Read the book: «Blanchisserie oder Von Mäusen, Moder und Literatursalons»
Jurgis Kunčinas
Blanchisserie
oder
Von Mäusen, Moder und Literatursalons
Roman
Aus dem Litauischen von Berthold Forssman
ATHENA
Literatur aus Litauen
Band 12
Die Übersetzung dieses Buches wurde gefördert von »Bücher aus Litauen« mit Mitteln des Ministeriums für Kultur der Republik Litauen und dem Deutschen Übersetzerfonds e.V.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten
sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.
Die litauische Originalausgabe erschien 1997 bei Tyto alba, Vilnius unter dem Titel »Blanchisserie, arba Žvėrynas – Užupis. Romanas«.
E-Book-Ausgabe 2014
Copyright © 1997 by Jurgis Kunčinas
Copyright © der deutschen Ausgabe 2004 by ATHENA-Verlag,
Copyright © der E-Book-Ausgabe 2014 by ATHENA-Verlag,
Mellinghofer Straße 126, 46047 Oberhausen
www.athena-verlag.de
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat, Umschlagfotos: Katja Niehörster
Datenkonvertierung E-Book: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
ISBN (Print) 978-3-89896-196-7
ISBN (ePUB) 978-3-89896-856-0
Erster Teil: Glis, Glis
1
Ich saß in einem schäbigen Straßencafé in Žvėrynas. Die Pfützen reflektierten den fahlen Himmel, und in meiner Kaffeetasse spiegelte sich mein heiteres, jedoch von niemandem geliebtes Gesicht. Die Meise, die sich auf dem Plastiktisch niedergelassen hatte, wollte mir etwas vortragen, rutschte aber in einer Kaffeelache aus, stibitzte noch rasch ein Bröcklein Käse und schwirrte auf und davon.
Ich hatte vor, mich heute auf den Weg hinüber nach Užupis zu begeben, um dort für Nabė eine Höhle zum Überwintern aufzutreiben, das hatte ich ihr nämlich versprochen. Sie wollte eine billige, aber separate Wohnung, um dort ihre Gäste empfangen zu können, darunter manchmal auch mich. Ihr großer Traum war, einen legalen Literatursalon aufzuziehen – jetzt war ja alles legal! –, mit künstlerischen Darbietungen, echten Klageliedern, Blut und Tränen. Es würde verrückt, aber interessant werden, hatte sie gesagt. Ich hatte ihr kein Wort geglaubt, ihr jedoch versprochen, nach Užupis zu fahren. Dazu hatte ich alle Zeit der Welt, und natürlich würde ich nicht zu Fuß gehen. Ich hätte jetzt zwar mit der Obuslinie 3 bis zur Kathedrale fahren können, aber die Busse waren um diese Zeit noch brechend voll.
Tecka, der Bürgermeister von Žvėrynas, setzte sich zu mir an den Tisch, stürzte in zwei Zügen seinen Kaffee hinunter und eilte wieder davon, schaffte es aber in der kurzen Zeit noch, mir mitzuteilen, dass am Tag zuvor Ogoniokas hungers gestorben sei. Ich glaubte ihm: Vor nicht allzu langer Zeit war dieser noch an meinem Fenster erschienen und hatte mich gebeten, ein Buch von Gercen zu kaufen: »Das wird dir nützen!« Er war aufgedunsen und gelblich wie der Mond im Nebel gewesen, arbeiten konnte er nicht, stehlen kam auch nicht in Frage, und so war er gestorben, obwohl ich ihm ein halbes Brot und ein Stück gekochtes Rindfleisch gegeben hatte.
Aber nun war es höchste Zeit zu verschwinden: Čigonas war im Anmarsch, bestimmt würde er mich um einen halben Litas anpumpen. Und auf der anderen Straßenseite hing Golosačius herum, garantiert würde er mich fragen: »Wie wär’s mit ’nem Bier?« Ich musste noch nach Hause laufen und mir andere Schuhe anziehen, bei den vielen Pfützen! Und dann würde es wohl am einfachsten sein, gegenüber vom Zeitungskiosk auf den Bus der Linie 11 zu warten und an zahlreichen idiotischen Ampeln erst am Fluss entlang und dann an der St.-Anna-Kirche und an der Bernhardinerkirche vorbeizufahren, bis zu meinem Ziel, nach Užupis, dem Paradies des gepantschten »Royal« und des »Ameisenspiritus«, das Lieblingsgetränk der so genannten Kunstmenschen.
Vor meinem inneren Auge sehe ich mich schon auf diesem gewundenen Pfad: Auf der einen Seite steht die Akademiebibliothek, und durchs Busfenster fällt der Blick nicht nur auf ein Chinarestaurant, sondern auch auf das »Ei des Philosophen«, eine meisterhafte Plastik aus glatt poliertem Stein; der Künstler hat irgendwann zugegeben, dass nur die Rüstungsindustrie in der Lage sei, einen Labrador so abzuschleifen. Vielleicht sollte ich mich leicht davor verneigen, aber der Bus klappert und wackelt ständig, während er über die Kreuzungen im Herzen von Vilnius fährt, der Stadt des Gediminas. Auf dem Ungetüm von Fahrzeug steht, wo es herkommt: Es ist ein Geschenk der Stadt Oslo an unsere heruntergekommene Metropole. Man entsinne sich der vergleichenden Sprachwissenschaft, die Beschriftungen machen die Zugehörigkeit des Norwegischen zur germanischen Sprachgruppe deutlich: »Udgang« bedeutet das Gleiche wie deutsch »Ausgang«. Übrigens kann man in den Bussen, die uns die Deutschen geschenkt haben, gleich auch noch Griechisch und Türkisch lernen, die dortigen Gastarbeiter sollen schließlich wissen, wie hoch die Bußgelder in Deutschland sind! So viel zum Thema Sprachen und Sprachwissenschaft.
Indessen brennt es nirgends, und ich habe wirklich genug Zeit. Literatursalons können über Jahrzehnte hinweg schöpferisch tätig sein, aber man redet erst über sie, wenn definitiv der letzte ihrer Dichter das Zeitliche gesegnet hat. Ich werde das nicht mehr erleben, sie sind alle noch jung, und es besteht keine Veranlassung zur Eile. Also kümmere ich mich lieber um mein Hemd, das ich wieder in die Hose gestopft habe, und überlege, ob ich Triksė, genannt Grand Trix, anrufen soll und sie frage, was Mäusespeck auf Dänisch oder auf Norwegisch heißt, so etwas weiß sie bestimmt. Außerdem muss ich meine Hose zumachen, den Fensterladen fest schließen, die nicht vorhandenen Gänse füttern und frisches Wasser aus dem Brunnen holen. Da sind lebende Salamander drin, die die ergraute Pania »Jaszczericy« nennt, obwohl unter dem Grundwasserspiegel von Žvėrynas vermutlich eher irgendwelche Blutegel leben. Ich glaube, dass sie gesundem Denken nicht abträglich sind und vielleicht ganz nebenbei sogar helfen, den Blutdruck zu senken. Wie sie sich wohl vermehren?
Das kalte Wasser tut gut, besonders wenn man ein bisschen verkatert ist, und so wird es hoffentlich auch diesmal seine Wirkung tun. In dieser Hinsicht ist der Bus wirklich ein sicherer Ort, es gibt dort nicht einmal ein Büfett, allerdings bietet einem dort ab und zu jemand etwas an. Neulich war es die sympathische Dozentin Onega Mažgirdas; sie trinkt selbst nichts, schleppt aber immer eine Flasche Kräuterschnaps »Trejos devynerios« oder »Bittnerio balzamas« mit sich herum, und wer ganz lieb »bittebitte« sagt, bekommt einen Schluck, sogar Hoffnungsträger unter den Studenten wie Nabė oder Bul Bul.
Dann schiebe ich mich auch schon mit dem Bus Nr. 11 über die Brücke von Užupis, gleich beim »Tėvo kapas«, und da sehe ich mit eigenen Augen das Schild, das durch einige Schichten Putz fragmentarisch wieder zum Vorschein gekommen ist und mir noch zum Verhängnis werden soll. Man erkennt Bruchstücke älterer Inschriften: »Blanchisserie« * »Waschanstalt« * »Užin« * »Obed«[1], und da weiß man, dass man wirklich in Užupis ist.
Grau ist dieses Užupis und ärmlich, aber Kunstmenschen sind sensibel und haben eine lebhafte Phantasie, und so stellen sie sich vor, dass keine hundert Jahre mehr vergehen werden, bis … Lass gut sein, alter Knabe! Farbe gibt es in Užupis immer weniger, das Haus von Tula hat man in eine ungemütliche Werkstatt umgewandelt, die Leichenhalle ist in die Nordstadt verlegt worden, und die onkologischen Schlachthöfe heißen jetzt »Klinik zur Krebsvorsorge«. Trotzdem zieht es alle hierher, ich verstehe nicht ganz warum. Mir wird dieser Stadtteil immer fremder, und ich finde es ziemlich verlogen, wenn man um übel riechende Buden, um ödes, brachliegendes Gelände, das nur noch als Flohmarkt genutzt wird, oder um bankrotte Tante-Emma-Läden, Kaschemmen und nach Mäusen riechende Keller und Dachböden trauert. Alle Neuerungen wirken in diesem Užupis wie unheimliche Fremdkörper oder Prothesen, mehr als anderswo. Und umso heftiger jammern die Kunstmenschen, werden wütend und lutschen an dem süßlichen, feuchten Wort »Melancholie« wie an einer weichen Pflaume. Ach, immer dieser Dürer: Diesmal ähnelt er dem lockigen Künstler aus Bulgakovs Stück über Molière …
Dann kommen auch schon Haltestellen, Staub, Strumpfwirkereien und Friedhöfe, Dämmerungsimpressionen wie auf alten Fotografien von Jėzus M. Auf der Straße rollt sein »Wagen der Intelligenten« entlang, mit bis zum Straßenpflaster herunterhängenden Stangen und einem flink rennenden Schwein; alle wirken so, als bewegten sie sich und als seien sie in Eile … Blendend weiße Möwenscheiße auf den buckligen Steinen in der Vilnia, hat nicht irgendjemand gesagt, dass Tenöre sie äßen … Ständige Attribute von heimlichem Herzeleid und vermeintlicher Nostalgie, süße Hoffnungslosigkeit und heiße Blasen auf schwieliger Haut, von jungen Nesseln und von fettem Ungeziefer …
Wo blieb bloß dieser Bus?
Ob Ogoniokas wohl jemals in Užupis gewesen ist? Golosačius hatte ich dort schon einmal mit eigenen Augen gesehen, Maler sind eben mobiler als verhungernde Obdachlose oder Vagabunden, und er war sogar schon einmal im nördlichen Vorort Jeruzalė.
Der Bus war tatsächlich ein Geschenk der Stadt Oslo, noch glänzend, würdig und mit ledernen Schlingen zum Festklammern für angetrunkene Fahrgäste; solche Schlingen waren fast die einzige Erinnerung, die mein Vater noch an die Straßenbahn aus seiner Zeit in Petrograd hatte, dann war er nach Litauen zurückgekehrt. Ich setzte mich auf einen Platz an der Tür und bemerkte sofort, dass ich einen meiner Baumwollsocken verkehrt herum trug. Ich ließ mich dadurch nicht aus der Ruhe bringen, aber weil ich die Zeit sinnvoll nutzen wollte, zog ich einen meiner noch ganz weißen italienischen Turnschuhe aus, legte ihn auf den freien Sitz neben mir und machte mich daran, den Socken richtig herum zu wenden.
Man sagt, dass verdrehte Kleider, also auch Socken, kein gutes Zeichen sind, es bedeutet nämlich, dass man sich betrinken wird! Ich verspürte zu diesem Zeitpunkt keinerlei Sehnsucht, mich voll laufen zu lassen, und neben mir waren weder Onega Mažgirdas mit ihrer Halbliterflasche Schnaps zu sehen noch šarūnas Dickas, der inoffizielle Bürgermeister von Užupis, der immer einen Flachmann mit reinem Bourbon bei sich hatte. Während ich also den Strumpf umstülpte, dachte ich voller Herzeleid an dich, Nabė: Wie viele meiner kaum abgetragenen Strümpfe hatte ich dir geschenkt, und du zogst sie kaum an! »Eine Bakkalaureatin der Künste mit blau gefrorenen Waden«, so nannte dich ein feister junger Poet mit einem knotigen Stock. Ein Poet ist ein Kritiker, »reine« Poeten gibt es doch nicht, oder? Du bist die einzige »reine« Poetin, Nabė, das sage ich ganz im Ernst: Die anderen widmen sich auch anderen Genres, nur du nicht, und darum musst du leiden.
Gerade als ich mir diesen Strumpf auf meinen schönen Spann gestreift hatte, hielt der Bus auch schon an, geräuscharm, wie es nur die norwegischen Fahrzeuge können, die breiten Türen gingen auf, und die graue, zerlumpte, dumme Person, die neben mir stand, behängt mit vielleicht sechs Tüten voller Plunder, erwischte überraschend meinen Schuh. Er schoss hinaus wie eine Kugel, und ich sprang hinterher, aber genau in diesem Augenblick fuhr der Bus auch schon wieder an, so dass ich mit der Stirn auf dem Gehsteig aus Piłsudskis Zeiten aufschlug.
»Du bist ja voller Blut«, hätte Golosačius bestimmt entzückt ausgerufen, und durch den rötlichen Dunst erblickte ich noch eine hysterisch kichernde Alte hinter dem Denkmal, das der Heldentat von Mieczysław Dordzik gewidmet war. Eine Polin, geschickt und flink wie eine junge Katze, vielleicht die letzte echte Polin in ganz Vilnius. Eine Polin, was sonst. »Psiakrew!«[2] rief sie mir von ferne zu und streckte mir ihre gespaltene Zunge entgegen, obwohl das Blut, das von meiner Stirn herabtropfte, von mir stammte, einem nur mäßig verrückten Menschen, und nicht von einem tollwütigen Hund.
Und so stand ich nun barfuß auf der kleinen Wiese neben der Kirche der jungfräulichen Mutter Gottes; den zweiten Turnschuh schleuderte ich in Richtung Dordzik und »Tėvo kapas«, die Strümpfe schmiss ich in den Müll, verschenken kam nicht mehr in Frage. Das sind Überreste der allgemeinen Konventionen: Im Sommer barfuß in der Stadt herumzulaufen, ist eigentlich etwas ganz Normales, aber seine Strümpfe auf dem Gehsteig durchzuwetzen, gilt als verrückt. Und so begab ich mich in den Sereikiškių parkas, um ein Bier zu trinken.
Am Flussufer liefen ehrwürdige Künstler mit Filzhüten umher, riefen nach ihren Hunden und wechselten ab und zu ein Wort miteinander, obwohl alles schon längst gesagt war; auf meine freundlichen Grußworte reagierten sie mit Gleichgültigkeit. Auf der zweiten kleinen Brücke stand Marija Lelešiūtė, genannt Bul Bul, in weiten geblümten Hosen und machte mit einem Strohhalm schöne Seifenblasen. Als sie mich bemerkte, lief sie knallrot an und versuchte, mich zu ignorieren, aber ich sprach sie als Erster an, streichelte ihren warmen Körper und schlug vor, zusammen ein Bier trinken zu gehen.
»Warum sind Sie barfuß? Warum bluten Sie?«, fragte Bul Bul und sagte dann: »Ich will überhaupt kein Bier, ich will es.« Bul Bul wollte es, aber sie hielt sich an die Konventionen: Es war ihr peinlich, mit einem barfuß einherlaufenden, blutbefleckten Mann im Sereikiškių parkas gesehen zu werden, wo es nur so von Dozenten, Magistern, Bakkalaureaten und Künstlern samt Hunden und Kindern wimmelte. Nicht nur meine Stirn war blutig, sondern auch mein Hemd und meine beigen Hosen. Vermutlich war es schlauer, mit Bul Bul in die erwähnte »Blanchisserie« abzuziehen und ein »Obed« oder ein »Užin« zu essen. Wir würden uns aussprechen, Sauerkraut schmatzen, jeder ein Glas Schnaps herunterkippen und die Nacht zusammen verbringen. Aber Bul Bul schüttelte den Kopf: Morgen hatte sie eine Prüfung bei Onega Mažgirdas. Wahrscheinlich sah ich nicht besonders aus, und vermutlich hielten mich alle für einen Säufer, wofür sonst? Das wäre übrigens auch mein Eindruck von mir gewesen, barfuß und blutig, wie ich war. Und vielleicht war ich noch nicht ganz besoffen, aber bis es so weit war, würde auch nicht mehr viel Zeit vergehen!
Fräulein Bul Bul machte ihre letzte Seifenblase, flüsterte ihr »ich will es, und zwar sofort«, ganz wie in einem Werbeclip, behandelte aber als Erstes meine Wunde mit reichlich Jodlösung und legte mir einen grünen Verband um die Stirn. Wie so viele Frauen schleppte sie wirklich alles Mögliche mit sich herum: Seife, Verbandszeug, Jod und Strohhalme … Die Jodflecken, die durch den Verband durchgesickert waren, bezeichnete sie als chinesische Hieroglyphen. Diese Schriftzeichen hätten dir auch gefallen, Nabė, das weiß ich, aber Onega hätte zum Beispiel nur geschnaubt: »Das geschieht dir recht, das geschieht dir recht«, und Dolores Lust hätte gesagt: »Säufer, Säufer«; sie sind eben Damen. Du weißt doch, Nabė, die eine ist Dozentin und Ex-Poetin, die andere ist sogar eine Schottin. Beide wurden zu spät gebärenden Müttern ehelicher Kinder, und jetzt schmierten sie weder Abhandlungen zusammen noch bliesen sie Dudelsack.
»Irgendwann wird jemand auch in Bul Bul seinen Strohhalm stecken und ihren Bauch rund wie eine Seifenblase werden lassen, stimmt’s, Fräulein Bul Bul?«
»Nein«, antwortete sie, »ich kann Kinder nicht ausstehen, und wir werden nie zusammen welche haben. Kinder machen Pipi, Kacka, stinken, und später nehmen sie Drogen. Und ich werde als Diplomphilologin nie genug verdienen, um mir Kinder leisten zu können. Du gefällst mir blutig. Sie«, verbesserte sie sich. »Sie wirken so kriegerisch, wie ein Schwerverletzter. Ich liebe Verletzte, und ich will es ganz dringend …«
Wir legten uns ins dichte Gras, ganz nah ans Wasser. Ich streichelte träge Bul Buls dunkle Schenkel unter den geblümten Hosen und ihr kaum helleres Gesäß, und als ich zufällig den Blick zum Ufer erhob, sah ich dort niemand anders als die bereits erwähnte Dozentin Onega Mažgirdas, eine der vier berühmtesten Feministinnen des unabhängigen Litauens.[3] Onega stand mit offenem Mund da, drehte den Kinderwagen mit dem kleinen Ipolitas zur Seite und verdeckte mit der Hand die Augen der fünfjährigen Diana, die gerade einer jungen Ratte nachstellte. Bul Bul bemerkte nichts von alledem, sondern stöhnte, räkelte sich und gab dann ganz unerwartet einen spitzen Schrei von sich. Das war zu viel gewesen! Onega kreischte, hob einen Stein vom Weg auf, groß wie Ipolitas’ Faust, nahm mit einer männlichen Geste Schwung und schleuderte den Kiesel auf mich, traf stattdessen aber ihre beste Studentin. Es war keineswegs so, dass Onega nun auf einmal den Verstand verloren hatte, sondern sie war ehrlich davon überzeugt, dass sie ihre Studenten wie ihre eigenen Kinder züchtigen durfte, notfalls sogar mit einem Stein!
Bul Buls Backe wurde dick, und ihr Auge schwoll an, aber sie hielt nicht auch noch ihre linke Wange hin. Flink wie ein Wiesel sprang sie die niedrige Uferböschung hinauf, um sich für die ihr zugefügte Kränkung zu rächen, und ich erwischte nur noch ihre Hose. Bul Bul trug keinen Gürtel, und der Hosenbund bestand bloß aus einem breiten Gummizug, und so blieben all die Blumen in meiner Hand zurück. Nur mit einem himmelblauen Höschen bekleidet sprang Bul Bul auf ihre Dozentin zu und versetzte ihr mit der einen Faust einen gezielten, festen Schlag gegen den Kopf, mit der anderen Faust verpasste sie ihr einen Schlag in die Magengrube.
Onega knickte zusammen, und die Situation war hochgradig unerfreulich. Ipolitas gab einen scharfen, unnatürlichen Schrei von sich, wie ein Pfau – oder vielleicht war es doch seine echte Stimme? –, und Diana, die inzwischen ihre Ratte erjagt hatte, kreischte ebenfalls. Ich verhüllte mein Haupt mit den Rosen von Bul Buls Hose und hätte am liebsten geheult, vor Schande und vor Wut. Um die Dozentin kümmerten sich schon einige ihrer Kolleginnen, und der Dekan, der von irgendwoher aufgetaucht war, hielt eine strenge Strafpredigt. Warum, zum Teufel, hatte ich bloß diesen Bus der Linie 11 genommen, ich war doch auf der Suche nach einem Salon! Alles für dich, Nabė, alles nur für dich!
»Caramba!«, fluchte Bul Bul bei ihrer Rückkehr. Sie keuchte schwer, mit weiten Nüstern und feuchten Lippen. »Wissen Sie, es ist mir überhaupt nicht peinlich! Ich habe meine Prüfung schon erfolgreich bestanden. Und ich will es, hast du das kapiert?« Plötzlich duzte sie mich.
Onega war selbst schuld. Da lag sie nun mit einer blutigen Nase unter einem kanadischen Ahorn im Sereikiškių parkas, umringt von Kollegen und Gaffern, aber ich hatte diese Kojotin nicht auf sie gehetzt. Mochte sie ruhig wütend oder zornig sein, ich watete schon mit Bul Bul durch die Vilnia und verschwand mit ihr in der Drakonas-Schlucht, dem Ort, wo in den tragischen Zeiten der Anti-Alkohol-Kampagne all die Künstler heimlich umhergetorkelt waren, die jetzt in hellen Scharen nach Užupis strömten: Barden, Jazzmusiker, Toulouse-Lautrecs und die künftigen Lehrer von Nabė.
Wie gut, dass Onega nicht mit ansehen musste, wie Marija Bul Bul durch die Wellen watete, während am Himmel die »Drei Kreuze« weiß schimmerten! Sie watete, nur bekleidet mit hochgekrempelten Trousers, es war meine Schuld, dass sie dieses Trikotageprodukt so nannte. Hoffentlich war die tugendhafte Onega nicht auch noch wütend auf mich! Bestimmt würde sie ein entsetztes Gesicht machen, würde sie sehen, wie auch ich in meiner beigen Hose durch das Wasser watete und wie sich unsere Hände und Füße ineinander verschränkten. Oder bei der Vorstellung, wie ihre Kojotin gleich noch heulen würde, immerhin hatte sie soeben noch eine Prüfung bestanden!
Bul Bul beruhigte sich endlich, räkelte sich auf dem Kies, wetzte ihre scharfen Krallen an einem Stein und sagte: »Wenn es nicht regnet, bin ich in ein paar Stunden wieder da. Ich ziehe jetzt los und kaufe eine Pistole. Besorgen Sie in der Zwischenzeit Bier.« Und sie lief mit wiegendem Körper und geblümtem Po zu den Tennisplätzen hinüber, wo die Bälle knallten: Dickas, der Bürgermeister von Užupis, spielte eine schicksalhafte Partie gegen Tecka, den Bürgermeister von Žvėrynas, zwei Bürgermeister, zwei Welten. Es war unwichtig, wer gewinnen würde, das Gelage, die Schlägerei und die anschließende Versöhnung würden alle wie nach einem ungeschriebenen Protokoll ablaufen. »Alles wie nach alter Väter Sitte«, sagte ich mir.
Die Sonne stand bereits im Westen, und ich hatte es nicht bis Užupis geschafft. Nabė saß irgendwo zwischen Phlox, Geranien und Feigenbäumen und schrieb ihre »Lyrik mit Ornamenten« über diverse Nichtigkeiten und meinen nepalesischen Pullover, und ich hatte keinen Salon aufgetrieben. Vielleicht sollte ich mit den Bürgermeistern sprechen? Insgesamt betrachtet war alles so, wie es sein sollte.
Wenn Gottfried Benn behauptet, dass drei Liter des menschlichen Blutes in den Verdauungsapparat flössen und der vierte ins Geschlecht, dann hat er höchstwahrscheinlich Recht. Bul Bul hatte wieder einmal ihre kojotisch-irokesische Abstammung bewiesen, und Onega hatte der Mut gefehlt, die Rattenjägerin Diana als Frucht unserer Liebesnächte in Kasachstan anzuerkennen. Die Natur ist eine kapriziöse Frau: Onega, eine radikale Feministin, wäre wahrscheinlich sogar schwanger geworden, wenn sie am Frauenstrand geschmort hätte oder sich auf dem Flachdach ihres Plattenbaus ein schönes Libellenmännchen oder eine Drohne niedergelassen hätten, das hätte diese Hornisse von einer Magisterin nie und nimmer zugelassen, oh nein!
Was für ein Tag: der verlorene Turnschuh, die geheimnisvoll kichernde Polin, die himmelblauen Höschen von Bul Bul, die jetzt an den Zweigen eines Holzapfelbaums in der Drakonas-Schlucht flatterten, der Weiberringkampf im Angesicht der akademischen Scharen, der weißliche Tropfen Sperma zwischen Irokesenschenkeln … Apropos Bul Bul, würde ihr wirklich jemand eine Pistole verkaufen? Was für eine schreckliche Dramaturgie, was für ein Mysterium unter dem Augustvollmond und wie viele unterdrückte Zitate!
Ich kroch aus der Drakonas-Schlucht hervor und legte mich auf den dunkelgelben Sand; zuerst krochen die Ameisen über mich, und als ich einschlief auch die Menschen. Hier verlief ihr Lebenspfad, für den einen nach Hause, für den anderen ins Grab. Schließlich stolperte ein dicker Mann über mich, plumpste mitten in den Ameisenhaufen und weckte mich natürlich auf. Ich rollte mich ein bisschen zur Seite, setzte mich auf und fragte nicht unfreundlich: »Was sollte das denn?«
»Tschuldigung«, entgegnete der Dicke mit echtem Bedauern und blieb auf dem Lebenspfad sitzen. »Tut mir wirklich Leid. Mein Name ist Lelešius.«
»Wie interessant!«, rief ich aus. »Der Name ist selten. Woher stammen Sie?«
»Aus Kazlų Rūda«, sagte Lelešius. Aus irgendeinem Grund klang er erfreut. »Vielleicht waren Sie schon einmal dort?« Er versuchte um jeden Preis, das Gespräch in angenehmere Bahnen zu lenken.
»Nein«, erwiderte ich, »noch nie. Ich bin noch nicht einmal vorbeigefahren. Ich hatte dort noch nie etwas verloren.«
»Kommen Sie mal zu Besuch«, bat mich Lelešius und sah mir wehmütig in die Augen. »Ich habe dort ein kleines Haus mit Garten und ein paar Bienen. Wir könnten Ausflüge nach Jūrė oder nach Vinčai machen.«
»Was?« Ich war ehrlich erstaunt. »Wieso nach Vinčai? Wieso nach Jurė?«
»Warum nicht?«, sagte Lelešius mit einem schelmischen Lächeln. »Sie würden es nicht bereuen. Besonders Jūrė lohnt sich … Wissen Sie was? Ich habe hier in Vilnius eine Tochter. Marija. Sie ist Studentin, ich suche eine Wohnung für sie. Vielleicht können Sie mir eine empfehlen? Sie darf aber nicht zu teuer sein.«
»Leider nein«, antwortete ich und spitzte die Ohren. »Eine Wohnung! Jetzt suchen doch alle, wir haben bald September.«
»Ihr Spitzname ist Bul Bul«, geriet Lelešius unaufgefordert ins Erzählen. »Sie soll sich hier irgendwo herumtreiben, habe ich gehört …«
Jetzt fiel mir plötzlich ein, dass sich die erschöpfte Bul Bul einmal damit gebrüstet hatte, dass sie aus Rūda stamme, oder vielleicht auch aus Kazlai. Und sie hatte auch gesummt: »Fahren wir irgendwann dahin, hm? Es gibt dort weder Kassler noch Ruder, also, los geht’s.«
»Ich kenne Ihr Töchterlein«, gestand ich. »Gerade eben war ich noch mit ihr in der Drakonas-Schlucht und …«
»Sie brauchen nichts mehr zu sagen, schweigen Sie!« Der Dicke fuchtelte mit seinen kurzen Ärmchen. »Ich weiß alles! Sie ist so, seit sie dreizehn ist. Sie hat schon ihre Mutti und ihre Stiefmutti ins Grab gebracht, was für eine Schande!«
»Und das wird sie auch mit Ihnen tun«, prophezeite ich ohne jede Bissigkeit oder Rachegelüste.
»Ich weiß«, nickte Lelešius traurig. »Aber was soll ich machen, was schlagen Sie vor? Als sie noch kleiner war, haben wir ihr die Muschi rasiert und mit Desinfektionsmittel eingeschmiert, aber es hat alles nichts genützt. Das ist das Blut, was soll ich machen?«
»Ich rede mit Onega Mažgirdas, ihrer Betreuerin«, versprach ich aus irgendeinem Grund. »Na ja, das heißt, vorhin hatten die beiden noch eine Auseinandersetzung, aber sie werden sich schon wieder vertragen. Und ins Grab bringt sie Sie nicht so schnell, eher langsam. Im Afrikanerschritt.«
»Wie bitte? In was für einem Schritt?«, fragte der Mensch aus Rūda besorgt.
»Langsam. So wie die Afrikaner Säcke tragen.«
»Woher wissen Sie das?«
»Ach«, winkte ich ab, »ist doch nicht so wichtig. Ich suche übrigens auch eine Wohnung für jemand. Nein, keine Wohnung, einen Salon. Hören Sie mal her, Lelešius, wie alt sind Sie?«
»Schon siebenundfünfzig.«
»Da haben wir es. Und gehe ich recht in der Annahme, dass Sie noch etwas ganz Bestimmtes vorhaben? Oder warum wollen Sie dann in dieses Jūrė oder nach Vinčai, hm?«
Ich hatte ins Schwarze getroffen. Lelešius wurde knallrot, genau wie Marija Bul Bul Lelešiūtė.
»Und seien Sie bitte nicht beleidigt, Lelešius, aber gab es in Ihrer Sippe vielleicht auch mal Juden, Karäer oder gar Tataren?«, erkundigte ich mich diskret. »Erzählen Sie es mir.«
Lelešius lächelte mit mädchenhafter Liebenswürdigkeit, erhob sich und winkte mir, ihm zu folgen. Nicht weit, nur bis zu einem Tisch mit einer Bank davor, die beide schon ganz schwarz und rissig waren. Hier knöpfte er seine billige Reisetasche auf und zog ein Stück Schinken, Tomaten, Schwarzbrot und eine Flasche Schnaps hervor. Er schnitt das Brot und die Tomaten in Scheiben, holte dann ein Trinkglas heraus, seinen Worten nach war es aus Neusilber, goss sich ein und trank mit Wohlbehagen. Dann schenkte er auch mir bis zum Rand ein, kaute ab und zu an dem Schweinefleisch herum und beantwortete ausführlich meine Fragen. »Aber nein«, sagte der siebenundfünfzigjährige Kavalier, der Vater der verrückten Marija, »so weit ich weiß, gab es keine, nicht einmal Zigeuner. Aber wer weiß, vielleicht hat mir irgendein Vorfahr einen Bären aufgebunden? Und wahrscheinlich stammen die Litauer sowieso von den Indern ab.« Er trank noch ein Glas, hielt kurz inne und überraschte mich dann mit seinem Wissen. »Sie haben doch sicher schon von Baltistan[4] gehört? Natürlich haben Sie davon gehört«, bekräftigte er. »Sie wirken gebildet.«
Gebildet! Irgendwann hatte mich eine unglaublich vollbusige Schneiderin »gebildet« genannt, in Drebulynas, nicht weit von einer Nähfabrik. »Wie gebildet du bist, wie gebildet du bist«, hatte sie gekeucht und mich rhythmisch gegen die schlüpfrigen Blätter gedrückt, »oh, wie gebildet!« Jetzt wurde ich zum zweiten Mal in meinem ganzen Leben so genannt. Erst zwei Menschen hatten mir so geschmeichelt, jene vollbusige Schneiderin und jetzt Lelešius aus Suvalkija.
»Ich habe mich nie für meinen Namen geschämt«, sagte dieser im Brustton der Überzeugung. »Wissen Sie, was Lelešius bedeutet? Vielleicht wissen Sie es nicht, obwohl Sie gebildet sind. Es ist kein besonders erfreulicher Name, aber ich erzähle es Ihnen. Doch zuerst prost!«
»Prost, Herr Lelešius! Was bedeutet Ihr Name denn?«
»Ich erzähle es Ihnen ja schon. Lelieša bezeichnet im Dialekt von Suvalkija ein Übel in den Eingeweiden, vielleicht sogar ein Geschwür.«
»Krebs«, sagte jemand leise hinter uns. »Hallo.«
Bei Gott, Nabė, es ist nicht meine Schuld, dass ich an diesem Tag keinen Salon für deine Clique gefunden habe! Irgendwie hatten heute alle nichts Besseres zu tun, als mich aufzuhalten, auch Lelešius, der auf dem Ameisenpfad über mich gestolpert war. Dieser Mensch war schon auf dem Weg ins Grab, träumte aber noch davon, im Afrikanerschritt nach Vinčai oder nach Jūrė zu kommen. Und da kam auch schon Bul Bul zurück! »Krebs«, wiederholte sie und setzte sich auf die Bank. »Die Schurken haben mir keine verkauft!« Lelešius kapierte gar nichts, aber ich: Bul Bul war unbewaffnet.
Wir saßen gemütlich zu dritt am Fuß des Berges, Bul Bul, ihr Väterchen und ich, obwohl ich barfuß war und eine aufgeschlagene Stirn hatte. »Fahren wir gleich los«, forderte Lelešius uns auf. »Es ist gerade Apfelsaison, und es gibt Pflaumen, groß wie Puteneneier. Ich schlachte einen Hahn und zeige euch die Lämmer.«
»Fahren wir«, stimmte Marija Lelešiūtė zu. »Ich mixe uns Cocktails, dann spielen wir Messerwerfen, und wenn Sie so wild darauf sind, können Sie mir meinetwegen noch ein Kind machen, Lelešius kann es dann mit Schafsmilch stillen. Die Onega hat das in Kazachstan so gemacht, damit hat sie sich sogar in einer Vorlesung gebrüstet. Wo ist das doch gleich wieder gewesen?«
»In irgendeinem Kaff auf atau«, brummte ich mürrisch. »Aber ich dachte, das sei ein Skorpion gewesen, von denen wimmelt es dort nur so.«
»Brechen wir endlich auf?«, fragte Lelešius wieder.
»Ich bin doch barfuß«, erinnerte ich ihn. »Aber wenn Sie mich schon so herzlich einladen … Also los, fahren wir!«
Wir schlugen uns quer durch die Stadt bis zur Schnellstraße nach Kaunas durch und bekamen sofort eine Mitfahrgelegenheit nach Garliava. Es war Marija, die einen Wagen zum Halten brachte: Sie streckte ihre Brust raus, grinste von einem braunroten Ohr bis zum anderen, und als dann ein Fahrer stehen blieb, sprangen Lelešius und ich aus dem Gebüsch hervor.