Hitler trug keine Turnschuhe

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Tief in mir wohnt Seelchen. Sie ist eine Mischung zwischen einem kleinen Mädchen und einem Goldhamster. Nicht größer als 20 Zentimeter. Sie fürchtet sich vor der Erinnerung an das Blut, das sich wie ein breiter, roter Faden an meinem Bein nach unten schlängelte.

BONA und Graf nahmen an, ich dächte immer noch über den Verbleib meiner Zeugnisse nach. Sonst schrie ich immer ganz laut „Stopp!“, wenn Seelchen von Erinnerungen gequält wurde, das konnte ich jetzt aber schlecht machen, weil sie dabei waren. Und Seelchen könnte mich auch gar nicht hören, weil sie so laut summte.

Ich tastete nach Grafs Hand und drückte sie ganz fest, aber die Erinnerung an meinen Babybauch, der mir den Blick auf die Blutspur versperrte, war zu massiv. „Entschuldigt mich!“, sagte ich und ging gemessenen Schrittes ins Schlafzimmer, wo ich mich heulend aufs Bett warf. Es war zu spät.

Here I lie in my hospital bed.

Tell me, sister morphine,

when are you coming round again?

Oh, I don't think I can wait that long.

Oh, you see that I’m not that strong.

The scream of the ambulance

is sounding in my ears.

Tell me, sister morphine,

how long have I been lying here?

What am I doing in this place?

Why does the doctor have no face?

Seelchen versucht, sich schlotternd hinter dem Hamsterrad zu verstecken. Aber ihr dichtes, goldenes Fell und das weiße Kleidchen sind weithin sichtbar.

Well it just goes to show

things are not what they seem.

Please, sister morphine,

turn my nightmares into dreams.

Oh, can't you see I’m fading fast?

And that this shot will be my last?

Sweet cousin cocaine,

lay your cool cool hand on my head.

Ah, come on, sister morphine,

you better make up my bed.

(Marianne Faithfull · Sister Morphine)

Als ich mich wieder beruhigt hatte, puderte ich mir mein Gesicht, fuhr mit den Fingern durch meine Haare und versuchte zu lächeln. Es wirkte so unecht, dass ich es doch lieber bleiben ließ.

Seelchen wischt sich mit dem Zipfel ihres Kleidchens übers Gesicht und sieht mich vorsichtig mit großen Augen an.

„Ist gut, Seelchen. Du hast getan, was du konntest.“

Dankbar lächelt sie mich an.

Als ich wieder auf die Veranda trat, war BONA schon gegangen.

„Kira, du darfst nicht denken, dass mich das alles kaltlässt. Es war auch mein Kind. Vergiss das nicht!“, sagte Graf und klopfte auf seinen Schoß. „Du schaffst das schon morgen. Und wenn nicht, dann erholst du dich eben noch eine Runde in meiner überaus charmanten Gesellschaft und in diesem traumhaften Ambiente!“

„Ich hätte dableiben sollen!“, schluchzte ich und meinte damit sowohl das Krankenhaus als auch diese Villa.

Als BONA am nächsten Nachmittag kam, hatte ich das Bewerbungsgespräch schon hinter mir und war fix und fertig. Ich schrubbte heulend am Auto der Presleys herum.

„Hallo, Kira! Wie ist es gelaufen?“

Ich drehte mich zu ihm um.

„Schön, dass du da bist“, behauptete ich tapfer, und BONA nahm mich in die Arme. Vincent sprang grazil auf die breite Motorhaube und beschnupperte die Schaumblasen. „Hallo, Vincent“, sagte ich und kraulte seinen Nacken, dankbar für jede Verzögerung des anstehenden Berichtes. Ich nahm den Schwamm, tauchte ihn blubbernd in den Eimer und seifte mit fahrigen Bewegungen den Schlitten der Presley ein.

„Ich war in der Drogerie, um mich zu bewerben.“

„Und? Hast du eine Absage bekommen?“

„Mit einer Absage könnte ich prima leben. Aber eine andere Bewerberin hat mich behandelt wie den letzten Dreck. Die hat … die … ich …“ Schluchzend musste ich abbrechen.

„Komm“, sagte er. „Lass mich das machen!“

Er nahm mir den Schwamm ab und seifte das Auto ein.

„Hey, du darfst nicht so scheuern!“

„Die Dreckkruste geht sonst nicht ab.“

„Dann muss es länger einweichen. Oder mehr Spüli nehmen, das geht auch. Wenn der grobe Dreck runter ist, nehmen wir Autopudding und Polierwatte. Wir müssen fertig sein, wenn sie sich meldet.“

„Wer denn?“

„Frau Presley.“

BONA riss die Augen auf. „Die Mutter von Elvis?“

„Ja. Die will immer ausgerechnet dann ihr Auto wiederhaben, wenn ich sowieso schon fix und fertig bin. Die hat einen Riecher für so was.“

„Hm. Und wann kommt sie?“

„Weiß ich nicht. Das hier mache ich vorbeugend. Gleich, als ich nach Hause kam, dachte ich, ich fang am besten an zu putzen.“

„Gute Entscheidung. Hätte ich auch so gemacht.“

Vincent hatte es sich auf dem verdreckten Autodach gemütlich gemacht. Aber da konnte er nicht bleiben.

„Komm, Vincent. Hier wirst du nur nass.“

„Setz ihn ins Auto! Vielleicht macht ihm das Spaß!“

„Gute Idee.“

BONA nahm seine Ratte, öffnete die Tür und ließ sie auf den Beifahrersitz springen.

„So. Und nun erzähl mir, was da los war.“

„Da stand eine Frau hinter dem Tresen und sortierte irgendwelche Zettel. Und ohne hochzugucken sagte sie: ‚Jaha?‘ Ich sagte: ‚Ich hätte gern den Chef gesprochen wegen des Aushangs!‘ ‚Der Chef bin ich!‘, sagte sie herablassend. Ich gleich: ‚Oh, entschuldigen Sie bitte!‘ Ich stellte mich höflich vor und reichte ihr meine Hand. Die hat sie angestarrt, als hätte ich darin ein vollgerotztes Taschentuch und gesagt: ‚Können Sie das hier mal kurz wegschmeißen?‘ Schließlich nahm ich meine Hand zurück. Mein Gruß war nicht erwidert worden. Dann kam die andere Bewerberin hereingerauscht. Sie tat, als wäre ich nicht da, und sagte in einem Ton, als würde Sie Applaus erwarten: ‚Ich komme wegen des Aushangs im Fenster und möchte mich auf die freie Stelle bewerben!‘ Dabei sah sie die Chefin siegesgewiss an. Ich war fassungslos. Die musste doch bemerkt haben, dass ich schon da war, direkt neben ihr und mit der Chefin so etwas wie ein Gespräch führte! Also habe ich gesagt: ‚Würden Sie bitte einen Moment warten? Ich war vor Ihnen hier und bewerbe mich ebenfalls auf die ausgeschriebene Stelle.‘ Wie sie mich daraufhin angeguckt hat – nee! Das war so ein durchdringender Blick, dass ich mich kaum bewegen konnte!“

BONA kniff die Augen zusammen.

„So einen Blick habe ich noch nie gesehen!“, fuhr ich fort, und BONA musste sich setzten.

„Wie sah sie aus?“, fragte er leise.

Ich wunderte mich über diese Frage, denn eigentlich ging es ja gerade um etwas anderes. Ich sah ihn an. Seine Hände zitterten. Er hielt den Schwamm so fest umklammert, als würde er ihn erwürgen.

„Aussehen tat sie gut. Groß, schlank, schulterlange rotblonde Haare, an beiden Seiten mit Kämmchen zurückgesteckt. Der Mund knallrot angemalt, das Kinn etwas zu spitz für meine Begriffe, aber die Augen – die waren das Grauen! So kalt und brutal! Und ihr Auto war vielleicht übertrieben: ein weißer Golf Cabrio mit roten Ledersitzen!“

BONA schnappte hörbar nach Luft.

„Oh, Kira, das tut mir leid!“

„Ach, mein Lieber, das muss dir nicht leid tun. Viel eher das, was sie zu mir gesagt hat!“

Ich wand mich bei der Erinnerung.

„Sie hat den Kopf zur Chefin gedreht, ohne dabei diese Augen von mir zu nehmen, und fragte frostig: ‚Upsi? Auf dem Schild stand doch ausdrücklich freundlich und zuverlässig? Auf die Bekloppte von der Müllhalde trifft das ja wohl überhaupt nicht zu.‘ Dann lachte sie hell auf.“

„Du Ärmste“, flüsterte BONA.

„Im ersten Moment war ich wie gelähmt, aber dann bin ich aus dem Laden gerannt, an ihrem überkandidelten Auto vorbei, und dachte mir: ‚Jetzt fehlt nur noch die Presley.‘“

BONAs Arme hingen schlapp herunter, und der Schwamm fiel ihm aus den Händen, als wäre er schwer wie Blei. Er war blass und hatte eine Gänsehaut.

„Geht’s dir nicht gut?“, fragte ich.

„Nee. Doch, alles klar.“

„Wirklich?“

Er holte tief Luft. „Das war meine Mutter ...“

Als ich das hörte, glaubte ich, die Erde würde beben.

„Das war hundertpro meine Mutter. So hat sie mich ständig behandelt. Tag für Tag. Und als sie mich zum Schluss auch noch verprügelt hat, bis ich blutete, bin ich abgehauen. Ich konnte es nicht mehr ertragen.“

„Oh, nein! Mein armer, armer Junge.“

Ich war erschüttert und musste diese Information erst mal verarbeiten. BONA starrte auf die Grashalme, als versuchte er, sie mit Telekinese zu krümmen. Aber es klappte nicht. Nur Vincent war gut drauf. Er versuchte, auf dem Lenkrad zu balancieren. Ich sah, wie er vom Fahrersitz aus daran hochkletterte, um dort langsam ein Stück zu balancieren, bis er beim Abstieg den Halt verlor und nach unten plumpste. Das schien ihm Spaß zu machen und seinen Ehrgeiz zu wecken, denn kurz danach, tauchte er wieder auf und begann von vorn.

„Komm!“, sagte BONA. „Lass uns weitermachen.“

Er schraubte die Dose mit dem Autopudding auf und fing an, die Paste auf dem Lack zu verreiben.

„Pass auf, da kann die Dicke sich richtig drin spiegeln!“

„Und wenn nicht, soll sie mal schön die Klappe halten! Ich bin grad in der richtigen Stimmung, dass die mir dumm kommt! Elvis hat gar keine Ahnung, dass die Dicke sich nicht für fünf Pfennig über das Auto gefreut hat, dabei hatte er sich das so lieb überlegt! Aber nein, sie wollte lieber kurze Röcke …“

 

Gemeinsam verteilten wir die Paste auf dem Lack. Ich war immer noch wütend.

„Ich finde es unglaublich, wie manche Mütter ihre Kinder behandeln!“, schimpfte ich. „Ich kapier nicht, was in den Köpfen von manchen Frauen vor sich geht. Meine Mutter? Mit einem Ami abgehauen, als ich sechs war! Deine Mutter? Einfach ekelhaft! Die von Elvis? Total lieblos! Und dann gibt es Frauen, die würden mit Kusshand alles für ihr Kind tun – und kriegen keins.“

Ich ließ meiner Wut beim Polieren freien Lauf.

„Kira, pass auf! Du zerkratzt den Lack!“

„Ist mir doch schnurzegal!“

Als wir fertig waren, sah das Auto ganz gut aus, nur der Lack war an manchen Stellen immer noch stumpf.

„So. Nun kommt der Innenraum dran“, sagte BONA.

„Was? Nein!“

„Das gehört dazu, Kira. Und wir wissen ja nicht, was Vincent da hinterlassen hat.“

Das hatte gerade noch gefehlt, dass wir uns nun auch noch darum kümmerten.

„Soll die Dicke das Ding doch aussaugen! Nee, mein Lieber. Genug ist genug.“

BONA öffnete die Beifahrertür.

„Der Innenraum bleibt, wie er ist. Scheiß auf Rattenköttel!“

„Ich hol doch nur Vincent raus!“

„Ach so.“

Es wurde Zeit, diesem Tag wieder ein wenig Glanz einzuhauchen. „Ich radele jetzt in die Stadt und hole uns was fürs Abendbrot!“, sagte ich. „Ein paar Käsesorten, Wein, Baguette und einen Salat. Graf kommt nachher. Hast du nicht Lust, mit uns zu essen? Du kannst einen Fisch für uns angeln.“

„Ja, gern! Aber ich mach ihn nicht tot!“

„Musst du auch nicht. Das mache ich.“

Unterwegs dachte ich über meinen Versuch nach, mein Leben selbst in die Hand zu nehmen. Er war gründlich gescheitert. Aber das anstehende Abendbrot zu dritt eröffnete mir eine neue Perspektive: Ich könnte ja auch bei Graf bleiben und mit BONA und ihm eine Art Familie zusammenbauen! Das hätte eventuell sogar noch den Vorteil, dass auch Graf sich eine Beschäftigung suchen würde. Seit die Villa ihm gehörte, hatte er nur herumgehangen.

Als ich vom Einkaufen zurückkam, saßen Graf, Titus und BONA auf dem Steg und unterhielten sich angeregt. Es sah sehr einträchtig aus. Vincent trippelte aufgeregt um sie herum. Titus blieb nicht zum Essen. Er sagte, er hatte nur kurz gucken wollen, ob alles in Ordung wäre.

Ich fragte, ob sie einen Fisch gefangen hätten.

„Nö. Wir haben die ganze Zeit gequatscht“, sagte BONA und Graf legte seinen Arm um ihn. Ich wusste zwar nicht, was geschehen war, aber irgendwie schien er ihn nun zu mögen. Demnach war meine Kleinfamilienvision nicht zum Scheitern verurteilt. Nach dem Essen saßen wir noch stundenlang zusammen auf der Veranda, und ich war glücklich. Ich schlüpfte in dieses Familiengefühl hinein wie in eine warme, weiche Jogginghose und fühlte mich geborgen.

Einmal wissen, dieses bleibt für immer.

Ist nicht Rausch, der schon die Nacht verklagt.

Ist nicht Farbenschmelz noch Kerzenschimmer,

von dem Grau des Morgens längst verjagt.

Einmal fassen, tief im Blute fühlen:

Dies ist meins und ist es nur durch dich.

Nicht die Stirne mehr am Fenster kühlen,

woran ein Nebel schwer vorüberstrich.

Einmal wirklich fassen und nie wieder

alles geben müssen, was man hält.

Klagt ein Vogel: Ach, auch mein Gefieder

nässt der Regen, flieg ich durch die Welt?

(City · Am Fenster)

Dann starb Romy Schneider, und ich guckte das ganze Wochenende über die Wiederholungen der Sissy-Filme und Schnulzen aller Art in der Glotze. Graf hatte sich einen neuen Walkman gekauft, und BONA bekam seinen alten geschenkt. Er freute sich riesig.

„Boah! Ein echter Walkman! Super! Und dann noch von Sony! Danke!“

Und weil er keine Kassetten hatte, hockten sie wie Vater und Sohn das ganze Wochenende vor dem Plattenspieler und nahmen alles von Grafs LPs auf, was BONA gefiel.

Die zweite Kassette schnitten sie im Radio mit. BONA fluchte jedes Mal, wenn der Moderator wieder anfing zu reden, obwohl das Lied noch nicht fertig war. „Das machen die doch absichtlich!“, schimpfte er.

„Du sollst dir ja schließlich die Platte kaufen!“, sagte Graf.

Die ganze Zeit saß ich vor dem Fernseher und heulte bei jedem Film mehrmals. Graf wollte früher immer wissen, warum ich denn Filme gucke, wenn ich davon heulen muss. Ich versuchte zu erklären, dass das nun mal bei richtig schönen Filmen dazugehört. Er fand das unverständlich. Aber Vincent war süß, als ich vor der Glotze saß: Er kam immer angeschmust. Ich dachte: Entweder hat er weibliche Gene und will mit mir Schnulzen gucken oder er ist ein Gentleman und will mich trösten.

Mein Familiengefühl ging aber schon am fünften Tag zu Ende, denn Ben fuhr mich am Wochenanfang immer zum Einkaufen. Ich wäre kaum in der Lage gewesen, den Einkauf für die ganze Woche allein hier herzuschleppen und er hatte mit Graf ein Arrangement, und nun war es wieder so weit. BONA fing Vincent ein und ging mit Ben nach draußen, während ich noch Pfandflaschen zusammensuchte und das Haushaltsgeld holte. Als ich aus dem Haus kam, standen BONA und Ben draußen und warteten. BONA hatte seine Jacke so komisch zusammengeknüddelt und unter den Arm geklemmt, als ob er darunter etwas versteckt hätte. Dabei lächelte er verzückt, und Ben konnte mir nicht in die Augen sehen.

„BONA, ziehst du die Jacke bitte wieder an? Es ist viel zu kalt heute“, sagte ich ganz mütterlich.

„Nein. Mir ist nicht kalt.“ Aber er hatte eine Gänsehaut.

Wir gingen zusammen den Weg zum Portal nach oben. BONA und Ben gingen vorweg. Und ich konnte hinten in dieser geknüddelten Jacke einen Flaschenboden sehen.

BONA verschwand eilig, und ich stieg zu Ben ins Taxi. Das Familiengefühl war geplatzt wie die Kaugummiblase meiner Mutter vor fast zwanzig Jahren.

Seelchen schreckt bei diesem Vergleich auf, lugt zaghaft um die Ecke und schleicht mit nackten, kalten Füßen in Richtung des Hamsterrades.

Ich war damals zu früh vom Spielplatz gekommen und trat unbefangen in die Küche. Warum guckte meine Mutter mich so ertappt an und streifte den Rock nach unten? Hatte ich sie dabei erwischt, wie sie in die Küche pinkelte?

Seelchen bleibt kurz stehen und dreht sich um.

Der Küchenfußboden war aber sauber und trocken. Also musste es etwas mit ihrem Besuch zu tun haben. Ein großer Mann grinste mich an und gab mir eine Packung Kaugummi. Meine Mutter wusste nicht, was sie machen sollte. Sie schien zwischen den Wünschen, mir eine zu scheuern oder etwas zu sagen, hin und her gerissen zu sein.

Mit leisem Patschen, setzt sich Seelchen wieder in Bewegung. Ihre nackten Füße wirbeln Staub auf.

Ich wollte mich nicht daran erinnern, wie … und dachte, so laut ich konnte: STOPP!

Seelchen dreht sich um.

NICHT DU! RENN!

Und sie läuft wimmernd zum Hamsterrad,

… wie der Mann mit der Amerikaflagge an seiner Uniform den Koffer meiner Mutter nahm und sagte: „Come on!“

Mit einem Satz springt Seelchen ins Rad, das sich zitternd in Bewegung setzt,

… während meine Mutter die Arme ausbreitete, so als wollte sie mich tatsächlich einmal in die Arme nehmen. Das hatte sie jedoch in den ganzen sechs Jahren meines Lebens noch nie gemacht. Also ließ sie ihre Arme wieder sinken, und gleichzeitig sank meine Hoffnung, es könnte diesmal anders sein. Stattdessen …

SCHNELLER, Seelchen!

… streckte meine Mutter ihre rechte Hand zu mir aus. Aber nicht seitlich und mit dem Daumen nach unten, sodass ich eingeladen wäre, mit ihr zu kommen, sondern nach vorn und mit dem Daumen nach oben, als wären wir uns fremd. Ich sah auf diese Hand, diese förmliche Geste, und mein Herz tat so weh, als würde es zerreißen.

Seelchen spürt das ganz deutlich und legt keuchend noch einen Zahn zu.

Ihrer sechsjährigen Tochter die Hand zu geben, kam meiner Mutter dann aber selbst blöd vor, und sie ließ ihre Hand wieder sinken. Dann kam die Zungenspitze heraus und drückte die pinkfarbene Kaugummimasse zwischen ihre rot angemalten Lippen. Ich sah staunend zu, wie eine Blase wuchs und wuchs. ‚Das macht sie ganz allein für mich!‘, dachte ich stolz. Aber dann zeigte sie auf diese perfekte Kaugummiblase und ließ sie im gleichen Moment demonstrativ platzen.

„Come on!“, wiederholte der Ami und lachte.

Die Zunge meiner Mutter räumte geschwind die Fetzen der geplatzten Blase ein, und ihre roten Lippen schlossen sich. Dann folgte sie dem Ami nach draußen.

Das war der ganze Abschied für ihr einziges Kind.

Als mein Vater abends nach Hause kam, hatte ich den ganzen Tag geübt, solche tollen Blasen zu machen und sie in dem Moment platzen zu lassen, wenn ich darauf zeigte.

Ich sagte zu ihm: „Mama ist weg. Mit einem Mann und einem Koffer.“

In diesem Moment sah er unendlich alt aus.

Um ihn zu trösten, ergänzte ich: „Aber sie hat nicht in die Küche gepinkelt!“

Um den traurigen Mund meines Vaters huschte ein Lächeln, und er sagte: „Na, das ist doch ein Trost, mein Engelchen. Soll das Miststück doch diesem Ami in die Küche pinkeln, oder?“

Dann tat er das, was für ihn selbstverständlich war, was meine Mutter aber nie geschafft hatte: Er nahm mich in den Arm und wiegte mich sacht hin und her.

Wie Seelchen im ausschwingenden Hamsterrad.

„Alles klar, Kira?“, fragte Ben und legte seine Hand auf meinen Oberschenkel. Ich nickte, sah aus dem Beifahrerfenster und biss die Zähne zusammen.

„Hey!“, sagte er leise und fing an, mit der Hand mein Bein so zu streicheln, dass er hinterher sagen könnte, er hätte mich nur tröstend getätschelt. Ich fixierte den „Stoppt Strauß!“-Aufkleber auf seinem Armaturenbrett. „Gegen Reaktion, Faschismus und Krieg“ stand da. Ich zählte die Buchstaben. So viele waren es nicht, also zählte ich gleich noch mal. Seine Hand lag glühend heiß und bleischwer auf meinem Bein. Ich ignorierte sie, bis er sie seufzend wegnahm und losfuhr.

Abends kamen die Philosophen, weil Graf eine außerordentliche Sitzung einberufen hatte. Sie sagten ausdrücklich, das ich diesmal dabei sein könnte, wenn ich wollte. Ich wollte aber nicht.

„Ich will mir Strähnchen machen. Wenn ich hinterher noch Lust habe, komme ich zu euch.“

Damit hatte ich meine Ruhe. Während ich mithilfe verschieden ausgerichteter Spiegel einzelne Haarsträhnen aufteilte, mit Alufolie isolierte und die Paste auftrug, fiel mir auf, dass ich gar nicht gefragt hatte, warum sie sich überhaupt trafen. Aus der Satzung des philosophischen Sechserpacks ging hervor, dass außerordentliche Sitzungen niemals aus Spaß einberufen werden dürften, man ruft ja auch nicht die Feuerwehr, wenn gar nichts passiert ist. Und wenn so eine außerordentliche Sitzung einberufen worden ist, hatte man als Mitglied unverzüglich zu erscheinen. Auch hier verhielt es sich so wie bei der Feuerwehr: Wenn man sie rief, wollte man ja auch nicht, dass sie erst in zwei oder drei Tagen mal vorbeischaute.

Die Philosophen saßen vollzählig im Wohnzimmer und bekakelten etwas, was bei mir im Schlafzimmer nur als Gemurmel ankam.

Ich legte mich, als meine Strähnchen fertig waren, aufs Bett und las, bis ich einschlief.

Ein ohrenbetäubender Knall weckte mich.

Ich horchte nach weiteren Geräuschen.

Das Gemurmel der Philosophen, das in mein Schlafzimmer drang, fand ich in diesem Moment richtig tröstlich, denn wenn die weiterredeten, konnte es nichts Schlimmes gewesen sein, was da geknallt hatte. Wie ich so im Bett lag und lauschte, fiel mir auf, dass das Murmeln nicht mehr so war wie sonst immer oder vorhin, sondern eher so, als würden sie laut flüstern. Ich lauschte.

 

„Komm, mein Junge …“, glaubte ich Graf sagen zu hören. Das alarmierte mich. Ich zog mir was über und ging barfuß zum Wohnzimmer.

Ich stand gerade in der Tür, als Graf flüsternd befahl: „Nun steht doch nicht so rum. Schmeißt mir mal irgendjemand ‘ne Decke rüber?“

„Ich vielleicht?“, fragte ich, und alle fuhren herum.

Ben, Carlos, Schröder und Schorschi ließen sich nebeneinander auf das Sofa plumpsen und versperrten mir die Sicht.

Graf sah mich an.

„Tolle Strähnchen!“, sagte er und grinste.

„Danke.“

Alle schwiegen betroffen und lächelten verlegen.

Titus stand vor dem Kamin und ergriff das Wort.

„Ich fasse noch einmal zusammen: Um einen Marschflugkörper zu bauen, brauchen wir genau drei Eimer. Keinen mehr! Aber auch keinen weniger. Und – ich bitte euch, nun alle aufzupassen, denn das ist wirklich wichtig! – alle müssen oben kreisrund sein und sich nach unten hin verjüngen. So wie dieser hier!“

Er hielt einen Eimer hoch, damit wir ihn alle sehen konnten. Er drehte ihn mit der einen Hand vor unseren Augen hin und her und wies mit der anderen auf die perfekte Rundung und die ideale Verjüngung nach unten hin. Dann stellte er ihn zur Seite, nahm einen anderen Eimer, hielt ihn hoch und rief drohend: „Nicht so wie dieser!“

Es war ein leerer Farbeimer von 1000 Töpfe.

„Außerdem müssen alle Eimer eine vernünftige Größe haben. Also keine kleinen Kinderbuddeleimer oder so. Das geht nicht.“

Alle gaben sich begeistert, rutschten nervös auf dem Sofa herum und taten so, als wären sie ausgesprochen interessiert. Sie wollten wissen, welche Farbe die haben müssten und ob man den Henkel abmachen muss. Und überhaupt: Plastik oder Metall? Oder kann man das mischen? Kann man das hinterher noch anmalen oder ist das irgendwie unprofessionell?

„Ihr verarscht mich doch alle!“, rief ich wütend und sah die Männer der Reihe nach an. Alle wehrten sich gegen diese Unterstellung.

„Nein!“

„Wir?“

„Wir nicht, Kira. Niemals!“

„Genau, NIEMALS! So wahr wir hier sitzen!“

Ich sah Graf an.

„Hier ist alles in Ordnung. Wirklich, Kira.“

Ein Moment der Stille trat ein. Alle sahen mich an und warteten darauf, dass ich mich wieder zurückzog.

„Oouh-hä!“, hörte ich plötzlich aus der Richtung des Sofas.

Ergänzt wurde das von so etwas wie: „MÄNNER? Nu gibs hiä richich Schtress.“

Ich stürzte zum Sofa und entdeckte BONA.

„Was habt ihr gemacht?“, schrie ich.

„Der war schon so, als er hier ankam.“

Ich half BONA, sich aufzurichten.

„Kira …“

„Ja, mein Junge, ich weiß …“

„Kira, weiß-u …“

„Ja, ich weiß. Komm, wir gehen nach nebenan, und da mach ich dir ein Bett, wo du dich erholen kannst.“

„Nee, ich …“

BONA sah uns verschwommen an.

„Ich m-muss kotzen!“

Das tat er auch, und ich kochte vor Wut.

„Kira, es tut mir so schrecklich leid, wirklich!“, jammerte BONA am nächsten Morgen.

„Ist schon in Ordnung. Das passiert eben irgendwann mal, und dann ist es auch wieder vorbei.“

„Ich trinke nie wieder Alkohol!“

„Das freut mich! Und nun schlaf noch ein wenig!“

Er legte sich wieder hin. Ich ging in die Küche, wo alle bis auf Graf und Titus saßen, und fragte Ben, was das denn für eine Flasche gewesen wäre, die er BONA geschenkt hätte.

„Ich?“, fragte er entrüstet. „Wie kommst du denn darauf?“

Carlos und Schröder hakten gleich nach. Allerdings bei mir! Sie wollten wissen, wie ich denn auf diese absurde Idee käme. Als ob IRGENDeiner von IHNEN – also, nee, NIEmals – echt nicht! – und dann noch BONA, einem JUGENDLICHEN – muss man sich mal reintun, diese Unterstellung! Und warum ich denn nicht einfach davon ausgehe, dass er das Zeug von einem Kumpel hatte?

Sie saßen mir in meiner eigenen Küche wie eine geschlossene Front gegenüber. Sie hielten zusammen wie Pech und Schwefel. Selbst Schröder, der Punker, der sowieso immer alles scheiße fand, war jetzt loyal.

Als Graf hinzukam, fragte er fröhlich: „Na, Schnuckel? Alles locker?“

„Ja“, sagte ich resigniert.

Graf ließ sich auf einen Küchenstuhl plumpsen, bekam von Carlos einen Kaffee rübergeschoben und sagte, nachdem er einen Schluck getrunken hatte: „Weißt du, Kira, Ben hat mich gestern angesprochen.“

Ben lehnte sich zufrieden zurück.

„Wieso?“, fragte ich.

„Du warst frech zu ihm im Taxi.“

„Das stimmt nicht! Er hat an meinem Bein herumgefummelt, und ich war so frei, das zu ignorieren!“

Ben hob die Hände und lachte: „Ich hab dich doch nur getröstet! Mehr war das nicht.“

„Siehst du, Kira? Ben war nur nett! Und es ist auch sehr nett, dass er dich fährt, das muss er nämlich nicht machen. Und nun will ich nichts mehr davon hören.“

Damit war das Thema beendet.

Und ich war sprachlos.

Als alle gegangen waren, blieb ich mit Vincent und dem schlafenden BONA zurück. Vincent sah mich fragend an.

„Wenn du so guckst, dann siehst du aus wie Seelchen.“

Er fing an, sich zu putzen.

„Das Fell von Seelchen ist aber anders. Es ist das eines Goldhamsters. Besonders am Rücken ist es dicht und hält eine Menge ab. Und die Haare am Kopf sind hellblond“, erzählte ich. „Damit sie gut gucken kann, wenn sie davonläuft, habe ich ihr oben einen kleinen Zopf in den Pony geflochten. Und sie trägt aus Gründen der Schicklichkeit ein weißes Kleidchen.“

Vincent streckte sich und gähnte.

„Ach, Vincent, ich weiß nicht, was ich machen soll. An sich muss ich hier weg. Aber ich will euch beide hier nicht alleinlassen. Nur, wo soll ich hin? Und wovon sollen wir leben? – Ich habe echt keinen blassen Schimmer …“

Juni bis August 1982

Drei Tore, drei Raketen und ein Kommissar

Wenn die Bewerbung Plan A war, dann war Heimarbeit mein Plan B. Hierbei sollte ich hoch motiviert 40.000 Lostüten packen, wobei ich in jedes Pergamenttütchen drei Nieten und einen Gewinn stecken sollte. Dann oben anlecken und zukleben. Was so simpel schien, war ätzend! Ich brauchte das ganze Wochenende dazu, und die Menge der leeren Tütchen schien nicht weniger zu werden. Außerdem unterliefen mir immer wieder Fehler. Mal entdeckte ich ein Tütchen mit fünf Losen darin, mal packte ich aus Versehen drei Gewinne und eine Niete hinein – aber wer sollte das denn kontrollieren? Ich erinnerte mich frustriert an meine eigenen fruchtlosen Versuche, irgendwo mal irgendwas zu gewinnen. „Wieso sollten es diese Leute jetzt auf einmal so leicht gemacht bekommen? Mir hatte auch niemand geholfen! Jede Tüte ein Gewinn! So ein Schwachsinn!“ Also kippte ich alle Lose zusammen und ließ das Schicksal über die Gewinnverteilung entscheiden. Als ich am Sonntag Abend endlich fertig war, hatte ich dicke backsige Kleberklumpen im Mund.

„Wieso hast du die denn alle angeleckt?“, fragte Graf.

„So hat es der Typ von der Heimarbeit vorgemacht.“

„Der meinte nur ‚anfeuchten‘. Nächstes Mal nimmst du besser einen kleinen Schwamm.“

Aber es gab kein nächstes Mal, denn für diese stumpfsinnige Arbeit bekam ich nur vierzig Mark. Ich müsste also jeden Monat zehn solche Prozeduren durchstehen, um das Geld für die Miete zusammenzukriegen. Ohne mich! Ich arrangierte mich vorläufig wieder mit meiner Situation und wollte in aller Ruhe einen Plan C entwickeln.

Als Nächstes stand das WM-Endspiel BRD gegen Italien an. Das philosophische Sechserpack tat zwar immer so, als würden sie sich nicht für die WM ’82 interessieren, aber sie wollten sich auch nicht entgehen lassen, wie Jupp Derwall die Italiener plattmachte. BONA hatte den Fernseher mit einem endlosen Verlängerungskabel unten am Steg auf einem Klapptisch aufgestellt. Mit der Antenne war ein passables Bild zustande gekommen. Chips, Käsewürfel und Zaziki standen in Griffweite, während BONA, Vincent und ich auf der Decke lagen und warteten.

„Nun führt Vincent ein Kunststück vor!“, sagte ich und nahm einen Käsewürfel, den ich aber in meinen Händen versteckt hielt.

„Ob die Kira wohl was Feines hat?“, fragte ich.

Vincent ging zu mir und schnupperte aufgeregt.

„Fein Platz machen, Vincent!“, sagte ich, und er setzte sich tatsächlich auf sein Hinterteil und legte den Schwanz ordentlich um sich herum.

Dann hob ich den Käsewürfel hoch. Sofort stellte sich Vincent auf seine Hinterbeine und lief sogar ein paar Schritte auf zwei Beinen. Dafür bekam er seinen Käsewürfel, während BONA und ich wie wild applaudierten. Die ersten Philosophen, die eintrafen, waren Titus und Schröder. Titus begrüßte uns herzlich, während Schröder sich einfach auf die Decke fallen ließ. Er nickte kurz in meine Richtung und sagte: „Tach!“