Denke an ihren Scheik Gasahl Gaboya!«

»Den ich erschossen habe?«

»Ja. Er hat mit Mohammed Emin denselben Todestag. Kannst du mich nun begreifen?«

»Allah l'Allah, daran habe ich gar nicht gedacht! Aber da fällt mir ein, daß es gar kein Grab gibt, an dem sie beten könnten, denn wir haben damals ihre Toten, also auch die Leiche ihres Scheiks, in das Wasser geworfen.«

»Was ich nicht zugegeben hätte, wenn ich nicht betäubt gewesen wäre,« fiel ich ein. »Man muß die Toten ehren; das ist damals nicht geschehen, und darum wird die Stimmung der Bebbeh seitdem eine doppelt feindselige geworden sein. Dazu kommt, daß Amad el Ghandur nachher den Tod seines Vaters an ihnen gerächt hat.«

»Du meinst also, daß sie an das Wasser kommen werden, um zu beten?«

»Ich meine, daß ihr Kommen möglich ist, weiter nichts; aber wenn sie kommen, so brauchen sie sich nicht an das Wasser zu stellen; davon bin ich überzeugt. Sie sind auf alle Fälle, als wir fort waren, zurückgekehrt, um zu sehen, was mit ihren gefallenen Kriegern geschehen ist. Sie haben die Leichen aus dem Wasser gezogen und in die Erde begraben; es gibt also eine Stätte, an welcher sie sich zur Andacht versammeln können. Unsere Haddedihn sind nicht umsichtig genug, daran zu denken. Ich habe also guten Grund, unsern Ritt für nicht ungefährlich zu halten. Es kann leicht zu einem Zusammenstoße mit ihnen kommen. Nimmst du deinen Sohn mit, so weißt du nun, welcher Gefahr du ihn aussetzest.«

»Sihdi, das ist aber doch kein Grund, ihn hier zu lassen! Soll er sich vor einer Gefahr fürchten, welcher sein Vater kaltblütig entgegengeht? Er wird nun erst recht wünschen, bei mir sein zu dürfen. Ist er vielleicht besser als ich? Bin ich so wertlos gegen ihn, daß ich, der Vater, mich erschießen lassen muß, während er, der Sohn, hier bei den Weibern zurückbleibt, um seinen edlen Leib zu pflegen und seine zarte Haut mit wohlriechenden Salben einzureiben? Wie kann ein Held aus ihm werden, wenn er es schon jetzt verschmäht, den Glanz seines Mutes zu zeigen und den Schimmer seiner Tapferkeit zu pflegen. Soll ich mir ein solches Ding bauen lassen, was ihr im Abendlande einen Choristan el Kezaz (* Glasschrank.) nennt, und meinen Sohn hineinsperren, damit kein Stäubchen auf ihn fallen und er seine Feigheit durch die Glasscheiben bewundern lassen kann?«

Der kleine Hadschi war in Aufregung geraten. Er sprach noch weiter und brachte alles Mögliche vor, um mich zu überzeugen, daß es ganz unumgänglich notwendig sei, den Knaben grad jetzt an diesem Zuge teilnehmen zu lassen. Ich freute mich über diesen Eifer dieses wackeren Menschen, seinem Sohne Gelegenheit zu geben, schon jetzt zu zeigen, daß aus ihm ein würdiges Ebenbild seines Vaters zu erwarten sei; ich war gleich beim ersten Worte, welches er gesprochen hatte, nicht abgeneigt gewesen, auf seinen Wunsch einzugehen, und ließ jetzt nur noch die letzte Einwendung hören:

»Deine Gründe sind mir leicht begreiflich, lieber Halef; aber was sagt Hanneh, die Mutter des Knaben dazu? Sie hat das Recht, ihre Meinung auch hören zu lassen.«

»Ja, das hat sie, und sie soll dir sofort sagen, was sie denkt. Hanneh, du Liebling aller Lieblinge, erkläre unserm Sihdi, was dein Wunsch und Wille ist!«

Sie hatte bei uns gesessen, ohne bis jetzt ein Wort zu sprechen, war aber unserem Gespräch mit größter Teilnahme gefolgt; jetzt ließ sie sich in bescheidenem Tone vernehmen:

»Sihdi, du magst bestimmen, was du willst, so füge ich mich deinem Willen, denn ein Weib hat sich dem Rate der Männer zu unterwerfen. Aber da du befiehlst, daß ich dir meine Meinung sage, so sollst du sie hören. Du weißt, wie sehr ich Hadschi Halef Omar, meinen Herrn und Gebieter, liebe; dennoch habe ich ihn gern mit dir ziehen lassen, obwohl ich wußte, welche Gefahren auf euch warteten und daß er sein Leben wohl oft zu wagen haben werde. Ich habe im Stillen um ihn gebangt und für ihn gebetet; aber ich bin stolz darauf gewesen, daß er dein Begleiter sein und dir zeigen durfte, daß er ein treues und mutiges Herz besitzt. Er hat alle Fährlichkeiten glücklich überstanden und ist zu mir als ein Mann zurückgekehrt, der mehr erlebte und erfuhr, als alle andern Männer und Krieger dieser Gegend. Jetzt sitzt er im Rate der Alten, die gern seine Stimme hören und ihr wohl immer folgen. Das erfüllt mein Herz mit großer Wonne, denn ich besitze einen Gemahl, mit welchem sich kein anderer vergleichen darf. Wir vom Stamme der Ateïbeh waren die Verachtetsten unter den Verachteten, als du uns kennen lerntest; jetzt ist das ganz anders geworden, denn der Name Hadschi Halef Omar ist mit reichem Ruhm bekannt, soweit die Fluten des Euphrat und des Tigris fließen. Es kommen die Krieger fremder, weit entfernter Stämme, um meinen Gemahl zu sehen und ihn kennen zu lernen; werde da nicht auch ich von den Strahlen seiner Berühmtheit beleuchtet? Ebenso stolz möchte ich auch auf meinen Sohn sein dürfen, und ich weiß, daß nur du es bist, der ihn so schnell zum Ruhme führen kann, wie der Name seines Vaters durch dich auf alle Lippen und Zungen gebracht worden ist. Ich liebe ihn mehr als mich selbst, aber grad darum ist es mein höchster Wunsch, daß er seines Vaters würdig werden möge. Ich weiß ihn in deinem Schutze so sicher, als ob er sich hier in diesem Zelte befinde. Du kannst ihm ein Beispiel und Vorbild für sein ganzes, ferneres Leben geben, aber nur dadurch, daß er es vor sich hat und sieht, dadurch, daß er sich in deiner Nähe befindet. Darum habe ich denselben Wunsch, den Hadschi Halef Omar ausgesprochen hat: erfülle unsere Bitte, und nimm ihn mit! Er wird dann von dieser Erinnerung zehren, wie man aus einem Brunnen trinkt, der unaufhörlich Wasser gibt!«

Da schlang Halef seine Arme um sie, küßte sie auf Stirne, Mund und Wangen und rief aus:

»Das habe ich gewußt, daß du so sprechen würdest, du Verständigste unter den Verständigen, du Weib des Tapfern und du Mutter des zukünftigen Helden! Hast du es gehört, Sihdi? Sie will es auch, daß Kara Ben Hadschi Halef Omar mit uns gehe. Sei nicht dagegen, sondern stimme bei!«

Er streckte mir seine Hand entgegen; ich schlug ein und antwortete:

»Euer Wunsch sei erfüllt; er soll mit uns reiten.«

»Auch wenn die Andern dagegen sind?«

»Auch dann, denn ich hoffe, daß die Haddedihn meine Fürsprache berücksichtigen werden.«

»O, das tun sie sicher und gewiß, Sihdi. Du darfst von ihnen verlangen, was du willst; sie tun es, wenn es überhaupt nur möglich ist.«

Er strahlte förmlich vor Entzücken, und auch Hanneh war hocherfreut darüber, daß ich meine Zusage gegeben hatte. Halef eilte fort, um seinem Sohne das Resultat dieser Unterredung mitzuteilen.

Was ich erwartet hatte, geschah dann später: Als die Haddedihn vernahmen, daß der Hadschi seinen Knaben mitnehmen wollte, waren sie einstimmig dagegen. Ich machte nicht viel Worte, um ihre Einwilligung zu erlangen, sondern sagte nur, daß es auch mein Wunsch sei, meinen »Paten«, der meinen Namen trage, bei mir zu haben; da ließen sie jeden Einwand fallen.

Am nächsten Morgen wurde schon frühzeitig zum Aufbruche gerüstet. Es waren ohne mich und den Knaben zwanzig Reiter, alle nach Kräften auf das beste bewaffnet. Mehrere Packpferde mußten die Speisevorräte tragen, welche wir mitnahmen, um nicht unterwegs auf die zeitraubende Jagd angewiesen zu sein. Amad el Ghandur ritt die Schimmelstute, ich meinen Rih und der Knabe den »Sohn« meines Rappen; Omar Ben Sadek saß auf dem Schecken des Aladschy; Halef hatte das nächstdem beste Pferd des Stammes geliehen bekommen, und auch die Andern waren so gut beritten, daß wir in Beziehung auf die Schnelligkeit unserer Reise ganz ohne Sorge sein konnten.

Wir wollten, wie bereits erwähnt, zunächst nach dem Zagrosgebirge, welches wir ohne Unfall nach Verlauf einer Woche erreichten. Wir fanden den Tschimarwald, an dessen Rande wir damals (* Siehe Band III, Seite 7.) lagerten, als wir mit den Turkomanen vom Stamm der Bejat zusammentrafen, und blieben die Nacht an derselben Stelle. Da wir beschlossen hatten, genau den damaligen Weg zu verfolgen, um die Orte, die wir zu jener Zeit berührt hatten, wiederzusehen, so ritten wir am nächsten Tage nach dem Bache in der Nähe jener Rundung, in welcher wir von den Bebbeh-Kurden unter Anführung ihres Scheiks Gasahl Gaboya überfallen worden waren. Hier blieben wir auch eine Nacht, und es versteht sich ganz von selbst, daß jede Erinnerung aufgefrischt und alles, was wir hier erlebt hatten, bis auf das Einzelnste durchgesprochen wurde.

 

Unserm Programm gemäß gelangten wir gegen Abend des nächsten Tages an die kleine Hütte, in welcher wir Allo, den bärenhaften Köhler, gefunden hatten. Sie war unbewohnt und ganz verfallen. Am darauffolgenden Mittag erreichten wir den Beroziehfluß, in dessen Wasser wir wie damals badeten. Einen Tag später ging es über die Höhe von Banna und dann in den nach Süden führenden Paß hinein. Vierundzwanzig Stunden darauf kamen wir in das schmale Tal mit dem wiesenähnlichen Streifen in der Mitte, wo die Bebbeh uns zum zweiten Male überfallen hatten, hierauf in das krumme Seitental, in welchem wir mit dem Bruder des Scheiks Gasahl Gaboya übernachtet hatten. Nachher gelangten wir an den Lagerplatz, wo die beiden Haddedihn gegen mich gestreikt hatten. Da blieb Amad el Ghandur halten und sagte zu mir:

»Emir, mein Vater lebte wohl heute noch, wenn wir uns nicht hier gegen deinen Willen empört und nachher infolgedessen den Scheik Gasahl Gaboya freigelassen hätten. Wir sind damals große Toren gewesen.«

Ich zog es vor, nicht zu antworten, denn meine Antwort hätte nur ein Vorwurf sein können, welcher vollständig überflüssig war.

Auch an das Haus von Mahmud Khansur, des Scheiks der Dschiafkurden, kamen wir wieder und stiegen bei demselben ab. Zu unserer Freude lebte der Hausmeister Gibrail Mamrahsch mit seinem Weibe noch. Sie erkannten uns wieder und luden uns ein, bei ihnen zu übernachten. Wir erfüllten ihnen diesen Wunsch sehr gern, denn wir hatten Zeit dazu und wußten, daß wir ihnen wirklich willkommen waren.

Bis jetzt hatten wir fast gar nichts erlebt. Ich war mit Halef und seinem Sohne stets vorangeritten, um die Gegend zu erkunden, und die Haddedihn hatten nur in bedeutender Entfernung folgen dürfen. Auf diese Weise war jede gefährliche Begegnung vermieden worden, aber auch jedes Zusammentreffen mit jemand, bei welchem wir uns nach dem jetzigen Stand der Dinge hätten erkundigen können. Dies konnte nun bei Gibrail Mamrahsch nachgeholt werden.

Halef hatte seinem Sohne unterwegs jeden in unserer Erinnerung lebenden Platz gezeigt und ihm – vielleicht zum hundertsten Male – erzählt, was an demselben geschehen war. Das geschah natürlich stets in seiner bilderreichen Weise, die mir auch jetzt viel Spaß bereitete. Seiner Schilderung nach war er wenigstens ein halber, ich aber viel mehr als ein ganzer Gott.

Ich hatte den kleinen Kara Ben Halef gleich vom ersten Tage unsres Rittes an in die Schule genommen. Er kam fast nie von meiner Seite und zeigte sich außerordentlich aufmerksam und gelehrig. Ich lehrte ihn, auf die Stimmen der Wildnis zu achten, und bei jeder Spur, auf welche wir trafen, zeigte ich ihm, nach welchen Regeln sie gelesen werden müsse, um richtig verstanden zu werden; dabei bekam ich schon nach Verlauf der ersten Wochen die Überzeugung, daß er sich zu einem recht tüchtigen Beduinen entwickeln werde. Ich gewann ihn lieb und sah, daß er mir seine Zuneigung auch geschenkt hatte. Omar Ben Sadek hatte sich dieselbe auch errungen und wurde von ihm nicht anders als Amm, d¨ i¨ Oheim von väterlicher Seite, genannt.

Als wir zum ersten Male bei Mamrahsch eingekehrt waren, hatten wir von ihm erfahren, daß sich nicht viele Dschiafkurden, zu denen er gehörte, in der Nähe befanden, vielmehr hatte der Stamm der Bilba sich aus Persien herüber in die Nähe gezogen. So stand es auch noch am heutigen Tage.

»Und die Bebbeh?« fragte ich ihn. »Wo haben diese jetzt ihre Weideplätze?«

»Zwischen Persien und dem Zagrosgebirge,« antwortete er.

»Also ziemlich weit von hier. Sind vielleicht in letzter Zeit welche hier in der Umgegend gewesen?«

»Bei mir nicht; aber eine Tagreise von hier pflegt jährlich ein Trupp von ihnen Rast zu machen.«

»Ach, wirklich? Mit solcher Regelmäßigkeit?«

»Ja. Jährlich einmal, ich glaube, um die jetzige Zeit lagern sie dort.«

»Wie groß ist ihre Anzahl?«

»Immer zehn oder zwölf Mann.«

»Was tun sie dort?«

»Sie scheinen ein Id el Amwat (* Totenfest.) zu feiern.«

»So? Gibt es Gräber dort?«

»Ja, mehrere; sie liegen am Ufer des Djalahflusses. Die Hügel bestehen aus Erde; droben aber auf der Felsenhöhe gibt es ein einzelnes Grab, welches aus Steinen errichtet ist.«

»Kennst du es?«

»Ja; ich bin einmal oben gewesen.«

»Ist es gut erhalten?«

»Sehr gut. Es sind nur einige Steine entfernt worden, so daß man in das Innere blicken kann. Da sieht man den Toten sitzen, welcher nicht verwest, sondern vertrocknet ist wie eine Mumija (* Mumie.) in Ägypten. Er hat einen sehr langen, silbergrauen Bart.«

»Hast du eine Ahnung, wer er gewesen sein mag?«

»Genau weiß ich es nicht, denn als ich im vorigen Jahr oben war, war sein Gesicht so eingetrocknet, daß die eigentlichen Züge nicht mehr vorhanden waren, aber ich glaubte, es sei der Scheik, der ehrwürdige Greis, welcher damals mit euch bei mir gewesen ist.«

»Das hast du ganz richtig erraten. Es ist Mohammed Emin, der Scheik der Haddedihn. Dieser Krieger hier ist Amad el Ghandur, sein Sohn und Nachfolger. Wir sind gekommen, ihm die »Ehren der Verstorbenen« zu erweisen. Ist sein Grab hier in der Gegend bekannt geworden?«

»Ja. Es pilgern viele Gläubige hinauf zur Höhe. Ich hörte erzählen, der Tote habe mit den Bebbehkurden gekämpft und so viele von ihnen getötet, wie unten am Wasser in den Gräbern liegen, sei dann aber durch die Überzahl überwunden worden.«

»Auch dies ist in der Hauptsache richtig. Da wundert es mich aber, daß diese Kurden bei ihren jährlichen Besuchen sich nicht an diesem Toten und seinem Grabe vergriffen haben.«

»Was denkst du, Herr! Sie sind zwar Diebe und Räuber, aber auch gläubige Moslemin, und kein wahrer Gläubiger schändet ein Grab, selbst wenn es das eines seiner ärgsten Feinde wäre. Der Prophet hat dies streng verboten; es steht im Kuran geschrieben.«

»Nicht da steht es geschrieben, und nicht Mohammed hat es verboten, sondern Samakhschari, der Erklärer, hat gesagt, daß derjenige, welcher das Grab eines Gläubigen schändet, am jüngsten Tage das seinige nicht verlassen dürfe, und also nicht in den Himmel kommen könne.«

»Seid Ihr dabei gewesen, Herr, als er getötet wurde?«

»Ja.«

»Darf ich erfahren, wie es geschehen ist? Ich möchte es sehr gern wissen, weil er doch mein Gast gewesen ist.«

Diese Gelegenheit, sein Erzählertalent leuchten zu lassen, ließ sich Halef natürlich nicht entgehen. Er ergriff sofort das Wort, um zu berichten, was am Todestage Mohammed Emins geschehen war.

Diese braven Leute taten wieder alles, um uns den Aufenthalt bei sich so angenehm wie möglich zu machen, und wurden darum, als wir sie am andern Morgen verließen, abermals reichlich beschenkt.

Gegen Mittag erreichten wir den berühmten Schamianweg, welcher Sulimania mit Kirmanschah verbindet, und gingen über den Garranfluß. Am folgenden Morgen kamen wir in die Nähe des Djalah, an dessen Ufer Mohammed Emin damals gefallen war. Da sich meine Vermutung, daß die Bebbeh die Gräber der Ihrigen besuchten, bewahrheitet hatte, so galt es nun, außerordentlich vorsichtig zu sein. Sie konnten schon hier sein, weil heute der elfte Haziran und morgen also der Jahrestag jenes siegreichen und für uns doch so unglücklichen Kampfes war.

Da ich Halefs Knaben nicht der Gefahr aussetzen wollte, ritt ich jetzt allein voran. Die Andern mußten mir einzeln und in gewissen Abständen folgen. So sehr ich meine Augen anstrengte, ich konnte keine Spur eines menschlichen Wesens entdecken. Wir erreichten ganz ungefährdet die Stelle, an welcher wir damals Mittagsrast gemacht hatten. Wie damals hatten wir auf der einen Seite den Fluß, auf der andern die mit Ahorn-, Kornelbäumen, Platanen und Kastanien bestandene sanfte Anhöhe, und vor uns erhob sich jener Felsenrücken, dessen zerklüftete Krone der Ruine einer alten Ritterburg sehr ähnlich war.

Die Gefährten wollten nun gleich nach der Stelle reiten, an welcher der Kampf stattgefunden hatte; ich gab dies aber nicht zu, da ich vorher rekognoszieren wollte. Sie mußten also zurückbleiben; ich aber stieg vom Pferde und schlich mich in der betreffenden Richtung weiter. Als ich den Platz erreichte, war auch da nicht die geringste Spur zu sehen; aber die Höhe des Grases, welches hier stand, machte mich bedenklich. Darum sagte ich, als ich zu meinen Begleitern zurückgekehrt war:

»Ich halte es für geraten, den Platz des Kampfes nicht aufzusuchen. Das Gras wächst dort so hoch und dicht, daß es, wenn wir es niedertreten, sich vor zwei oder drei Tagen nicht wieder aufrichten kann; es ist da vollständig unmöglich, unsere Spuren zu verwischen.«

»Meinst du wegen der Bebbehkurden?« fragte Amad el Ghandur.

»Ja.«

»Die sind doch nicht zu fürchten!«

»Nicht? Haben sie uns damals nicht den größten Schaden getan?«

»Damals waren es wohl vierzig Mann; jetzt zählen sie nur zehn oder zwölf.«

»Weißt du, daß auch heuer nur so wenige kommen werden? Ist es denn unmöglich, daß ihr Trupp in diesem Jahre ein bedeutender sein kann?«

»Das würde nichts schaden, denn wir sind vorbereitet, was wir damals nicht waren.«

»Wir haben aber doch beschlossen, jeden Kampf zu vermeiden!«

»Das haben wir, ja; aber es ist doch nicht nötig, uns vor diesen Hunden zu fürchten. Du bist zu ängstlich, Emir. Wir wissen ja gar nicht, ob sie heuer auch kommen werden. Sind wir hierher gekommen, um uns nicht an die Hauptstelle zu wagen? Ich muß den Ort sehen, an welchem das Blut meines Vaters geflossen ist. Ich würde hinreiten, und wenn tausend Kurden sich dort befänden. Vorwärts also!«

Er war bisher so ruhig gewesen; nun aber wirkte die Nähe des unglücklichen Platzes auf ihn ein; die schreckliche Erinnerung erregte ihn; er trieb sein Pferd weiter, und die Andern folgten ihm; ich konnte nicht allein zurückbleiben, rief ihm aber zu:

»Ihr habt damals den Tod deines Vaters selbst verschuldet; wenn ihr jetzt wieder so unvorsichtig seid, bitte ich euch, die Verantwortung dessen, was darauf folgen kann, nicht auf mich zu wälzen.«

»Habe keine Sorge,« rief er mir zurück; »es wird nichts geschehen. Und wenn etwas geschähe, so werden wir die Schuld dir nicht geben.«

Wir ritten auf dem Wiesenrande am Flusse hin, bogen um die Krümmung des Höhenzuges und waren an Ort und Stelle. Rechts von uns befand sich der Felsen, an welchem ich die kämpfenden Perser erblickt hatte. Vor uns gab es die Stelle, an welcher Amad el Ghandur die Feinde mit dem Kolben von sich abgewehrt hatte, den toten Vater zu seinen Füßen liegend. Links davon war Gasahl Gaboya von meinem Halef niedergeschossen worden, und seitwärts von dieser Stelle war ich mit dem Pferde niedergebrochen. Näher am Wasser sahen wir die Gräber der Kurden liegen. Es war ihnen anzusehen, daß sie von Zeit zu Zeit – also wohl immer am Jahrestage – ausgebessert und aufgeschüttet worden waren.

Amad el Ghandur stieg vom Pferde und kniete auf die Erde nieder, welche das Blut seines Vaters getrunken hatte; die Andern folgten, außer mir und Lindsay, seinem Beispiele, sie beteten. Dann, als sie sich wieder erhoben hatten, erklärte der Scheik ihnen an Ort und Stelle den Verlauf des Kampfes. Das benutzte der Lord, mir die Bemerkung zu machen:

»War ein schrecklich dummer Tag damals. Habe zwei Finger eingebüßt, also, da ich bloß zehn hatte, grad zwanzig Prozent. Ist das nicht ein wenig viel, Sir?«

»Gewiß,« nickte ich. »Aber das war wohl noch nicht alles. Hattet Ihr nicht auch noch eine Blessur, so da in der Nähe des Verstandes?«

»Yes. Hatte etliche Haare und ein Stück Knochen eingebüßt, ungefähr da, wo man im Kopfe sein bißchen Vernunft zu haben pflegt.«

»Da ging wohl auch so ein Stück von dieser Vernunft mit flöten?«

»Glaube es nicht, Sir, obgleich ich viel leichter als Ihr einen solchen Verlust ertragen könnte; habe davon grad so viel Überfluß, wie Euch davon fehlt. Well!«

Er wendete sich lachend von mir ab.

Ich hatte mich im Stillen darüber gewundert, daß Halef sich die Gelegenheit entgehen ließ, den Haddedihn den Verlauf des Kampfes zu erklären, und dies vielmehr dem Scheik überließ. Er war mit seinem Sohne an die Gräber der Kurden getreten, stand mit gefalteten Händen da und bewegte die Lippen im Gebete.

»Du betest?« fragte ich ihn, mich erstaunt stellend.

»Ja, Sihdi, ich und Kara Ben Halef, mein Sohn, haben auch hier gebetet.«

»An den Gräbern eurer Feinde?!«

»Nein, denn die Toten sind unsere Feinde nicht mehr; der Christ kennt überhaupt keine Feinde, er haßt keinen Menschen, sondern er liebt sie alle, alle; das hast du mir ja selbst gelehrt.«

»Was hast du gebetet? Die Fatiha?«

»Nein. Wer diese betet, ist ein Mohammedaner, und kein solcher betet am Grabe seines Feindes. Ich und mein Sohn haben als Christen hier gestanden und das heilige Abuna (* Vaterunser.) gebetet, welches ich von dir gelernt habe. Hanneh, die Perle unter den Frauen und Müttern, pflegt es auch mit uns zu beten. Wunderst du dich etwa darüber?«

 

»Nein, denn ich weiß, daß das Wort Gottes wie ein kleines Samenkorn ist, welches, in die Erde gelegt, sich zu einem Baume entwickelt, der mächtig und zugleich lieblich anzuschauen ist und immer neue Früchte und Samen entwickelt. Du hast ein solches Korn von mir empfangen; es wächst in dir und wird Früchte bringen. Gib die Samen davon weiter, mein guter Halef! Dann wirst du Gott wohlgefallen und viele, viele glückliche Menschen machen.«

»O, das weiß ich, Effendi; ich bin ja selbst so sehr glücklich geworden. Weißt du noch, was für Mühe ich mir gegeben habe, dich zum Islam zu bekehren? Ich habe da manch ein Wort gesprochen, welches wie der zweite Kopf eines Kamels war, das doch nur einen haben kann. Du hast dazu gelächelt und bist, wenn ich dann zornig wurde, immer gut und freundlich geblieben. Diese deine Güte hat mich besiegt. Ein einziges warmes Wort von dir hat mehr gewirkt, als alle meine langen Reden wirken konnten. Der Islam ist die Soka (** Distel.), die nur auf dürrem Boden wächst, das Christentum aber die Nachla (*** Palme.), welche hoch in die Lüfte ragt und viele Früchte bringt. Der Islam gleicht der Wüste, in welcher es nur hier und da einen Brunnen gibt, der schlechtes Wasser hat, das Christentum aber einem schönen Lande mit mächtigen Bergen, auf deren Höhen Glocken erklingen, und schönen Tälern, in denen Ströme fließen, welche Wälder und Felder und Gärten nähren und an deren Ufern Städte und Dörfer stehen, deren Bewohner gute und folgsame Kinder ihres himmlischen Vaters sind. Daß ich dieses weiß, habe ich dir zu danken; es sollen es aber auch von mir noch viele, sehr viele erfahren.«

Jetzt gingen wir, die Pferde an den Zügeln führend, nach dem Orte, an welchem wir nach dem Kampfe mit den Persern gelagert hatten. Ich dachte an das »Haus«, welches mich und Halef mit allen möglichen Delikatessen versehen hatte, und dabei war es mir, als ob jener süße, orientalische Duft mich heute wieder umwehe. Welch ein schreckliches Ende hatten diese guten Menschen dann da unten auf dem Wege der Todeskarawane gefunden!

Dann stiegen wir hinauf zur Felsenhöhe. Da standen noch die Reste der Hütte des Sorankurden; er war nicht zu ihr zurückgekehrt, weil er dann Amad el Ghandurs Begleiter gewesen war und die Rache der Bebbeh zu fürchten hatte. Unweit davon erhob sich auf der Felsenplatte das Grabmal des Scheiks. Es war, wie sein Sohn damals zu mir gesagt hatte: »Die Sonne begrüßt den Ort früh, wann sie kommt und abends, wann sie geht.« Es war noch in gutem Zustande, aber an der Westsüdwestseite waren, wie Mamrahsch gesagt hatte, mehrere Steine herausgenommen worden. Amad el Ghandur trat hinzu und blickte hinein. Er fuhr zurück und schrie:

»Maschallah, mein Vater! Sollte seine Seele noch nicht von ihm gewichen sein!«

Als dann ich in die Öffnung sah, konnte ich diesen Ausruf recht wohl begreifen. Da saß der Scheik noch grad so, wie wir ihn hineingesetzt hatten, mit weit über die Brust herabwallendem Barte und gefalteten Händen. Sein Gesicht war tief eingefallen, aber recht wohl zu erkennen. Welchem Umstande oder welchen chemischen Einflüssen diese Erhaltung der Leiche zuzuschreiben war, das weiß ich nicht, aber der Anblick war von einer außerordentlichen, unbeschreiblichen Wirkung; ich mußte noch nach Monaten immer an ihn denken, und noch heute ist es mir, als ob ich die Mumie des edlen Greises noch vor mir in den Steinen sitzen sähe.

Die Haddedihn kamen einer nach dem andern herbei, um die Überreste ihres einstigen tapferen Anführers zu betrachten. Es geschah das wortlos und mit einer Andacht, welche leicht erklärlich war. Als der Letzte von ihnen vom Grabe zurückgetreten war, griff Amad el Ghandur in die Tasche, zog einen kleinen Stein aus derselben und sagte:

»Effendi Kara Ben Nemsi Emir und Hadschi Halef Omar, ihr waret dabei, als mein Vater Mohammed Emin, der Scheik der Haddedihn, in diese Gruft bestattet wurde; ihr habt gesehen, daß ich mit meinem Dolche diesen Stein vom Grabmale schlug und zu mir steckte, und werdet gewußt haben, was dies zu bedeuten hatte. Jetzt bringe ich ihn zurück und gebe ihn dem Toten. Die Mörder sind gefallen; der Tod meines Vaters ist gerächt; ihre Seelen mögen im glühendsten Feuer der Dschehenna brennen; die seinige aber mag wandeln unter den Palmen des siebenten Himmels und von dem Quell des Paradieses trinken in alle Ewigkeit!«

Das war die Thar, die Blutrache: Auge gegen Auge, Zahn gegen Zahn, Blut gegen Blut! Es überlief mich kalt. Was konnte ich jetzt aber sagen? Jedes Wort wäre nicht nur vergeblich gewesen, sondern hätte mir sogar direkt schaden können. Man soll nichts sagen oder tun, von dem man vorher überzeugt ist, daß es vergeblich sein wird; es könnte nur Schaden, nicht aber Nutzen bringen. Diese Gefühle und Gedanken hegte nicht ich allein, denn als Amad el Ghandur nun das Steinstück in das Innere des Grabes fallen ließ, warf Halef mir einen Blick zu, dem ich es ansah, daß der Hadschi gleichen Sinnes und gleicher Meinung mit mir war. Auch er, der früher so ausgesprochene Mohammedaner, der mich zum Islam bekehren wollte, dachte jetzt so wie ich: »Liebet eure Feinde; segnet die, welche euch fluchen, und tut denen wohl, welche euch beleidigen und verfolgen; dann seid ihr gute Kinder eures himmlischen Vaters!«

Da die eigentliche Feier erst morgen am Todestage stattfinden sollte, konnten wir uns heut ausruhen und mußten uns zunächst nach einem passenden Lagerplatz umsehen. Ich wollte von der Höhe herabsteigen, um einen solchen zu suchen, Amad el Ghandur aber sagte:

»Effendi, das ist nicht notwendig. Ich werde nirgends bleiben als hier am Grabe meines Vaters.«

»Warum?«

»So kannst du fragen? – Das siehst du nicht ein? Ich gehöre hierher zu ihm.«

»Nicht jetzt, denke an die Unsicherheit der Gegend und an die Bebbehkurden, welche kommen können.«

»Ich habe nicht an sie, sondern an den Toten zu denken. Ich bin gekommen, ihn zu besuchen, und nun ich bei ihm bin, werde ich nicht eher von ihm gehen, als bis wir diese Gegend verlassen.«

»Das würde die größte Unvorsichtigkeit sein. Wie das Terrain hier beschaffen ist, wären wir, wenn sie kommen, ganz in ihre Hände gegeben.«

»Ja, wenn sie kommen! Und selbst dann wäre es nicht so schlimm, wie du meinst. Wir haben erfahren, in welch geringer Anzahl sie zu kommen pflegen; wir aber sind zwanzig erfahrene und tapfere Krieger. Was hätten wir zu fürchten?«

»Tapfere, ja; aber auch erfahrene? Was nützt die Erfahrung, wenn man nicht nach derselben handelt! Und ist es nicht möglich, daß sie heuer zahlreicher kommen als bisher? Und selbst wenn es ihrer so wenige wären, habe ich gesagt, daß uns das Terrain so ungünstig ist.«

»Es ist uns im Gegenteile günstig. Wir befinden uns hier oben, und sie würden von unten kommen; der Obere aber ist stets der Stärkere.«

»In diesem Falle nicht. Sieh dir doch die Lage dieses Ortes an! Der Fels fällt nach Süd, West und Nord so steil ab, daß man nach diesen Richtungen nicht hinunter kann; wenigstens gehört ein guter Kletterer dazu, in die Tiefe hinabzukommen; mit den Pferden aber ist es geradezu eine Unmöglichkeit . – «

»Wir wollen ja gar nicht da hinab,« fiel er mir in die Rede.

»Laß mich ausreden, so wirst du einsehen, daß die Möglichkeit gar wohl vorhanden ist, daß wir noch einen Fluchtausweg von hier suchen müssen.«

»Fliehen? Vor diesen Hunden? Nie!« rief er aus.

»Nie, nie, nie!« stimmten ihm seine Haddedihn eifrig bei. »Laßt doch meinen Effendi reden!« warnte Halef. »Er ist klüger als wir alle, und ich habe viele, viele Male die Erfahrung gemacht, daß derjenige, welcher nicht auf ihn hört, es später zu bereuen hatte.«