Truth & Betrayal

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From the series: Southern Boys #1
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Truth & Betrayal
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Deutsche Erstausgabe (ePub) November 2020

Für die Originalausgabe:

© 2018 by K.C. Wells

Titel der Originalausgabe:

»Truth & Betrayal«

Published by Arrangement with K.C. Wells

Für die deutschsprachige Ausgabe:

© 2020 by Cursed Verlag

Inh. Julia Schwenk

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung,

des öffentlichen Vortrags, sowie der Übertragung

durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile,

Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit

Genehmigung des Verlages.

Bildrechte Umschlagillustration

vermittelt durch Shutterstock LLC; iStock

Satz & Layout: Cursed Verlag

Covergestaltung: Hannelore Nistor

Druckerei: CPI Deutschland

Lektorat: Annika Bührmann

ISBN-13: 978-3-95823-854-1

Besuchen Sie uns im Internet:

www.cursed-verlag.de


Aus dem Englischen

von Susanne Scholze

Liebe Lesende,

vielen Dank, dass ihr dieses eBook gekauft habt! Damit unterstützt ihr vor allem die*der Autor*in des Buches und zeigt eure Wertschätzung gegenüber ihrer*seiner Arbeit. Außerdem schafft ihr dadurch die Grundlage für viele weitere Romane der*des Autor*in und aus unserem Verlag, mit denen wir euch auch in Zukunft erfreuen möchten.

Vielen Dank!

Euer Cursed-Team

Klappentext:

Als Jakes großer Bruder Caleb bei einem Autounfall ums Leben kommt, ist Jake am Boden zerstört. Auf der Beerdigung taucht dann auch noch Liam auf, der Fahrer des Wagens, was Jake vollends aus der Fassung bringt. Beim Ausräumen von Calebs Wohnung stellt Jake fest, dass Liam nicht nur Calebs Mitbewohner war. Jede weitere Enthüllung über seinen Bruder bringt Jakes Welt mehr ins Wanken und Jake und Liam kommen sich in ihrer gemeinsamen Trauer näher. Aber ist das, was sich zwischen ihnen entwickelt, wirklich echte Liebe oder nur Verbundenheit, weil sie beide einen geliebten Menschen verloren haben?

Danksagung

Ein großes Dankeschön geht an meine fantastischen Betaleser*innen Jason, Daniel, Helena, Debra, Sharon, Mardee und Will.

An meinen Alphaleser und Chefplotter Jason Mitchell. Vielen Dank für die Stunden, in denen wir in Ontario über dieses Buch gesprochen haben.

Vielen Dank an Ed Davies, der mir schlussendlich geholfen hat, ein Ende zu finden.

Vielen Dank auch an Zac Richarmé für die Beratung bezüglich Atlantas.

Vielen Dank all jene Facebook-Freund*innen, die ihre Erfahrungen beim ersten Besuch eines Sexshops mit mir geteilt haben. Es kann sein, dass ihr sie hier wiederfindet.

Und ein riesiges Dankeschön an Cammey, Kelley, Megan Turngren und Becca Waldrop. Ihr habt dafür gesorgt, dass dieses Buch fest im Süden verwurzelt ist.

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Kapitel 1

5. Mai 2017

Jake Greenwood zog die dicken Handschuhe aus, die er getragen hatte, um seine Hände vor dem Holz zu schützen, und warf sie hinten in den Pick-up-Truck seines Daddys. In diesem Moment konnte er die heiße Dusche beinahe hören, die praktisch nach ihm rief und versprach, seine Schmerzen zu lindern. Es war ein langer Tag gewesen, aber Gott sei dank war endlich Wochenende. Nicht, dass da die Aussicht auf etwas Neues bestand, aber der Gedanke, mit Pete, Dan und dem Rest seiner kleinen Gruppe von Freunden abzuhängen, brachte ihn zum Lächeln.

Natürlich war die eine Person, mit der er unbedingt abhängen wollte, ungefähr vierhundert Kilometer oder eine vierstündige Autofahrt entfernt.

Vielleicht kommt er bald zu Besuch.

Schon als ihm der Gedanke kam, verfiel Jake in sein übliches Muster, die Möglichkeit abzutun. Das war auf lange Sicht weniger schmerzhaft.

Vielleicht muss ich einfach akzeptieren, dass es jetzt so ist.

Klar. Als würde das passieren.

»Keine Lust, nach Hause zu gehen?«

Der amüsierte Tonfall seines Vaters drang durch das Wirrwarr aus Jakes Hoffnungen, Ängsten und seinem inneren Aufruhr. Jake hob die Augenbrauen. »Hast du es so eilig, zu Mamas frittiertem Katzenwels, Krautsalat und Maismehlbällchen nach Hause zu kommen? Denn es ist Freitag, stimmt's?« Er lachte leise. Mama liebte Routine.

Sein Daddy sah ihn aus schmalen Augen an. »Deine Mama wird bis zu ihrem Tod glauben, dass ich ihren frittierten Katzenwels genauso liebe wie ihr scharfes Hühnchen, ihre Brötchen und ihren Bananenpudding. Nur weil du es besser weißt, heißt das nicht, dass du ihr das verraten musst. Mach das und ich gerb dir das Fell, neunzehn hin oder her.«

Jake bekreuzigte sich. »Mama wird auf Wolke sieben schweben, ich schwör's.«

Sein Daddy biss sich auf die Lippe, seine Augen funkelten. »Und glaub nicht, du kommst an mir vorbei, indem du einen meiner Sprüche verwendest.« Er setzte sich auf den Fahrersitz des Pickups. »Aber bitte, Jacob, lass dir nur Zeit. Ich bin sicher, deine Mama nimmt es uns nicht übel, wenn wir uns verspäten.« Er bedachte Jacob mit einem unschuldigen Lächeln.

Das reichte aus, damit Jake sich auf den Beifahrersitz warf. Eine schlecht gelaunte Mama war nichts, was er sich vorstellen wollte. Das würde ihm sein ganzes Wochenende versauen.

Sein Daddy ließ den Motor an und fuhr von dem Haus in der West Fir Street weg, mit dessen Renovierung sie gerade begonnen hatten. Es würde jede Menge harte Arbeit sein und einige Zeit dauern, aber das machte Jake nichts aus. Er liebte es, mit seinem Daddy zu arbeiten. Es war fast zwei Jahre her, dass er an der LaFollette Highschool seinen Abschluss gemacht und angefangen hatte, Vollzeit zu arbeiten. Davor hatte er seit seinem zwölften Lebensjahr jedes Jahr in den Sommerferien mitgearbeitet.

Natürlich könnte der Versuch, Caleb nicht zu vermissen, auch etwas damit zu tun haben, dass er sich in die Arbeit stürzte. Als würde das funktionieren.

Als sie nach rechts auf die South Tennessee Avenue abbogen, räusperte sich sein Dad. »Also, willst du mir sagen, was los ist?«

Jacob verzog keine Miene. »Es ist alles in Ordnung.« Als sein Dad darauf mit einem Schnauben reagierte, seufzte Jake innerlich. Es gab Zeiten, zu denen er vergaß, wie viel sein Daddy bemerkte.

»Du kannst mir nichts vormachen. Du warst die ganze Woche total angespannt. Und ich glaub nicht, dass die Arbeit der Grund dafür ist. Warum sagst du mir nicht, was dich beschäftigt?«

Die Wahrheit hörte sich kindisch an, also hielt Jake den Mund.

Sein Daddy seufzte. »Ich vermisse ihn auch, okay?«

Danach konnte Jake auf keinen Fall weiterhin schweigen. »Ich schätze, ich habe mich immer noch nicht daran gewöhnt, dass er weggegangen ist.« Nicht, dass er nicht genug Zeit gehabt hätte, sich daran zu gewöhnen. Calebs Besuche waren immer seltener geworden, seit er mit dem Studium begonnen hatte. Der Schmerz in Jakes Herz hatte mit jedem Jahr etwas nachgelassen, aber am Anfang war es für den elfjährigen Jungen, der seinen besten Freund verloren hatte, eine Qual gewesen.

»Keine Ahnung, was er in Atlanta so faszinierend findet, dass es ihn davon abhält, seine Familie zu besuchen. Und es ist nicht so, dass ich ihn nicht anrufe und ihm sage, dass er ab und zu seinen Arsch nach Hause bewegen soll.«

»Du rufst ihn an?« Jake sah seinen Daddy überrascht an.

Daddy schnaubte. »Ist egal. Er hört nicht auf mich. Aber es geht mir nicht um mich, sondern um deine Mama. Es reicht nicht, alle Jubeljahre mal nach Hause zu kommen.« Er seufzte tief. »Ich schätze, ich habe mich auch nicht mit dem Gedanken angefreundet. Als ich in Calebs Alter war, hab ich ungefähr eine Fahrstunde entfernt von deinen Großeltern gelebt. Deine Mama und ich, wir sind jeden Sonntagvormittag mit ihnen zum Gottesdienst gegangen und bis zum späten Nachmittag bei ihnen geblieben. Die Zeiten ändern sich, hm?« Daddy schenkte ihm ein müdes Lächeln. »Trotzdem bin ich stolz auf ihn, weil er aufs College gegangen ist und in Atlanta einen guten Job gefunden hat.«

»Warum besuchen du und Mama ihn nicht stattdessen?« Das war eine Frage, die Jake schon sehr lange beschäftigt hatte. Er hatte keine Ahnung, wo sein Bruder lebte und wie es in Atlanta war.

Es hatte keine Einladungen gegeben und das hatte wehgetan.

Erneutes Schnauben. »Der Herr weiß, deine Mama macht oft genug Andeutungen, aber er sagt nie ein Wort.« Er hielt inne. »Manchmal hab ich den Eindruck, er möchte nicht, dass seine Freunde seine Familie kennenlernen.«

Die Erkenntnis, dass sein Daddy auch litt, war ein Schock für Jake. Er wollte etwas sagen, irgendwas, um seinen Vater wissen zu lassen, dass er es verstand, es wirklich verstand, aber die Worte blieben ihm in der Kehle stecken.

Sie bogen auf den Shoreline Circle ein und erreichten bald die Abzweigung zu ihrem Haus. Jake liebte es, dass man ihr Zuhause von der Straße aus nicht sehen konnte. Es war von Bäumen umgeben, die ihre Schatten auf Dach und Wände warfen. Er zeigte die Zufahrt entlang. »Wir haben Besuch.« Ein Streifenwagen fuhr vor dem Haus vor.

Oh Gott.

Sein Daddy warf ihm einen durchdringenden Blick zu. »Okay, was hast du jetzt wieder angestellt?«

Jake stöhnte. »Ich hab gar nichts gemacht! Und es ist zwei Jahre her, okay? Und es war ein Joint.« Nicht, dass sein Daddy ihn das vergessen lassen würde. Seine Mama tat es definitiv nicht. Je weniger sie also darüber wussten, wie er seine Wochenenden verbrachte, desto besser.

 

Er hatte gelernt, besser darauf zu achten, mit wem er abhing. Ein Anruf vom Vater eines Freundes bei seinem Daddy hatte ausgereicht, dass er vorsichtiger wurde.

Daddy stellte den Motor ab und sie stiegen in dem Moment aus dem Pick-up, als sich zwei Polizisten der Haustür näherten. Er räusperte sich. »Kann ich Ihnen helfen?«

Die Beamten drehten sich um und der Ausdruck auf ihren Gesichtern traf Jake bis ins Mark.

Das bedeutet nichts Gutes.

»Guten Abend. Kennen Sie einen Caleb Greenwood?«

Und einfach so schloss sich eine eisige Faust um Jakes Herz.

Daddy erstarrte. »Das ist mein Sohn. Ich bin Hank Greenwood.«

Der Polizist deutete Richtung Haus. »Können wir reinkommen, Sir?«

Es war, als würde die Welt plötzlich ihre Geschwindigkeit ändern und alles lief in Zeitlupe ab. Wie sein Daddy zur Tür ging, die Polizisten, die ihm folgten, wie sie ihre Mützen abnahmen… Selbst der Wind in den Bäumen wurde auf ein verzerrtes Flüstern reduziert, während er ins Haus ging.

Mama stand mit weit aufgerissenen Augen neben dem Kamin, ihr Gesicht war leichenblass und eine Hand hatte sie an ihre Brust gelegt. »Was ist passiert?«

»Ma'am, wie wäre es, wenn Sie sich setzen?« Der ältere Polizist deutete auf den Sessel.

»Wie wäre es, wenn Sie mir sagen, warum Sie hier sind?«, schoss sie zurück.

»Maggie, mach, was der Officer sagt, okay?« Daddy trat an ihre Seite, schlang einen Arm um ihre Taille und führte sie zu dem Sessel. Er sah die Polizisten an. »Das ist meine Frau Maggie und das ist Jacob, unser anderer Sohn.« Als Mama endlich saß, richtete er sich auf. »So. Ich nehm an, Sie sagen uns jetzt, was los ist.«

Jake ließ sich auf die Couch sinken, saß auf der Kante des Polsters. Sein Herz fühlte sich immer noch wie zusammengeschnürt an.

Die Polizisten blieben stehen, die Mützen in den Händen. Der ältere Beamte übernahm die Führung. »Ich bin Officer Abernathy, das ist Officer Cox. Es hat einen Unfall gegeben und es tut uns leid, Ihnen mitteilen zu müssen, dass Caleb nicht überlebt hat.«

Die Angst, die sich in Jake aufgebaut hatte, seit er den Streifenwagen gesehen hatte, brach wie eine Flutwelle über ihn herein, und er war dankbar, dass er sich hingesetzt hatte. »Was für einen Unfall?«, würgte er hervor.

Cox, der etwa Mitte zwanzig sein musste, warf ihm einen mitfühlenden Blick zu. »Sein Wagen war in Georgia auf der I-20 in der Nähe von Greensboro in einen Verkehrsunfall verwickelt. Die Sanitäter konnten ihm nicht mehr helfen.«

Daddy gab einen erstickten Laut von sich, dann riss er sich zusammen, sein Gesicht war bleich. »Sind Sie sicher, dass es Caleb war?«

Abernathy nickte. »Er war der Beifahrer. Der Fahrer hat ihn am Unfallort identifiziert und Caleb hatte seinen Ausweis dabei. Es tut mir leid, Sir. Gibt es jemanden, den wir anrufen können, damit er Ihnen Beistand leistet?«

Mama sah Daddy gequält an. »Reverend Hubbert? Würdest du ihn anrufen?«

Daddy nickte, bevor er sich zu Abernathy umdrehte. »Also… was passiert jetzt?«

»Ich vermute, Sie werden demnächst einen Anruf vom Gerichtsmediziner bekommen. Wenn Sie sich für ein Bestattungsunternehmen entschieden haben, wird dort jemand mit dem McCommon‘s in Greensboro Kontakt aufnehmen. Das ist das Bestattungsunternehmen, wo sich Caleb derzeit befindet.« Abernathys Tonfall wurde weicher. »Es werden Vorkehrungen getroffen werden, um ihn nach Hause zu bringen.«

Das war zu viel für Mama. Sie brach mit einem Klagelaut zusammen und Jake klammerte sich an jedes bisschen Kraft, das er besaß, um sich ihr nicht anzuschließen. Die beiden Polizisten verhielten sich still und Daddy kniete sich vor Mama auf den Teppich und umklammerte ihre Hände so fest, dass die Haut über seinen Knöcheln weiß wurde. »Ich bin bei dir, Maggie.« Seine Stimme zitterte und seine Schultern bebten.

»Möchten Sie, dass wir warten, bis der Reverend eintrifft?«, fragte Cox zuvorkommend.

Daddy schüttelte den Kopf. Wischte sich über die Augen. »Danke, aber Sie können hier nichts mehr tun. Jacob, bringst du die Officers bitte hinaus?«

Jacob wusste nicht, ob er überhaupt in der Lage war zu stehen.

»Sicher, Daddy.« Er rappelte sich von der Couch auf – seine Beine zitterten – und ging dicht gefolgt von den Beamten zur Tür. Er trat mit ihnen hinaus und zog die Tür zu.

»Halten Sie zusammen«, sagte Cox sanft. »Ihre Mama wird Sie brauchen, aber Sie werden die beiden ebenfalls brauchen. Es tut uns leid, dass wir eine so schreckliche Nachricht überbringen mussten.«

»Danke noch mal.« Auch wenn es einfach falsch schien, den Menschen zu danken, die soeben Jakes ganze Welt zum Stillstand gebracht hatten. Er stand neben der Tür, als die Beamten in ihr Auto stiegen, auf dem Vorplatz wendeten und dann langsam am Pick-up vorbeifuhren.

Jake wartete, bis sie außer Sicht waren, dann fiel er auf die Knie. Den Schmerz, als er auf dem harten Boden aufkam, spürte er kaum. Er beugte sich vor, vergrub das Gesicht in den Händen und weinte um seinen Bruder. Heiße Tränen liefen ihm über die Wangen und tropften auf den Boden.

Es war egal, was der Polizist gesagt hatte.

Caleb würde nie mehr nach Hause kommen.

Kapitel 2

Jake durchlebte die drei Wochen, die auf den Polizeibesuch folgten, eingehüllt in einen betäubenden Nebel. Die Zeit war nicht in Tage eingeteilt, sondern in Vorfälle, und jeder brachte schmerzhafte Stiche mit sich, riss die Wunde erneut auf, bis er sich in sich selbst zurückzog, auf der Suche nach dem Taubheitsgefühl.

Der erste Vorfall war der Anruf des Gerichtsmediziners. Jake hatte neben seiner Mama gesessen und ihre Hand gehalten, während sein Daddy in einem leeren Tonfall gesprochen hatte, den Jake zuvor nie gehört hatte, der aber in letzter Zeit immer häufiger geworden war. Es hatte sich angefühlt, als hätte nur der Mediziner geredet, denn sein Daddy hatte nur wenige Fragen gestellt, und, als das Telefonat beendet war, den Hörer wieder aufgelegt. Dann war er zum Fenster gegangen und hatte eine gefühlte Ewigkeit hinausgesehen. Anschließend hatte er sich zu ihnen umgedreht und ihnen bedächtig, sehr bedächtig erzählt, wie Caleb ums Leben gekommen war.

Scheinbar waren er und ein anderer Mann auf dem Freeway unterwegs gewesen, als ein Sattelzug, der in die entgegengesetzte Richtung fuhr, seine aus Reifen bestehende Ladung verloren hatte, die sich daraufhin über alle Fahrspuren verteilte. Einer der Reifen war von der Fahrbahn abgeprallt, über die Mittelleitplanke gesprungen und hatte direkt die Windschutzscheibe getroffen. Calebs Verletzungen waren so schwer, dass er nach kurzer Zeit verstarb, aber der Fahrer trug nur Prellungen im Gesicht und einen gebrochenen rechten Arm davon.

Das Wissen, dass der andere Insasse des Autos so glimpflich davongekommen war, nagte an Jake, schnürte ihm die Brust zusammen, bis er nicht mehr atmen konnte. Es war lediglich das harte, stakkatoartige Keuchen seiner Mama, das ihn daran erinnerte, dass er nicht der Einzige war, der litt, und er hatte ihre Hand fester umklammert, als würde das etwas helfen.

Nichts würde jemals helfen, und all diese Plattitüden, die Freunde und Nachbarn ihnen auftischten, von wegen, dass die Zeit die Wunden heilen würde? Tja, sie konnten ihren gut gemeinten Mist nehmen und ihn sich sonst wohin stecken. Und das galt ganz besonders für Reverend Hubbert, der weniger ein einzelner Vorfall als vielmehr allgegenwärtig war.

Jake hatte nichts gegen den Reverend persönlich. Er war keiner dieser Hetz-Prediger, aber er hatte während der Gottesdienste gelegentlich Dinge gesagt, die eisige Finger unter Jakes Haut kriechen ließen, die sich dann um sein Herz schlossen und immer fester und fester zudrückten. Aber jetzt? Es kam ihm so vor, als würde er bei ihnen leben, so oft war er da. Jake störte das nicht so sehr – was schmerzte, war das, was er sagte. Dass Caleb jetzt an einem besseren Ort war. Dass er beim Herrn war.

Woher zum Teufel willst du das wissen? Jake wollte schreien. Dieser Kerl kannte seinen Bruder nicht. Er wusste nichts über den Caleb, der in seiner Bibel Comichefte in die Kirche geschmuggelt hatte, als Jake sechs oder sieben gewesen war. Den Caleb, der fluchte, wenn er und Jake allein am Ollis Creek waren, und der Jake hatte schwören lassen, dass er es ihrer Mama nicht verraten würde. Wenn Caleb gläubig gewesen wäre, hätte er, als er ein Teenager war, Mama und Daddy jeden Sonntag begleitet. Mama hatte ihn nicht gedrängt, als er darum gebeten hatte, zu Hause bleiben zu dürfen, aber es war allen Beteiligten klar, dass sie nicht glücklich darüber war.

Also hielt Jake den Mund, wenn Reverend Hubbert im Haus war, und wahrte um seiner Mutter willen den Frieden. Er lächelte jedes Mal höflich, wenn der Prediger vor ihrer Tür auftauchte, schenkte ihm ein Glas Eistee ein und ging ihm dann aus dem Weg. Allerdings konnte er nicht leugnen, dass diese Besuche seiner Mama guttaten, und allein aus diesem Grund war er bereit, sich auf die Zunge zu beißen, wenn der Reverend seine Theorien über Calebs ewige Ruhestätte aufstellte.

Jake wusste genau, wo diese sein würde – im Familiengrab auf dem Woodlawn Cemetry.

Jeder, der etwas anderes behauptete, täuschte sich gewaltig.

Nur kamen mit dem Reverend auch all die Damen der United Methodist Church, die mitfühlend mit der Zunge schnalzten, Aufläufe, gebratenes Huhn, Maisbrot, Landschinken und genügend mit Käse überbackene Makkaroni vorbeibrachten, um eine Armee zu ernähren. Nicht, dass Mama die nachbarschaftlichen Gaben als Ausrede genutzt hätte, sich auszuruhen. Sie kochte wie eine Irre, bis der Deckel der Gefriertruhe protestierend ächzte, wenn man ihn zu schließen versuchte, und im Kühlschrank war kein Zentimeter Platz mehr frei. Wenn die Damen kamen, hielt sich Jake daran, unzählige Gläser Eistee einzuschenken und tat sein Bestes, den süßlichen Mitleidsbekundungen und den mitfühlenden Bemerkungen auszuweichen.

Gibt es ein Buch für all diesen Mist, den sie da ständig von sich geben? Denn ich schwöre, jede Einzelne von ihnen sagt genau dasselbe.

Natürlich war von Daddy weit und breit nichts zu sehen, wenn sie auftauchten. Er stieg in seinen Pick-up und fuhr zur Arbeit, ließ Jake bei seiner Mama zurück und behauptete, dass sie ihn brauchen würde.

Jake glaubte nicht, dass Mama überhaupt wusste, dass er da war.

Vorfall Nummer vier war eine brutale Erinnerung daran, dass es wirklich passiert war. Etwa eine Woche nach ihrem ersten Besuch tauchten die beiden Polizisten erneut auf, nur dass sie dieses Mal eine Box mitbrachten, die Calebs persönliche Sachen enthielt, die ihnen aus Georgia zugeschickt worden waren. Daddy quittierte den Empfang und als die Polizisten gegangen waren, stellte er die Box auf den Couchtisch und… starrte sie einfach nur an.

Als weder er noch Mama Anstalten machten, sie zu öffnen, nahm Jake die Sache selbst in die Hand. Nicht, dass da viel drin war. Keine Kleidung, abgesehen von einem Paar Sneakers, aber Jake hatte genug Serien gesehen, die in der Notaufnahme spielten, also hatte er das erwartet. Calebs Brieftasche und sein Schlüsselring waren da, zusammen mit ein paar Lederarmbändern und einer Goldkette. Einer der Schlüssel war eindeutig für Calebs Wohnung und Jake legte den Schlüsselring in eine Schublade.

Sie würden nach der Beerdigung genügend Zeit haben, sich Gedanken um Calebs Wohnung und den Rest seiner Sachen zu machen. Im Moment lag das Augenmerk allein auf der Beerdigung und je näher sie rückte, desto schmerzhafter wurde die Aussicht.

Vorfall Nummer fünf brachte sie alle an den Rand des Zusammenbruchs. Cliff Dawson vom Martin Wilson Funeral Home rief an. Jake konnte immer noch Cliffs Stimme hören, seine Art, leise zu sprechen, sah ihn immer noch nicken und eine Tasse samt Untertasse auf seinem Knie balancieren, während er versuchte, sich unauffällig Notizen zu machen. Was sie alle bis ins Mark traf, war die Tatsache, dass es ein geschlossener Sarg sein würde.

Der Ausdruck auf Mamas Gesicht, als Cliff ihr das sagte…

Diese Neuigkeit beschwor Bilder in Jakes Kopf herauf, über die er nicht nachdenken wollte, und gemessen an der Blässe und dem scharfen Einatmen seines Daddys war er nicht der Einzige, der damit Probleme hatte. Und als Mama das goldene Kreuz an ihrer Halskette umklammerte, die Augen weit aufgerissen, die Lippen leicht geöffnet, und das vertraute, stakkatoartige Geräusch erklang, als sie versuchte, genügend Sauerstoff in ihre Lungen zu zwingen, wollte Jake sich nur unter seiner Bettdecke zusammenrollen und die Welt ausschließen.

 

Natürlich hatte Cliff schnell das Thema gewechselt und war auf den Nachruf zu sprechen gekommen, der in der LaFollette Press, der Wochenzeitung des Campbell County, erscheinen sollte, die sowohl in Papierform als auch digital herausgegeben wurde. In dem Moment war Jake aufgestanden und hatte den Raum verlassen, denn er konnte es keine Sekunde länger ertragen.

Wann immer er an diese drei Wochen zurückdachte, fiel ihm der süße, berauschende Duft der vielen Blumensträuße und Gestecke ein, die überall im Haus herumstanden. Jake konnte nicht leugnen, dass die Leute sehr freundlich waren, und ihre Reaktionen auf Calebs Tod überwältigten ihn, aber er hätte all diese Vorfälle für eine einzige weitere Minute mit seinem Bruder eingetauscht.

Jake hielt, um seiner Eltern willen, seine Emotionen unter Verschluss und unterdrückte seine Trauer. Er konnte nicht vor ihnen zusammenbrechen, nicht, wenn sie selbst kurz davor waren. So wurde Jake zu dem Sohn, den sie brauchten, der, ohne Fragen zu stellen, alles tat, worum er gebeten wurde, der sie unterstützte und liebte.

Sie bekamen nicht den Jake zu sehen, der jeden Abend die Tür seines Schlafzimmers hinter sich schloss und in sein Kissen weinte, um das Geräusch zu dämpfen. Oder den Jake, der beim geringsten Anlass mit den Tränen kämpfte und sich schnell zurückziehen musste, bis er sich wieder unter Kontrolle hatte. Sie hatten keine Ahnung, wie oft Jake unter der Dusche schluchzte, da er wusste, dass sie ihn dort nicht hören konnten. Aber sich so fest im Griff zu haben, war etwas, das nicht auf Dauer funktionieren konnte.

Am Abend vor der Beerdigung stieß er an seine Grenzen.

Sobald er den Tisch abgeräumt hatte, griff Jake nach seinem Handy und schlich hinaus in den Garten. Die letzten Sonnenstrahlen leuchteten auf den Baumwipfeln und die Temperatur war so weit gesunken, dass er zitterte. Er ging zügig zu dem Zaun hinüber, der die Grundstücksgrenze markierte, und suchte in seinen Kontaktdaten nach Petes Nummer.

»Jake?« Pete klang nahezu zaghaft.

»Hey.« Jake hielt ein wachsames Auge auf die Veranda gerichtet, um sich zu vergewissern, dass seine Eltern immer noch im Haus waren.

»Hätte nicht erwartet, von dir zu hören. Dachte irgendwie, dass du dich momentan um jede Menge Scheiß kümmern musst.«

»Tja, also, ich hatte so viel Scheiß um die Ohren, dass es für ein ganzes Leben reicht, und ich werd irre. Haste heute Abend was vor?« Jake drückte sich selbst die Daumen.

Es gab eine Pause. »Na ja…«

»Lieber Himmel, das ist keine Fangfrage. Ich muss hier raus.« Er brauchte mehr als das, aber wie er Pete und seine Freunde kannte, würde für seine anderen Bedürfnisse gesorgt werden.

»Dan und ich gehen später zu Mike. Seine Eltern besuchen seine Oma und kommen erst morgen Nachmittag zurück.« In Petes Stimme schwang jetzt Zuversicht mit. »Mike hat was, das dir gefallen könnte.«

»Es sollte besser Alkohol oder Gras sein.« Momentan wäre beides okay.

»Wie hört sich eine Flasche Wodka für dich an?« Pete lachte. »Ja, ja, blöde Frage.«

»Wann?« Manche Fragen waren es nicht wert, beantwortet zu werden.

»Ich bin in einer Stunde dort, sobald ich meine Aufgaben hier erledigt hab. Dan trifft mich dort.« Nach einer kurzen Pause klang seine Stimme zögerlicher. »Bist du sicher, dass du –«

»Wir sehen uns dann in einer Stunde.« Jake legte auf. Er wollte es sich von Pete nicht ausreden lassen.

»Jacob?« Mama rief von der Veranda aus nach ihm.

Er wusste genau, warum. »Ich komm gleich rein und mach den Abwasch, Mama.« Er wollte ihr keinen Grund geben, später etwas dagegen sagen zu können, wenn er seine Absicht ankündigte, seine Freunde zu besuchen. Er fand, dass er eine Pause verdient hatte, nachdem er drei Wochen zu Hause festgesessen hatte. Darüber hinaus brauchte er ein Betäubungsmittel, um den Schmerz in seinem Inneren zu bekämpfen, und Alkohol war die perfekte Lösung.

***

Jake stellte seinen Pick-up in Mikes Einfahrt ab, direkt hinter Petes Honda, und als er die Hand nach der Türklingel ausstreckte, war Pete bereits da. »Hey. Dan kommt auch gleich.«

Jake schlug in ihrem üblichen Begrüßungsritual mit dem Handrücken gegen Petes, bevor er das Haus betrat. »Okay, wo ist der Alkohol?«, rief er.

Mike tauchte in der Tür zur Küche auf. »Mann, warum sagst nicht gleich der ganzen Nachbarschaft Bescheid, Arschloch? Die alte Hexe nebenan kann eine Maus aus sechs Metern Entfernung furzen hören. Wir wollen nicht, dass sie hier reinmarschiert, vor allem nicht, wenn sie weiß, dass meine Alten nicht da sind.« Er musterte Jake eingehend. »Du siehst scheiße aus.«

Jake verdrehte die Augen. »Tja, fuck, meinem Bruder wurde von einem außer Kontrolle geratenen Reifen der Kopf zerschmettert. Was denkst du, wie du das wegstecken würdest? Vielleicht könntest du nachts schlafen, aber ich? Jedes Mal, wenn ich die Augen schließe, stell ich mir vor, wie schlimm er aussehen muss, dass sie auf einem verfickten geschlossenen Sarg bestehen. Und wenn ihr nur Fragen über Cal stellen wollt, dann kann ich verfickt noch mal auch sofort wieder gehen.«

Mike starrte ihn mit offenem Mund an.

Pete schnaubte hinter Jake. »Beeindruckend. Drei Wochen nur in Gegenwart deiner Leute. Du musst alle Flüche direkt auf einmal loswerden, oder? Es dir von der Seele reden?«

Es dauerte einen Moment, den Humor in Petes Worten zu erkennen. Jake stieß den Atem aus. »Ich denke, sie sollten mir eine verdammte Medaille an die Brust heften, das denke ich. Drei Wochen, und mir ist nicht ein einziges Mal ein fuck über die Lippen gekommen.« Er seufzte und warf Mike einen entschuldigenden Blick zu. »Sorry, ich wollt es nicht an euch auslassen. Ich bin ein bisschen… empfindlich, wegen morgen, und überhaupt.«

Mike nickte, seine Miene war etwas weicher geworden. Er hielt ihm eine fast volle Flasche entgegen. »Dann brauchst du wahrscheinlich einen Schluck.«

Jake beruhigte sich ein wenig. »Du glaubst nicht, wie sehr.« Die Taubheit, die ihn seit jenem schrecklichen Tag eingehüllt hatte, ließ nach, und an ihre Stelle war ein Schmerz getreten, der seine scharfen Klauen in sein Fleisch krallte, sich durch sein Brustbein direkt in sein Herz bohrte. Er starrte Mike durchdringend an. »Haben wir nur die eine?« Denn so, wie er sich fühlte, würde eine Flasche nicht reichen.

Bei Weitem nicht.

Mike reichte ihm die Flasche und Jake öffnete sie, setzte sie an und trank zwei große Schlucke, bevor er heftig hustete und sie Mike zurückgab. »Wo hast du das Zeug her?«

»Aus dem Pick-up meines Dads geklaut, als er vom Schnapsladen zurückkam.« Mikes Augen funkelten. »Dachte mir, er hat so viel Alkohol gekauft, da würde ihm nicht auffallen, wenn eine Flasche fehlt. Hab sie unter meinem Bett versteckt. Nicht mal meine Mama ist mutig genug, da drunterzugucken.« Er gluckste. »Sie würde wahrscheinlich von tollwütigen Wollmäusen angegriffen werden.«

»Und was deine Frage angeht?« Pete hielt einen Joint hoch. »Wo der Wodka nicht ausreicht, hilft der hier.«

Jake hätte ihn küssen können. »Worauf warten wir dann noch? Lasst die Party beginnen.« Es war doch egal, wenn er hinterher stockbesoffen und total high war.

Alles war besser, als zu fühlen.

»Wenn ihr raucht, macht es draußen. Flaschen kann ich beseitigen. Aber den Geruch von Gras? Scheiße, nein. Meine Mama hat eine Nase wie ein Bluthund.« Mike schob sich an Pete vorbei, machte sich auf den Weg zur hinteren Veranda und reichte ihm die Flasche, als er an ihm vorbeiging. »Ich bring das Lagerfeuer in Gang, wir können uns davorsetzen.«

Pete grinste. »Und außerdem, wenn wir das erst mal intus haben? Wer wird da schon merken, wenn es kalt wird?«

Jake nickte. Das hat was. Und mit etwas Glück würde er einen so gewaltigen Kater haben, dass er sich später an kein einziges Detail des nächsten Tages erinnern würde.

Was exakt das war, was er erreichen wollte.