Buddhistische Wirtschaftsethik

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Mittlerer Weg



Die in der abendländischen Tradition gebräuchlichen Dualitäten – ich habe das kurz am Beispiel des Gegensatzes von Markt und Staat diskutiert – haben im Buddhismus nur eine eingeschränkte oder vorläufige Gültigkeit. Der Buddhismus ist eine Denkform des mittleren Weges, der alle Extreme vermeidet. »Mitte« ist hierbei keineswegs so etwas wie Mittelmäßigkeit, die sich ein eindeutiges Urteil nicht auszusprechen wagt. Vielmehr beruht die Grundeinsicht des Buddhismus darauf, dass alle Dualitäten, alle Extreme auf einem Irrtum beruhen. Dualitäten trennen nicht nur Zusammengehöriges, sie isolieren die Extreme und schreiben ihnen ein selbständiges Sein zu. »Mittlerer Weg« ist deshalb kein Weg zwischen extremen Auffassungen, sondern ein praktisch-erkennender Weg, der Extreme vermeidet. Es gibt deshalb im Buddhismus keine der herkömmlichen Trennungen wie die zwischen Subjekt und Objekt, Faktum und Wert, Theorie und Praxis, Sein und Schein, Sinn und Sinnlosigkeit, heilig und profan etc.





Die zwei Wahrheiten



Genauer gesagt: Die Dualitäten des Denkens haben im Buddhismus nur eine relative oder eine konventionelle Bedeutung. Man unterscheidet hier zwischen einer relativen und einer endgültigen oder absoluten Wahrheit. »Relativ« ist jede Aussage, die Dualitäten verwendet und daraus eine »Welt« konstruiert. Was immer erkannt wird, worauf immer sich das Handeln der Menschen richtet, es wird schon etwas anderes vorausgesetzt und unterschieden. Es gibt in dieser relativen Welt der Beziehungen keinen Anfang, keinen letzten Grund. Die Welt des Denkens und der Erfahrung ist ein Kreislauf (samsāra), in dem eines vom anderen abhängig ist. Die absolute Wahrheit besteht in der Erkenntnis, dass es in dieser Welt relativer Abhängigkeiten keinen letzten Grund gibt. »Absolut« wird diese Erkenntnis genannt, weil sie die Bedingtheit der relativen Erkenntnisse durchschaut, ohne darin selbst gefesselt zu sein.

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Apoha-Prinzip



Daraus ergibt sich für das Denken eine wichtige Konsequenz: Man kann keine Sache, keinen Gegenstand endgültig oder positiv definieren. Gewiss lassen sich in einem konventionellen Sinn Begriffe relativ festlegen. Doch handelt es sich hierbei nicht um Definitionen des Wesens von Dingen. Gleichwohl sind Begriffe nicht bloße Namen (»Nominalismus«), denn auch »Name« ist eine solche Wesensdefinition. Es gilt auch hier der mittlere Weg: Begriffe sind weder durch Wesensdefinitionen festzulegen, noch sind Begriffe bloße Namen. Von allen Erscheinungen, von allen Gedanken lässt sich nur sagen, was sie nicht sind. Damit ist ausgedrückt: Alle Phänomene sind voneinander abhängig. Wenn man deshalb sagen will, was etwas seinem Wesen nach ist, dann kann man dies nur negativ tun: Es lässt sich nur sagen, was etwas nicht ist. Ein Hund ist keine Katze, kein Pferd, aber auch kein Stein und kein Einkommensteuertarif. Was aber ein Hund letztlich, wesentlich oder endgültig ist, das lässt sich nicht sagen.



Dieses Prinzip wurde von den buddhistischen Philosophen Dignaga und Dharmakirti eingeführt und heißt »Apoha-Prinzip«. Begriffe erfüllen eine konventionelle Funktion, sind eingebettet in das alltägliche Handeln. Deshalb erfolgen Definitionen, sagt Vashubandhu im Abhidharma-Kosa, »nicht durch Selbstnatur oder Wesensbestimmungen, sondern sind Definitionen durch Funktion«.

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 Alle Definitionen sind offen. Das Apoha-Prinzip beschreibt sowohl die relative Funktion täuschender Begriffe wie das Prinzip der Kreativität des Denkens

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: Wenn es keine endgültigen Definitionen gibt, dann ist die Wirklichkeit dynamisch, und die Begriffe leben und funktionieren mit den menschlichen Handlungen. Die Begriffe stehen weder für ein metaphysisches Sein (Essentialismus), noch sind sie als bloße Namen nichtig und beliebig veränderbar (Nominalismus), weil sie eine konventionelle, soziale Funktion erfüllen.





Leerheit, gegenseitige Abhängigkeit und Karma



Was für die Begriffe und die Erkenntnis zutrifft, gilt für alle Phänomene. Kein Ding ist das, was es ist, aus sich selbst. Jedes Phänomen ist abhängig von anderen Phänomenen. Wenn aber kein Ding aus sich selbst existiert, dann ist es auch nichts für sich selbst. Es hat kein unabhängiges Sein oder Wesen. Im Buddhismus sagt man: Allen Phänomenen (die Philosophen sprechen vom »Seienden«) ist es eigentümlich, nicht aus sich selbst zu existieren; ihnen fehlt die »Selbstnatur« (svabhāva). Oder: Alle Phänomene sind leer an einem isolierten, nur jeweils dem einzelnen Phänomen zukommenden Wesen. Dieses Prinzip heißt »Leerheit« (sūnyatā). Es drückt zwei Gedanken in einem aus: Erstens alle Phänomene sind voneinander abhängig; eben deshalb sind zweitens alle Phänomene leer an einer unabhängigen, getrennten Existenz. Die relative Wahrheit der gegenseitigen Abhängigkeit ist der vorläufige Ausdruck für die endgültige Erkenntnis: Alle Phänomene sind leer.



Die Leerheit ist aber nun nicht ihrerseits ein negatives Prinzip (»das Nichts«). Der Buddha hat ausdrücklich betont, dass damit kein Nihilismus verbunden und er gerade kein Nihilist sei.

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 Leerheit ist kein Nichts.

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 Vielmehr ist damit gesagt, dass alle Phänomene in einer und als eine Offenheit existieren, in der nichts endgültig festgelegt, definiert oder fixiert ist. Die Wirklichkeit ist, abendländisch ausgedrückt, nicht ein Sein, sondern ein offener Prozess. In diesem Prozess gibt es Ursache und Wirkung, gegenseitige Abhängigkeit und Dualität in einem relativen oder konventionellen Sinn. Die Wirklichkeit wird allerdings durch die verblendeten Gedanken der Menschen konstruiert. Und deshalb gilt es, die Konstruktion dieser Gedanken zu durchschauen, denn eine auf Irrtümern beruhende Konstruktion oder Auslegung der Welt muss zu leidhaften Konsequenzen führen. Der Buddhismus leugnet also nicht, dass es eine Wirklichkeit gibt. Im Gegenteil. Alle Wirklichkeit ist ein Wirken, setzt also die relative Beziehung von Ursache und Wirkung voraus. Der Sanskrit-Ausdruck dafür lautet »Karma«.

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 Wenn alle Phänomene voneinander abhängig sind, dann bleibt keine Veränderung ohne Wirkung. Das wird im Buddhismus auch »Karmagesetz« genannt. Da dies aber für alle Phänomene gilt, ist das Ganze aller Phänomene unbestimmt, offen, ein Prozess. Die Leerheit ist dynamisch, jenseits von Subjekt und Objekt, sie zeigt sich aber auch in der verdunkelten Perspektive der Subjekt-Objekt-Dualität als Offenheit natürlicher und historischer Entwicklungsprozesse: als Zufall in der Natur oder als Freiheit und Kreativität der Menschen.

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Die Leerheit hat durchaus eine positive Qualität, denn die gegenseitig abhängigen Phänomene werden – wenn auch vielfach irrtümlich – erkannt. Diese Qualität der Leerheit, die in jedem Menschen angelegt ist, wird auch »Buddhanatur«, »Lichtheit«, oder auch »Achtsamkeit« genannt. Diese Qualität der Leerheit vollständig zu realisieren heißt deshalb auch, ein »Buddha« zu sein oder nirvāna zu erlangen und die absolute Wahrheit zu erkennen. Sie nicht zu erkennen heißt, weiter in die gegenseitig abhängigen Phänomene verstrickt zu bleiben (samsara), heißt, in der relativen Wahrheit verstrickt zu bleiben. Ein illustratives, häufig verwendetes Beispiel in den buddhistischen Lehren ist das Bild von der Schlange und dem Seil

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: Verblendet durch das eigene Ich, sieht man eine Schlange, erschrickt und lebt in Angst. Mit dem Blick der Weisheit erkennt man: Es ist nur eine Täuschung. Es war nur ein Seil, das man irrtümlich als Schlange wahrgenommen hat. Die Leerheit ist also nichts Transzendentes hinter den Phänomenen. Jeder Irrtum ist auch in seiner Qualität eine Erkenntnis und hat damit das Potential zur Erkenntnis der Wahrheit.



Die Leerheit zeigt sich in der gegenseitigen Abhängigkeit für alle Lebewesen – allerdings darin nur negativ. Da nachgerade wir Menschen an einem Ich festhalten, dieses Ich aus höchst vergänglichen Beziehungen immer wieder neu aufbauen, erleben wir uns als abhängig von anderen Phänomenen: vom eigenen Körper, seinen Gefühlen, von äußeren Dingen, anderen Menschen, der Natur usw. Die aus der Perspektive eines Egos falsch aufgefasste Wirklichkeit versucht, in der offenen Weite der Phänomene ein fiktives Zentrum festzuhalten, das nicht festzuhalten ist. Dies nennt man Verblendung im Unterschied zur Erkenntnis dieser Offenheit als positive Qualität (»Erleuchtung«). Und weil wir im Strom der gegenseitig abhängigen Phänomene einen unhaltbaren Punkt festhalten wollen, erleiden wir die Welt. Die verblendete Erfahrung der gegenseitigen Abhängigkeit durch das fiktive Zentrum des Egos – das heißt im Buddhismus: »Die Wahrheit vom Leiden«.





Die Wahrheit des Leidens

Die empirische Tatsache des Leidens



»Ursachen für den Tod gibt es viele,

für das Leben aber nur wenige, und auch diese

können zur Ursache des Todes werden.«

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Die Grunderfahrung im Buddhismus ist das Leiden aller Lebewesen. Das Leiden ist keine metaphysische These, sondern eine Erfahrung, die einzige todsichere Erfahrung. Was auch immer jemand an Glück erfahren haben mag in dieser Welt und in seinem Körper: Dieses Glück muss enden, spätestens mit dem Tod, meistens viel früher durch Alter und Krankheit.

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 Doch auch in den weniger dramatischen Alltagserfahrungen zeigen sich immer wieder vielfältige Enttäuschungen und geplatzte Hoffnungen – nicht zuletzt in den Crashs und Krisen der Wirtschaft. Dem Wunsch nach dem Erleben von Glück durch günstige Umstände in der Welt steht eine schlichte Erfahrung entgegen: Niemand vermag, verkörpert in der Welt und abhängig von ihr lebend, dauerhaft glücklich zu sein und die Voraussetzungen für sein weltliches Glück festzuhalten. Schon eine Verminderung glücklicher Umstände wird vielfach als Leiden erfahren. Das Leiden ist also zunächst einfach eine empirische Tatsache. Im Sinn einer Wirtschaftsethik genügen die in der Einleitung bereits gegebenen Hinweise, die unglücklicherweise beliebig ergänzbar sind (vgl. Der Ausgangspunkt, S.

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 ff.).

 





Die Erklärung des Leidens



Warum gibt es überhaupt Leiden? Zur Beantwortung dieser Frage müssen wir zunächst den Begriff klären. Etwas »erleiden« heißt ganz allgemein: abhängig sein von etwas anderem. Zur bloßen Abhängigkeit kommt die Erfahrung dieser Abhängigkeit hinzu. Menschen und Tiere leiden nicht nur, weil sie faktisch abhängig sind von anderen Dingen, die sie letztlich nicht kontrollieren können (wie die Lebensfunktionen des eigenen Körpers im Sterbeprozess), sie leiden, weil diese Abhängigkeit auch ein Gefühl enthält. Die Abhängigkeit von Nahrung, der Zuneigung anderer, der Umgebung usw. wird körperlich empfunden und gefühlt, selbst bloße Gedanken lösen Gefühle aus. Das Leiden ist deshalb auch die sinnliche, körperliche Erfahrung jenes Grundsatzes der buddhistischen Philosophie, dass alle Phänomene gegenseitig abhängig sind (pratītyasamutpāda). Die Erfahrung des Leidens ermöglicht also unmittelbar einen Zugang zur Erkenntnis gegenseitiger Abhängigkeit, damit letztlich der Leerheit.



Dies war auch der Weg des Buddha. Der Buddha war überwältigt von der Erfahrung des Leidens, das ihm besonders deutlich vor Augen trat, weil sein Vater in seiner Jugend alles tat, diese Erfahrung von ihm fernzuhalten. Je größer der Unterschied, desto deutlicher kann eine Sache erkannt werden. In den tradierten Schriften (Sutras) wird berichtet, dass der Buddha als Sohn eines Königs aufwuchs, der ihn in seinem Palast einsperrte, zugleich aber mit allen nur erdenklichen Sinnesfreuden überhäufte, um jeden Mangel fernzuhalten und alle seine Bedürfnisse zu befriedigen. Als der Buddha eines Tages doch den Palast verließ, weckte das Leiden der gewöhnlichen Menschen in den Dörfern so sehr sein Mitgefühl, dass er sich entschloss, ein Leben als Wanderasket zu führen, um die Ursachen für dieses Leiden zu entdecken.



Nach vielen Entbehrungen und asketischen Übungen fand der Buddha einen mittleren Weg zwischen Askese und einem Leben in Ausschweifung, und er gewann schließlich eine sehr tiefgründige Erkenntnis von der Natur des Leidens. Durch diese Erkenntnis (bodhi) wurde er zu einem »Erkennenden« oder einem »Erwachten« – einem Buddha. Ein Buddhist ist jemand, der diese Erkenntnis des Buddha für sich selbst aus eigener Erfahrung des Leidens nachvollziehen möchte. Buddhist wird man also nicht durch einen Akt des Glaubens oder das Erlernen einer Theorie, sondern durch eine praktizierte Erkenntnis. Dies ist die praktizierte Erkenntnis der gegenseitigen Abhängigkeit, die der mitfühlenden Motivation mit allen Lebewesen entspricht.



Der Buddha hat aber nicht nur die Universalität des Leidens und die gegenseitige Abhängigkeit aller Phänomene entdeckt, er hat vor allem erkannt und erklärt, weshalb diese gegenseitige Abhängigkeit als Leiden erfahren wird. Die Tatsache, von etwas abhängig zu sein, ist offenbar nur ein notwendiger, kein hinreichender Grund für die Erfahrung von Leiden. Wer von der Zuneigung anderer Menschen abhängig ist und diese Zuneigung auch tatsächlich erfährt, der ist vermutlich glücklich. Die gegenseitige Abhängigkeit aller Dinge ist also sowohl für Glück wie für Leid verantwortlich. Weshalb dominiert dann aber letztlich immer (und das todsicher) die Erfahrung des Leidens?



Die Antwort des Buddha ist einfach: Der Grund ist eine Täuschung. Sie beruht auf einem Mangel an Wissen und führt zu einer falschen Wahrnehmung der Welt. Die Menschen existieren nicht zuerst als Menschen und unterliegen dann, wie nebenbei, auch noch so etwas wie einer Täuschung. Vielmehr ist dies, ein Lebewesen zu sein, selbst ein Prozess der Täuschung. Das klingt dunkel, und es ist auch sehr schwer, die volle Tragweite dieser Erkenntnis zu sehen – deshalb gibt es nicht besonders viele Buddhas unter den Menschen. Dennoch ist der Grundgedanke relativ einfach verstehbar.



Ein Mensch zu sein heißt, in einem grundlegenden Nichtwissen (avidyā) gefangen zu sein. Weil dieses Nichtwissen jedoch beim Menschen den Charakter eines Irrtums besitzt, deshalb kann man ihn auch beseitigen. Auch andere Lebewesen unterliegen einem grundlegenden Nichtwissen. Ihnen fehlt aber durch eine schwach entwickelte Vernunft die Möglichkeit, dieses Nichtwissen aus eigener Kraft zu durchschauen. Ein Irrtum ist immerhin schon eine Form vernünftiger Einsicht, allerdings eine verkehrte. Nur wer die Fähigkeit besitzt, etwas erkennen zu können, kann sich auch täuschen. Das Nichtwissen offenbart als Täuschung damit etwas ganz anderes.



Worin besteht diese Täuschung? Sie besteht, negativ ausgedrückt, darin, dass die gegenseitige Abhängigkeit aller Phänomene, dass die Leerheit nicht erkannt wird. Dieses Nichtwissen, die Unwissenheit, ist deshalb nicht etwas Passives, sondern selbst sehr aktiv. »Es kann keinen größeren Fehler geben, als zu denken, dass Unwissenheit irgendetwas Dumpfes oder Blödes sei, dass sie passiv sei oder ein Mangel an Intelligenz. Im Gegenteil. Sie ist gewieft und aalglatt, geschmeidig und genial im Spiel der Täuschung. (…) Unter Einsatz unserer ganzen Intelligenz rechtfertigen wir also unsere falschen Sichtweisen und konstruieren um uns herum ein sorgfältiges geschütztes, undurchdringliches Abwehrsystem.«

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Die Aktivität dieses Nichtwissens hat den Namen »Ego«, den wir auch mit »Ich« übersetzen. Wir Menschen glauben, wir hätten eine individuelle Existenz nur für uns selbst. Weil wir das glauben und weil im Gegenteil die Welt abhängiger Phänomene ein unaufhörlicher Prozess des Wandels ist, deshalb entsteht ein Widerspruch zwischen unserem Glauben an ein dauerhaftes Ego und der Erfahrung des Wandels. Die alltäglichen Erfahrungen widersprechen unserem Glauben. Dennoch behalten wir diesen Glauben bei. Und eben deshalb leiden wir.



Man kann diesen aktiven Irrtum nicht nur beim Menschen beobachten. Auch Tiere haben so etwas wie einen Selbsterhaltungstrieb. Richard Dawkins spricht vom »egoistischen Gen«. Das ist eine terminologische Übertreibung; dennoch liegt darin eine einfache Wahrheit: Es gibt auch in der Natur eine unaufhörliche Tendenz der Selbstbehauptung von Strukturen. Die genetische Reproduktion hat formal tatsächlich eine ähnliche Struktur wie der Ego-Prozess. Der Widerspruch zwischen dem Bestreben, sich zu erhalten, und einer sich wandelnden Umwelt ist der Grund für den Prozess der Evolution des Lebendigen.



Die Verblendung des Nichtwissens hat also sehr tiefe Wurzeln. Der buddhistische Philosoph Vashubandhu spricht vom »angeborenen Ich-Wahn«,

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 wie er mit der Selbsterhaltungstendenz des Körpers geboren wird. Das bewusste Ego als Denkprozess überlagert und kontrolliert diesen Ich-Wahn. Das bedeutet, dass der Ego-Prozess nicht leicht zu durchschauen ist. Die Überwindung des Leidens ist somit keine einfache Aufgabe, die in einem Wochenend-Seminar bewältigt werden könnte. Deshalb sagt der Buddha, auf dem von ihm gelehrten Weg ist »die Praxis eine allmähliche, ist die Betätigung eine allmähliche, ist der Pfad ein allmählicher, und es gibt kein plötzliches Vordringen zur vollen Erkenntnis«.

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 Auch für Fragen der Wirtschaftsethik ist somit Geduld eine wichtige Tugend. »Revolutionäre« Lösungen, gleich welcher Art, verkennen die Struktur der ethischen Aufgabe und sind deshalb auch nahezu immer historisch gescheitert. Es geht hierbei primär um die schrittweise Verwandlung der Wahrnehmung und des Denkens, nachgelagert um die Reform von Institutionen.





Die Psychologie der Selbsttäuschung

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Das Leiden der Menschen, das sie selbst erzeugen, beruht auf einer falschen Wahrnehmung, auf einem Erkenntnisirrtum. Dieser Irrtum drückt sich im Ich-Gedanken aus. Wir gehen davon aus, ein dauerhaftes Ego für uns selbst zu haben oder zu sein. Da wir aber faktisch auf vielfältige Weise von anderen Menschen, Lebewesen und der Umgebung abhängig sind, kann sich dieser Irrtum nur behaupten, wenn man auf die Veränderungen der umgebenden Situation immer wieder neu reagiert. Das Ego ist keine »Substanz«, sondern ein unaufhörlicher Kampf. Die Illusion des Egos – Ausdruck des Nichtwissens – ist aktiv. Die Aktivität des Egos entfaltet sich in zwei grundlegenden Emotionen, in denen es seinen Prozess aufrechterhält: durch Begierde und Aggression.



Weil ein dauerhaftes, bleibendes Ich eine leere Illusion ist, muss sich diese Illusion – wie der Körper – unaufhörlich von etwas Fremdem ernähren. Das entfaltet sich als Begierde. Man ergreift Menschen, Gedanken, Dinge und verwandelt sie in ein Mein: Mein Beruf, mein Haus, meine Kinder, mein Geld, mein Leben. Das, was wir mit »mein« bezeichnen, begrenzt das Territorium des Egos. Dieses Territorium ist aber nichts Dauerhaftes, sondern einem unaufhörlichen Wandel unterworfen, weil alles, was wir ergreifen oder besitzen, durch etwas anderes bedingt ist. Die negative Verteidigung des Ego-Territoriums entfaltet sich als Aggression oder als Hass; in milderen Formen als Gleichgültigkeit, Abneigung oder Ablehnung. Die Illusion des Ichs, die Täuschung des Nichtwissens ist also nicht etwas Statisches, sondern ein Prozess, in dem sich das Ego unaufhörlich in wechselnden Situationen durch Ergreifen oder Ablehnen selbst zu definieren und damit zu erhalten versucht. Das Ich ist etwas, was sich als situativer Prozess reproduziert.



Als Modell für diesen situativen Prozess verwendet man im Buddhismus die fünf Skandhas. Es sind fünf zentrale Aspekte, in denen man diesen Prozess und damit die Dynamik der Ich-Täuschung darstellen kann. In diesem Modell ist eine Situation charakterisiert durch (1) Sinnesgegenstände, wozu auch unser Körper gehört, (2) durch Emotionen und Stimmungen, (3) durch das aktive Wahrnehmen und Unterscheiden verschiedener Aspekte einer Situation, (4) durch die gewohnten, teils unbewussten Bewegungsmuster und (5) durch Denkprozesse.



Diese fünf Skandhas sind Aspekte einer dynamischen Situation. Man kann sie nicht trennen. Um eine Form als Form zu erkennen, muss sie in der Wahrnehmung erscheinen, die sich wiederum auf Erinnerungen, Erfahrungen, Gedanken stützt und von Gefühlen begleitet wird. Auch die gewohnten Bewegungsmuster umfassen alle fünf Skandhas, denn es gibt Bewegungen in vielfältigen Formen. Die fünf Skandhas drücken eigentlich die jeweils besonders aktualisierte Achtsamkeit aus, allerdings nicht in reiner, sondern in einer illusionären, mit Gewohnheiten durchsetzten Dynamik.



Durch die fünf Skandhas lässt sich die Verblendung als Prozess mit exakter Struktur darstellen. Man kann diesen Prozess deshalb erkennen und verändern. Es gibt im Buddhismus nicht eine Seele mit bestimmten festen, angeborenen Eigenschaften. Die Psyche ist ein Prozess. Die fünf Skandhas kann man deshalb auch als fünf Phasen des Ego-Prozesses beschreiben. Ich möchte das kurz an einem Beispiel erläutern:



1. Skandha (sinnliche Erscheinung): Ich begegne jemandem auf der Straße.



2. Skandha (Emotion): Der Anblick löst in mir eine angenehme, freudige Stimmung aus.



3. Skandha (Wahrnehmung, Unterscheidung): Auf der Basis dieser Emotion unterscheide ich diese Person von anderen Menschen, die auf der Straße unterwegs sind; ich erkenne diese Person als meinen Freund Peter.



4. Skandha (Gewohnheitsmuster): Ich gehe auf ihn zu, begrüße und umarme ihn.



5. Skandha (Denkprozesse): Während der Wahrnehmung spreche ich innerlich zu mir selbst (»das ist doch Peter!«) oder es tauchen Bilder der Erinnerung auf.



Derartige Prozesse verlaufen sehr rasch. Vor allem die Denkprozesse spielen hierbei eine zentrale Rolle. Durch einen endlosen inneren Dialog begleiten wir die abwechselnde Dynamik von sinnlicher Wahrnehmung, Gefühl und gewohnter Reaktion. Während wir handeln und denken, üben wir bestimmte Gewohnheitsmuster ein. Die Summe aller eingeübten Gewohnheitsmuster (samskāra) bildet das Karma oder die karmischen Muster. Man gewöhnt sich daran, bestimmte Dinge auf diese oder jene Weise zu interpretieren, wahrzunehmen und darauf gegründet zu handeln. Hinzu kommt der begleitende Denkprozess, der all diese Erfahrungen nach »mein« und »dein« taxiert, Dualitäten wie »gefällt mir«, »gefällt mir nicht« einübt und dies durch vielfältiges inneres »Ich-Sagen« verfestigt.



Dass sich darin ein täuschender Prozess vollzieht, erkennt man schon daran, dass jeder zu sich selbst das Wort »Ich« sagt. Das Ich ist also nichts Besonderes, sondern etwas Massenhaftes und Gewöhnliches. Jeder ist solch ein »Ich«. Jeder handelt aufgrund von Erfahrungen mit Dingen der Umgebung, um sie nach »mein« und »dein« einzuteilen, mit »das mag ich« oder »das mag ich nicht« zu bewerten und ein rein fiktives Territorium des »Mein« aufzubauen. Milliarden Menschen denken in denselben Begriffen, teils in denselben Sätzen – z. B. der Weltsprache Englisch –, haben die gleichen Gefühle und klammern sich an die gleichen Dinge – doch jeder glaubt, er sei darin etwas ganz Besonderes und Einmaliges. Dieser Ich-Glaube kann sich natürlich auch hinter nationalen, ethnischen, religiösen, wirtschaftlichen, politischen oder wissenschaftlichen Identitäten verbergen: »Ich als Deutscher«, »Ich als

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