Hitler trug keine Turnschuhe

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„Und seitdem steht das Auto hier?“

„Ja.“

„Eine merkwürdige Geschichte ist das“, sagte BONA.

„Merkwürdig?“, fragte ich. „Nein, mein lieber BONA, nicht merkwürdig. Das war unhöflich! Erst hier ankommen, weißt du, und dann sofort zack und Tschüs. Nur ohne Tschüs. Das passte nicht zu Addi. Zu ihr schon, aber nicht zu ihm.“

„Hm. Vielleicht ist denen irgendwas passiert?“

„Denen? Nee! Das hätte ich mitgekriegt. So riesig ist Grothenhever nun auch wieder nicht.“

BONA sah mich an, wie ich ihm gegenüber vor dem Autowrack hockte.

„Sag mal, Kira, wie alt bist du eigentlich?“

„Hallo? Was soll das denn auf einmal? Frage ich dich so etwas eigentlich auch?“

„Kira, ich will dich nicht ärgern, aber wir haben 1982. Du müsstest jetzt locker über sechzig sein, damit diese Geschichte irgendwie hinhaut.“

„Wie bitte? Sehe ich vielleicht aus wie sechzig?“

BONA wusste nicht, was er sagen sollte.

„Ihr jungen Leute werdet ja wohl immer unverschämter! Ich bin sechsundzwanzig!“ Dann schüttelte ich den Kopf und sagte: „Wenn ich mich nicht irre, haben wir noch jede Menge zu tun mit der …“

„… Unkrrrautverrrnichtung?“

Wir arbeiteten weiter, Vincent sonnte sich, und ich dachte, dass BONA durchaus das Kind sein könnte, das ich nicht gekriegt hatte. Ein Junge wie er – ganz allein und in einem Alter, wo er jede Form von Unterstützung brauchte, um nicht wie ich in der nächsten Untiefe hängen zu bleiben …

In mir reifte der Traum, dass ich ein neues Leben anfangen müsste: mit BONA als meinem eigenen Kind, mit eigenem Geld und möglichst weit weg von diesem verkohlten Ding hier.

April 1982

Lästige Fliegen und BONAs Integration

BONA glaubte, es wäre ein Witz, als ich sagte, am Wochenende käme das philosophische Sechserpack, um am See ein Seminar abzuhalten.

„Nein, nein!“, sagte ich. „Das ist kein Witz. Das ist die verschworene Gemeinschaft von Graf.“ Noch während ich das sagte, beschlich mich das dumpfe Gefühl, BONA könnte mitmachen wollen.

„Und was läuft da so?“, fragte er auch sofort.

„Keine Ahnung. Es dürfen nur ordentliche Mitglieder an diesen Treffen teilnehmen. Ich sorge lediglich für das leibliche Wohl der Philosophen, ansonsten habe ich meine Ruhe. Wenn Graf die Worte ,Liebe Breunde und Früder …‘ spricht, ist das gleichbedeutend mit ‚Tschüs, Kira!‘. Aber das macht nichts.“

„Und nehmen die noch mehr Leute auf?“

Um Himmels willen! Wenn BONA so jung – ich schätzte ihn auf vierzehn – ein Philosoph werden würde, könnte ich nicht mit ihm irgendwo einen Neuanfang wagen, und es würde schwierig werden, für uns als Doppelpack die Kurve zu kriegen. Und um jedes Bestreben, zu dem Sechserpack gehören zu wollen, schon im Keim zu ersticken, sagte ich beiläufig: „Nee. Die sind ja auch schon sechs. Siebenerpacks gibt es nicht. Ist aber auch egal, denn bei König Arthur war die Tafelrunde ja schließlich auch irgendwann voll.“

Die Erwähnung von König Arthurs Tafelrunde war ein glattes Eigentor, denn durch die Gleichsetzung der Philosophen mit den Gralsrittern wurde das alles erst recht spannend. Er blickte in weite Ferne. Und er ahnte wohl auch, dass ich seine Gedanken nicht gut finden würde, denn als ich ihn fragte: „Woran denkst du?“, sagte er nur schnell: „Äh, Kira, nichts! Aber hast du vielleicht eine Badehose?“

„Ich? Nein. Wieso?“

„Ich habe Lust, schwimmen zu gehen.“

Er wollte einem weiteren Gespräch ausweichen, um sich seine aufkeimenden Ambitionen nicht von mir kaputt machen zu lassen.

„Schwimm einfach nackt. Das machen alle hier. Und pass auf, der Steg ist baufällig. Er muss demnächst mal repariert werden.“

„Das mach ich.“

„Nein. Das lass mal lieber die Philosophen machen.“

„Ich meinte, dass ich aufpasse.“

„Ach so.“

Ich räumte auf. Es gab in diesem Jahr so viele Fliegen in der Küche, und irgendwo mussten die ja herkommen. Also räumte ich die Schränke aus und inspizierte alle Lebensmittel. Was schon offen war, kam in verschließbare Vorratsdosen. Rundherum konnte es von mir aus gern ein wenig kuddelmuddelig zugehen, aber die Küche musste ordentlich sein. Ich suchte gründlich, fand aber die Brutstelle der Fliegen nicht. Also stellte ich alles wieder ordentlich in die Schränke. Als ich den Müll hinausbrachte, traten Titus und BONA auf die Veranda. Titus war von den ganzen Philosophen der, den ich am meisten mochte und der auch am meisten auf dem Kasten hatte.

„Hallo, Kira, mein zartes Täubchen!“, sagte Titus.

„Ach, Titus, du Charmeur. Wie ich sehe, habt ihr euch schon miteinander bekannt gemacht?“

„Haben wir. BONA wird mein Assi.“

„Mensch, ihr seid zwei fixe Burschen.“

Titus stellte seinen Malkoffer und sein Bild ab.

Ich legte den Kopf schief und besah es mir.

„Und? Gefällt es dir?“

„An sich schon. Aber, wenn du mal eins in Blau und Grün malst, dann hätte ich das gern.“

„Ach, Kira, ich glaube, da kannst du lange drauf warten. Grüntöne sind nicht so mein Ding, und blau bin ich selbst oft genug.“

Ich lachte, warf die Tüte in die Mülltonne und sagte: „Ich mache jetzt erst mal eine Pause. Und ihr?“

„Prima! Der Meister holt sich ein frisches Bier und bringt ein Sekt-chen für die Dame mit. Und was wünscht mein Assi zu trinken?“

„Ich nehme eine Cola, wenn es geht. Danke.“

Titus prallte zurück.

„Cola? Kommt ja wohl gar nicht in die Tüte! Hier gibt es BRAUSE, Mineralwasser, Tee, Kaffee und so. Cola steht auf dem Index, kommt schließlich aus Amerika“, sagte ich.

„Gut, dann eine Brause, bitte.“

„Wird erledigt“, sagte Titus und schickte sich an, ins Haus zu gehen.

„Lass, das kann ich doch machen!“, sagte ich.

„Nein, mein Sonnenschein, du bleibst sitzen. Ich mach das“, sagte er und verschwand.

„Wieso sagt er ‚mein Täubchen‘ und ‚mein Sonnenschein‘ zu dir?“, fragte BONA.

„Er ist unglaublich charmant zu Frauen, interessiert sich aber gleichzeitig nicht sonderlich für sie, wenn du verstehst, was ich meine.“

„Nee.“

„Er ist schwul.“

„Ach so!“

Dann kam Titus wieder raus und verteilte die Getränke.

„Was für ein Service!“, lobte ich ihn.

„Apropos Service: Morgen reparieren wir den Steg. Ben, Carlos und Schorschi kommen auch.“

Wir saßen zusammen auf der Veranda, aber ich konnte den Gesprächen nicht mehr folgen. Wenn die Philosophen morgen den Steg reparieren wollten, würde Graf dabei sein wollen. Und er hatte leider absolut keinen Bock auf BONA, weil er ihn schon allein aufgrund meiner Erwähnungen für einen Schnorrer hielt. Ich drückte mir mein Glas an die Stirn und hoffte, dass die Kühle meinen Denkprozess beschleunigen würde. Graf gegenüber hatte ich erwähnt, dass BONA mir hier helfen würde. Graf hatte geantwortet, dass das genauso nett wie unnötig wäre, denn er wäre ja auch noch da und die fünf Philosophen. Und nun? Wenn Graf BONA vom Grundstück verjagte, würde mein Mutter-Kind-Traum zerplatzen wie eine Seifenblase. Ich trank den Sekt aus, um meinen Kreislauf zu stimulieren. Durchblutung soll ja gut sein.

Ich hielt mein leeres Glas hoch.

„Titus? Ich hätte gern noch einen Sekt.“

„Klar, wird erledigt.“

Titus und BONA gingen irgendwann. Ich saß noch auf der Veranda, als Graf zu mir kam, und ich hatte immer noch keinen Schimmer, wie ich in puncto BONA weiter vorgehen sollte. Graf ließ sich auf den Friseurstuhl fallen, legte die Füße auf die Fußraste und fragte mich lässig: „Na, Schnuckel? Wie sieht’s aus?“

„Bestens.“

Ich holte eine Flasche Rotwein und stellte sie neben ihm auf das Sideboard. Er nahm zwei Gläser heraus und schenkte ein. Als er zum zweiten Glas kam, schüttelte ich den Kopf.

„Nein danke. Ich hatte vorhin schon Sekt. Titus war hier.“

„Aha. Und sonst noch wer?“

„Nur Titus und BONA.“

„War ja klar“, sagte Graf.

Damit waren wir schneller bei dem Thema, als mir lieb war.

„Lass das. Okay?“, war alles, was ich sagte.

„Ich werde doch wohl noch fragen dürfen, wer hier auf meinem Grundstück abhängt und sich meine Vorräte reinzieht. Oder etwa nicht?“

„Ich meine nicht deine Frage, sondern dieses ‚war ja klar‘! Bist du etwa eifersüchtig?“

„Ich?“, fragte er, drehte unschuldig die Handflächen nach oben und lachte freudlos. „Ich und eifersüchtig?“

„Ja. Und ich will wissen, auf wen. Auf einen schwulen Maler? Oder einen obdachlosen Teenager? Friedhelm, beides ist absurd!“

„Ich bin nicht eifersüchtig!“, fauchte er. „Ich weiß nur nicht, ob dir klar ist, dass wir hier alle von meinem Geld leben. BONA ist einer mehr, der mir hier die Haare vom Kopf frisst.“

„Dein Geld ist der Knackpunkt? Weißt du was? Ich such’ mir endlich wieder Arbeit. Dann kannst du zusehen, wer sich hier um alles kümmert, deine komischen Philosophen begöschert und was weiß ich nicht alles. Und wenn du Angst vor Schnorrern hast, Friedhelm, dann sei der zarte Hinweis erlaubt, dass es deine Philosophen sind, die hier schon seit fast neun Jahren herumhängen! BONA habe ich erst vor Kurzem kennengelernt!“

 

Eine Fliege kam und landete auf Grafs Glas.

Er scheuchte sie weg.

„Kira, ich hab …“

„Ich such mir Arbeit und damit basta.“

Er sah mich sorgenvoll an, drehte sein Weinglas zwischen den Fingern und fragte, während die Fliege wieder versuchte, auf dem Glas zu landen: „Bist du sicher, dass du inzwischen wieder so gefestigt bist, dass du das schaffst?“

„Ja.“

Die Fliege krabbelte am Rand herum.

Er verscheuchte sie erneut.

„Bist du ganz sicher?“

„Ja. Und nun hör auf! Ich bin seit drei Jahren clean!“

Wir schwiegen eine Weile. Ich betrachtete Graf, wie er auf dem Friseurstuhl saß. Seine Jeans musste dringend in die Wäsche, sein T-Shirt spannte über seinem dicken Bauch, mehr als ich es in Erinnerung hatte, seine Brusthaare gingen in den Vollbart über – ich musste dringend seine Haare schneiden. Er war, wie alles hier, leicht verlottert, und mir wurde warm ums Herz. Ich stand auf und ging zu ihm.

Mit den Händen fuhr ich durch seine Haare, zog seinen Wuschelkopf an meine Brust und küsste ihn.

„Na, du alter Knauser?“, flüsterte ich ihm ins Ohr.

Er trank einen Schluck Wein, stellte das Glas ab und schob seine Hände unter meinen Pullover.

„Ups? Heute kein BH?“, fragte er.

„Das ist doch viel zu teuer!“, sagte ich. „So was können wir uns doch wirklich nicht leisten!“

„Ach, wie schön kann sparen sein …“

Er befummelte meine Sparidee. Ich kraulte seine Haare und die Fliege trödelte tiefer ins Glas hinein.

„Willst du es dir hier ein wenig bequem machen oder lieber drinnen?“, flüsterte ich.

„Hierbleiben …“

Ich kniete mich hin.

„Und wenn uns jemand sieht?“

„Scheißegal …“

„Stimmt“, sagte ich.

Er strich mir die Haare aus dem Gesicht und sah aus dem Augenwinkel, wie die Fliege den Wein erreichte.

DER GESUNDHEITS-BROCKHAUS

Copyright 1951 by Eberhard Brockhaus, Wiesbaden

FLIEGEN, eine Insektengruppe mit zahlreichen Arten. Ihre gesundheitliche Bedeutung liegt darin, dass viele Fliegenarten durch ihre Maden Vertilger von Aas sind, dass sie Lebensmittel verunreinigen und schädigen, dass manche Maden in den menschlichen oder den tierischen Körper eindringen und Krankheiten hervorrufen können, dass die fliegenden Insekten Bakterien verbreiten können (z.B. Ruhrbazillen) und dass die Maden selbst Blutsauger sind. Einige Fliegenarten sind … hm … wobei einige –

Nee. Hier!

… Auch übertragen sie keine Gifte von Leichen, wie man früher glaubte …

Nein. Hier!

… Unappetitlich sind jene Sorten, die ihre Eier auf Fleisch ablegen. In einigen, in unserer Gegend seltenen Fällen, können sich Fliegenmaden im Körper entwickeln, z.B. in Stirn- und Kieferhöhle …

Ach, komm. So’n Quatsch!

… hm, bla, bla … Erreger von Ruhr, Typhus …

nee. HIER:

BEKÄMPFUNG der F.!

… werden vor dem Befall mit F. am einfachsten durch Einbau von blauen Glasfenstern geschützt, da die F. DAS BLAUE LICHT MEIDET! …

JA! Und HIER!

… die beste Bekämpfung besteht heute in der Anwendung von DDT-Mitteln, die als Betäubungsgift die Insekten vernichten. Ein einmaliger Anstrich von Ställen und Räumen REICHT FÜR MEHRERE WOCHEN!

Graf keuchte, hielt meinen Kopf fest in seinen Händen.

Die Fliege schwamm auf dem Rücken im Wein und drehte sich ganz langsam im Kreis. Ich fragte mich, ob die schon tot war.

„Fliegen können echt eklig sein. Weißt du?“

„Ich finde Ratten schlimmer“, sagte er und fischte die Fliege aus seinem Glas.

„Weißt du, noch mal wegen BONA …“

„Kira! Wieso sollst du nicht Besuch haben dürfen? Du bist hier doch nicht in Einzelhaft.“

„Übermorgen werden die Jungs den Steg reparieren.“

„Oh, gut. Kommt BONA auch?“

„Ich glaube schon.“

„Hat er seine Ratte immer dabei?“

„Ja, wieso?“

„Ich hasse Ratten.“

Später fragte er: „Was weißt du eigentlich über BONA?“

„Er ist von zu Hause abgehauen und hat auch eine Höhle und so. Aber Einzelheiten weiß ich nicht.“

„An sich ist es nett von dir, dass du dich um ihn kümmerst. Wir müssen nur aufpassen, dass wir am Ende nicht noch Ärger kriegen, weißt du? Er wird bestimmt gesucht.“

Graf und ich gingen am nächsten Tag einkaufen, denn es gehörte sich so, dass die Männer nach der Arbeit etwas Deftiges zu essen kriegten. Graf sagte, er hätte Lust auf Rindsrouladen. Wir holten alles, was ich dafür brauchte, dann schlenderten wir zurück. Als wir durch das alte Portal kamen, sahen wir BONA auf dem Steg sitzen, von wo aus er den Handlanger machte, während Titus, Carlos, Schorschi und Ben vom Wasser aus den Steg reparierten.

BONA sah uns und winkte unsicher.

Wir gingen zum Steg, und Graf sagte: „Hallo. Schön, dass ich dich auch mal kennenlerne.“

„Ich freue mich auch“, antwortete BONA zaghaft.

„Der Steg sieht schon gut aus! Braucht ihr noch Hilfe?“

BONA riss die Augen auf und sah sich panisch um.

„Mann! Das wäre gut!“, sagte Carlos.

BONA zog die Schultern hoch und schielte zaghaft zu Graf, der sich seine Jacke auszog und sie mir mitgab.

„Was haltet ihr davon, wenn wir in zwei Stunden essen?“, fragte ich. Das fanden alle gut.

„Wo ist denn Vincent?“, wollte ich wissen.

„Der spielt auf der Veranda.“

„Dann werde ich ihn jetzt mal verhätscheln!“

Ich nahm Vincent mit in die Küche und verwöhnte ihn mit Käsewürfeln und Rosinen. Ich wollte, dass er zufrieden und entspannt ist, wenn er Graf kennenlernte. Vincent hockte auf dem Küchentisch, während ich die Rouladen vorbereitete. Ich war hochgradig nervös, schaute immer wieder aus dem Fenster und fragte mich, wie Graf wohl auf Vincent reagieren würde. Vincent sprang vom Tisch und huschte zu Grafs Jacke, an der er herumschnüffelte.

„Süßer, das lass mal lieber bleiben, bis das hier alles geklärt ist“, sagte ich. Dann briet ich die Rouladen an. Als ich so weit mit allem fertig war, sah ich, dass die Männer aus dem Wasser kamen. Also stapelte ich ein paar Handtücher.

„So, Vincent. Nun geht’s um die Wurst. Nun lernst du Graf kennen. Das ist der wichtigste Mann hier. Aber es gibt ein klitzekleines Problemchen: Er hasst Ratten. Also, wenn du ihn doof findest, dann zeig es ihm bitte nicht. Okay? Lächeln!“, sagte ich und nahm ihn hoch. „Und lächeln! Alles hängt allein von dir und deinem Auftritt ab!“

Vincent schnupperte fröhlich.

„Gut. Fröhlich schnuppern geht natürlich auch.“

Dann schnappte ich mir den Stapel Handtücher, setzte Vincent oben drauf und ging total nervös zum Steg.

„Graf, guck mal. Ist der nicht süß?“, fragte ich, schon leicht skizzierend, was ich hören wollte.

„Hm, ja! Obwohl: nein. Nicht süß!“

Er betrachtete die kleine Ratte mit Widerwillen. Vincent schien ihn ebenfalls nicht zu mögen. Beide starrten sich an, und Vincents Fell stellte sich auf.

„Graf, ich glaube, du machst ihm Angst“, sagte BONA.

Ich versuchte Vincent durch eine deutliche Mundbewegung daran zu erinnern, dass er lächeln sollte. Aber er war dazu übergegangen, Graf anzufauchen.

„Hey, das war nicht nett. Okay?“, sagte BONA.

Dann kraulte er ihm das Ohr, und Vincent schien sich zu beruhigen. Graf erntete tadelnde Blicke von mir, die er sich wohl zu Herzen nahm, denn jetzt versuchte er so zu tun, als könnte er sich durchaus für Vincent erwärmen.

„Der ist ja silbern! Eigenartig. Ich dachte immer, Ratten sind graubraun?“, fragte er und sah mich dabei an.

„Ja, Vincent sieht anders aus,“ sagte BONA.

„Und das mit dem Ohr war der Rattenkönig?“

BONA nickte zaghaft.

„Ist ja ekelhaft! Hast du schon Rattengift ausgelegt?“

„Das mach ich nicht!“, protestierte er. „Ich habe Angst, dass Vincent es fressen könnte, und außerdem sind die anderen Ratten in Ordnung. Nur mit dieser Missgeburt habe ich meine Probleme.“

„Rattenkönige sind keine Missgeburten, BONA. Sie wachsen erst nach der Geburt zusammen, wenn der Wurf zu eng beieinanderliegt. Und es gibt Rattenkönige, die sind noch viel größer. So gesehen, hast du noch Glück gehabt.“

Später aßen wir auf der Veranda, und als es dämmerte, stellten wir noch ein paar Windlichter auf.

„Heute ist Neumond!“, sagte ich.

„Na, Gott sei Dank. Ich bin jedes Mal froh, wenn ich das Scheißding da oben nicht sehen muss!“, behauptete Schorschi rundheraus.

„Was hast du denn gegen den Mond?“, fragte BONA.

„Gegen den Mond habe ich nichts. Aber gegen die Amiflagge, die da drinsteckt. Gegen die habe ich richtig was.“

Ich stimmte Schorschi zu: „Ich HASSE Amiflaggen!“

„Ich auch, Kira. Wie kann dieser Armstrong nur aus der Rakete aussteigen und dann mir nichts dir nichts da einfach so’ne Amiflagge reinpieksen? Ist doch ein Hammer, oder?“

„Vielleicht hat er sie wieder mitgenommen?“, fragte BONA.

„Der? Niemals!“, empörte sich nun auch Carlos, als würde er Herrn Armstrong persönlich kennen und hätte schon viele negative Erfahrungen mit ihm sammeln können.

„Die wird da oben noch drinstecken, wenn die Welt sich nicht mehr dreht. Neben den aufgeditschten Sonden …“

„Ja, und was da sonst noch an Müll rumliegt!“

„Es gibt auch ohne Ende Weltraummüll, der durch das All rauscht“, gab Schorschi zu bedenken.

„Ich finde diese Amiflagge im Mond auch am Schlimmsten. Dieses peinliche Sternchending! Primärfarben! Fehlt nur noch Gelb. Und das scheußliche Ding steckt im edelgrauen Mond – Paynesgrau, milchiges Graphit mit einem Hauch von Hookersgrün, rundrum nur noch Elfen-beinschwarz“, schwärmte Titus.

„Ich weiß sowieso nicht, was das alles soll“, sagte ich.

Und Schorschi meinte: „Die wollen gucken, ob sie das hinkriegen. Mehr nicht.“

Im Kontrollzentrum, da wird man panisch,

der Kurs der Kapsel, der stimmt ja gar nicht!

„Hallo, Major Tom, können Sie hören?

Woll’n Sie das Projekt denn so zerstören?“

Doch er kann nichts hör’n.

Er schwebt weiter,

völlig losgelöst von der Erde

schwebt das Raumschiff

völlig schwerelos.

Die Erde schimmert blau,

sein letzter Funk kommt:

„Grüßt mir meine Frau!“

Und er verstummt.

(Peter Schilling · Major Tom)

„Die wollen doch nur gucken, ob es dort oben Leben gibt. Angeblich ja Fehlanzeige“, sagte Carlos.

„Glaubst du denn, dass es dort Leben gibt?“, fragte BONA.

„Klar! Da oben tobt das Leben!“, sagte Carlos. „Nur haben die Astronauten nichts davon mitgekriegt, weil sie nicht wussten, wonach sie suchen sollten.“

„Aha?“, sagte BONA.

„Pass auf. Es gab da mal einen sehr, sehr reichen Kater. Das war der reichste Kater von der ganzen Welt. Dieser Kater hatte eine schöne Frau und einen Sohn. Und dieser Sohn war der allerschlauste Kater von der ganzen Welt. Alle Katzen waren sich einig: Aus dem Jungen wird mal was … Dieser reichste Kater der Welt pflegte ein sehr exklusives Hobby: Expeditionen und das Entdecken fremder Flora und Fauna. Er hatte schon viel gesehen in seinem langen, erfüllten Leben. Und zum Abschluss wollte er dem Ganzen noch die Krone aufsetzen. Ein gigantisches Projekt reifte in seinem Kopf heran, bis er eines schönen Tages mit der Sprache rausrückte: Er wollte dieses weiße Objekt mit der riesigen Kuppel und dem langen Stab an der Seite gründlich untersuchen lassen. Und zwar von keinem Geringeren als seinem eigenen Sohn! Seine Frau machte sich sofort große Sorgen, aber sein Sohn war Feuer und Flamme.

 

Er eignete sich mit dem Geld seines Vaters das ganze verfügbare Wissen an. Privatlehrer gaben sich gegenseitig die Klinke in die Hand. Der Knirps lernte mit großem Eifer. Dann übte er sich im Spurenlesen und befasste sich intensiv mit der gesamten Flora und Fauna. Gleich-zeitig absolvierte er ein hartes Training. Jeden Tag joggte er eine Stunde, machte hinterher noch Krafttraining und lernte zu schwimmen und zu tauchen.

Endlich war es so weit: Der junge Kater war das schlauste Kraftpaket der ganzen Welt und verschaffte sich Zutritt zu diesem unbekannten Objekt. Er stürmte in das Kernkraftwerk und sah sich gründlich um, aber es gab eine Enttäuschung: Der Fußboden war total langweilig. Keine Spuren waren da zu finden. Da war nichts.

Dann sprang er überall herum und suchte nach Pflanzen. Aber kein Pflänzchen hatte sich einen Weg durch diesen glatten, bestürzend langweiligen Boden bohren können.

Aber er gab nicht auf. Vielleicht gab es Tiere in der Luft? Er kletterte, sooft es ging, irgendwo dran hoch und hielt nach Vögeln und Insekten Ausschau – und wieder fand er nichts. Er konnte es selbst kaum glauben. Zu guter Letzt kletterte er auch noch den langen, dünnen Turm hoch bis nach oben, aber auch hier: nichts. Wild entschlossen widmete er sich der letzten Untersuchung: einem blau leuchtenden Wasserbecken. Die Farbe war faszinierend, wenn auch sonst, wie alles andere, eher trostlos. Er stellte sich an den Rand und machte Rumpf-beugen und Dehnungsübungen. Nach einer Weile fing er an, Arme und Beine gründlich auszuschütteln und dabei tief ein- und auszuatmen, um sein Blut mit Sauerstoff anzureichern. Mit einem kühnen Kopfsprung tauchte er tief in das Becken hinein, bis er den Druck in der Lunge nicht mehr ertragen konnte und umkehren musste. Prustend und nach Luft schnappend tauchte er auf und krallte sich keuchend am Beckenrand fest. Er kämpfte mit den Tränen: Auch in diesem Becken hatte er nichts gefunden.

Tief enttäuscht kletterte er aus dem Wasser, schüttelte sein Fell aus und ließ es trocknen.

Er haderte mit seinem Schicksal. Die ganze Mühe, das viele rausgeschmissene Geld, die Zeitverschwendung … wie sollte er das seinem Vater erklären? Würde er ihm glauben oder würde er an seiner Gründlichkeit zweifeln? Um seinem Vater zu verdeutlichen, wie wenig hier los war, wollte er ein kleines Teil einpacken, von denen er in einer Kammer einige gesehen hatte. Das würde ihn überzeugen. Dann machte er sich mit schweren Schritten auf den Rückweg.

Als er nach draußen kam, wurde er wie ein Held von den Katzen stürmisch begrüßt. Sie jubelten, tobten herum und löcherten ihn mit Fragen. Alle wollten wissen, was er entdeckt hätte. Aber er brüllte, so laut er konnte: ‚RUHE!‘

Sie waren sofort still. Dann sagte er ernst: ‚Da ist nichts. Ich habe alles gründlich untersucht. Nichts fliegt herum, der Boden ist zu hart und zu trocken für Pflanzen, und der Teich ist zu langweilig für Fische. Ich habe als Beweis für die Trostlosigkeit dort dieses Teil hier mitgebracht.‘

Mit diesen Worten hielt er ein kleines Stückchen Uran in die Höhe. Sein Vater war blass geworden und wandte sich ab. ‚Es tut mir leid, Vater!‘, rief der Sohn verzweifelt. ‚Willst du das Teil hier vielleicht haben?‘ Er hielt es seinem Vater hin, dieser schüttelte traurig den Kopf. ‚Behalte du es, mein Sohn. Als Erinnerung.’

Der junge Kater trug das Uran mit sich herum, weil es immer noch Katzendamen gab, die behaupteten, sich für seine Expedition zu interessieren. Aber sosehr ihn ihre Gesellschaft freute, er wurde merkwürdigerweise schnell müde und von Tag zu Tag schwächer. Seine Eltern sahen diese Entwicklung mit Sorge. Was war nur aus ihrem superschlauen Kraftpaket geworden? Ein Trauerkloß? Ein Stubenhocker? Sie kamen zu dem Ergebnis, dass der kleine Stein Trübsal in seinem Gemüt verbreitete. Also stahl seine Mutter ihm eines Tages diesen Stein. Damit er ihn nicht zufällig fände, versteckte sie ihn tief in der elterlichen Matratze. Aber dem Sohn ging es nicht besser. Und auch seine Eltern mussten jetzt immer häufiger Einladungen absagen. Die Begründung war oft: ‚Wir fühlen uns heute nicht so gut. Aber ein andermal kommen wir gern.‘“

Alle schwiegen einen Moment.

BONA sagte: „Wie traurig. Was passierte dann?“

„Alle hops.“

„Wie traurig“, wiederholte er.

„Soviel zu dem Thema: Da ist nichts!“, sagte Carlos.

Während Carlos das erzählte, hatte Titus etwas für Vincent gemalt. Ich war im ersten Moment überrascht, aber Vincent schien sich sogar für das, was gemalt wurde, zu interessieren. Am Ende schlenderte er dann doch zu BONA zurück, der in Gedanken weit weg war und in dumpfes Brüten verfiel. Carlos stubste ihn an und fragte etwas, ich konnte ihn aber nicht verstehen. Erst als alle einen Moment still waren, hörte ich ihn sagen: „Schreib ihm doch einfach einen Brief!“

„Hab ich schon. Er hat meinen Abschiedsbrief.“

„Und wenn du ihm etwas zukommen lässt, was er sofort versteht, mit dem deine Mutter aber nichts anfangen kann?“, fragte Titus.

„Hm. Das wäre ein Gullideckel. Mein Vater macht davon schöne Schwarz-Weiß-Fotos. Und meine Mutter fragt ihn immer, wenn er

sich damit beschäftigt: ‚Na? Unterliegst du wieder dem Zauber der Kloake?‘“

Carlos und Graf schauten sich an.

Graf nickte langsam und unauffällig.

BONA hatte nichts mitgekriegt, aber nun wusste ich, dass Graf BONA akzeptiert hatte. Ein Stein fiel mir vom Herzen.

„So“, sagte Carlos, „wie machen wir das jetzt mit diesem komischen Gullideckel?“

„Wieso wir?“, fragte BONA.

„Na, du kannst ja wohl schlecht einen Gullideckel quer durch Grothenhever schleppen! Und du kriegst ihn auch nicht alleine hochgehüsert. Die sind schwer, die Dinger!“, sagte Carlos.

„Und ich helfe auch mit“, sagte Schorschi. „Wir brauchen auf jeden Fall eine Schubkarre.“

„Ihr könnt meine haben“, sagte Graf. „Und einen Kuhfuß braucht ihr auch, damit ihr das Ding hochgestemmt kriegt!“ Dann stand er auf.

Schorschi suchte noch ein paar Bierchen zusammen, damit sie unterwegs nicht verdursteten, und BONA war überwältigt von dem Teamgeist, der bei den Philosophen herrschte. Er hob Vincent, der versonnen an den leeren Tellern leckte, hoch und steckte ihn in einen Jutebeutel, der so lange Griffschlaufen hatte, dass er sich den bequem um den Hals hängen konnte. Als alles in der Schubkarre verstaut war, brachen sie auf.

Später lagen Graf und ich vor dem Kamin herum und lasen, als es draußen auf der Veranda klapperte. Wir gingen zur Tür. BONA stand dort und weinte, während er sich große dreckige Gartenschuhe an die Brust drückte. Carlos und Schorschi standen neben ihm und klopften ihm beruhigend auf die Schulter. Ich nahm BONA in die Arme, woraufhin er nur noch mehr heulte. „Komm mit rein“, sagte ich. „Du schläfst heute im Wohnzimmer auf dem Sofa. Wir setzen uns zu dir und lesen noch ein bisschen.“

„Geht es dir besser?“, fragte ich ihn am nächsten Tag.

„Ja. Ich bin nicht mehr so traurig wie gestern Nacht, als ich die Schuhe von meinem Vater sah. Ich fühlte mich da wie eine Fliege, die in einem dunklen Haus herumfliegt und keinen Ausgang findet. Dann entdeckt sie ein Fenster. Draußen ist helllichter Tag, da will sie hin. Aber sie kommt nicht durch die Scheibe, sondern knallt immer nur dagegen.“

„Arme Fliege.“

Graf setzte sich zu uns und legte seinen Arm um mich. Vincent kam angesprungen und setzte sich auf meinen Schoß.

„Na, Miststück?“, sagte Graf und schnipste mit seinen Fingern einmal kräftig gegen Vincents Schnauze.

BONA und ich schimpften sofort mit ihm.

„Menschenskinder, ist doch nur eine Ratte!“, sagte Graf.

Dann verließ er das Zimmer.

Mai 1982

Meine Mutter, seine Mutter und die von Elvis Presley

Ich hatte im Fenster der Drogerie einen Aushang entdeckt, auf dem stand: „Freundliche und zuverlässige Aushilfe gesucht!“ Das war das ideale Sprungbrett in meine Unabhängigkeit. Regelmäßiges Einkommen, geregelte Tagesabläufe, eine kleine Wohnung für BONA und mich für 350 Mark im Monat … Ich konnte mir gut vorstellen, dort zu arbeiten. Ein paar Tage hätschelte ich diesen Gedanken im Verborgenen, und als ich mich dem Thema gewachsen sah, erzählte ich abends beiläufig, dass ich mich am nächsten Tag bewerben wollte. Das mit den Wohnungsplänen erwähnte ich natürlich nicht. BONA war begeistert, aber Graf war skeptisch.

„Und wenn du irgendwas vorweisen musst?“

„Vorweisen?“, fragte ich irritiert. „Was denn zum Beispiel?“

„Zeugnisse? Einen Lebenslauf?“

Ich wickelte eine Haarsträhne um meinen Zeigefinger und dachte nach. Mein Realschulzeugnis war erstens mies und zweitens weg. Ich hatte auch nicht die leiseste Ahnung, wo es sein könnte. Als ich dann die Kochlehre hinschmiss, hatte ich zwar kein Zeugnis bekommen, dafür aber eine Bestätigung. Nur hatte ich diese auch schon ewig nicht mehr gesehen. Die anschließende Friseurlehre hatte ich fast fertig gemacht. Jedenfalls, bis ich andere Sorgen hatte.