Konstruktive Rhetorik in Seminar, Hörsaal und online

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Konstruktive Rhetorik in Seminar, Hörsaal und online
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utb 5550

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Dr. Jürg Häusermann ist emeritierter Professor für Medienwissenschaft an der Universität Tübingen. Er hat über vierzig Jahre Erfahrung in der Rhetorik-Ausbildung an Hochschulen, Fortbildungseinrichtungen und Medienanstalten.

Jürg Häusermann

Konstruktive Rhetorik in Seminar, Hörsaal und online

Sprache, Stimme, Körpersprache

und Medien gelassen einsetzen


Umschlagabbildung: © RapidEye · iStock

Autorenbild: © Hannah Barnekow

Illustrationen im Buch: Belege in den Endnoten, Strichzeichnungen © Jürg Häusermann, Tübingen

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

1. Auflage 2021

© UVK Verlag 2021

– ein Unternehmen der Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG

Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Internet: www.narr.de

eMail: info@narr.de

Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart

CPI books GmbH, Leck

utb-Nr. 5550

ISBN 978-3-8252-5550-3 (Print)

ISBN 978-3-8385-5550-8 (ePDF)

ISBN 978-3-8463-5550-3 (ePub)

Gender-Hinweis

Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird bei Personenbezeichnungen zwischen der männlichen und der weiblichen Form abgewechselt.

Leserinnen und Leser sind gleichermaßen angesprochen.

für Bärbel

Inhalt

Vorwort | Keine Show!

1Reden vor Publikum: Was wird anders?

2Vom Monolog zum Dialog

3Die erste Herausforderung: der gemeinsame Raum

4Der Online-Vortrag ist eine Einladung

5Vertraue deiner Körpersprache!

6Körpersprache online: mehr als nur Blickkontakt

7Klar und lebendig durch Melodie und Rhythmus

8Neue Impulse beleben die Sprechweise

9Sprecherische Gestaltung: Regeln und Mikro-Tipps

10Wege zu einem verständlichen Stil

11Sag’s attraktiver!

12Der Aufbau unterstützt den Dialog

13Argumentation lädt zum Mitdenken ein

14Dialog durch Fragen und Antworten

15Das Interview als Alternative zum Vortrag

16Visualisieren und trotzdem präsent bleiben

17Medien und Requisiten beim Online-Vortrag

Anhang

Weiterführende Literatur

Endnoten

Personen und Stichwörter

Vorwort

Reden könnte so einfach sein. Reden ist eine alltägliche Tätigkeit, mit der wir das Leben meistern. Wir fragen „Wie geht’s?“, wir bestellen Kaffee, wir führen Selbstgespräche – und oft ist nicht viel Überlegung dabei. Aber wenn es gilt, sich vor eine Gruppe zu stellen und einen kurzen Vortrag zu halten oder über die Kamera des Computers Menschen zu erreichen, ist anscheinend alles anders.1 Viele empfinden das Reden zu einem Publikum als eine einsame Tätigkeit. Sie glauben, sie seien zu einem ununterbrochenen, kunstvollen Redefluss verpflichtet, zum perfekten Monolog. Das ist kein Wunder, denn die Idealbilder, die uns für das öffentliche Reden präsentiert werden, sind Bilder von Menschen, die sich vor einer Menschenmenge postiert haben und dieser eine brillante Performance bieten. Barack Obama, Winston Churchill, Helmut Schmidt, Hape Kerkeling, Charles de Gaulle, Martin Luther King: Redner (und es sind wirklich zum größten Teil Männer2), die einen geschliffenen Text sprechen können, den die Öffentlichkeit bewundernd abnickt und den man später in Sammelbänden abdruckt.

Solche Redner imitieren zu wollen, setzt unnötig hohe Hürden. Denn von Menschen, die einen Vortrag halten müssen, wird etwas anderes erwartet als von Schauspielerinnen oder politischen Führern. Sie müssen keine Rolle einstudieren und keine makellose Vorführung präsentieren. Sie müssen informieren. Sie haben etwas Eigenes mitzuteilen, und ihr Publikum ist an der Information interessierter als an der Form. Dafür taugt auch der populäre Volksredner von Cicero bis Obama nicht zum Vorbild, der einen ausgefeilten Text wiedergibt und den mit einer Erfahrung von Jahrzehnten des Redens und des Redetrainings zelebriert. Und es braucht nicht das Ideal der Rede, die angeblich mit der Macht des Wortes eine Menschenmenge zu manipulieren vermag.

Nein, dem nachzueifern, macht kaum Sinn, wenn man in einem normalen Beruf, im Studium oder in der Freizeit zu anderen reden soll. Wer bei einem Online-Seminar einen Vortrag hält, wer in der Kirche einen Bibelvers auslegt oder eine Gruppe von Kunden durch die Werkstatt führt, braucht nicht Tipps für den tadellosen Auftritt, sondern etwas viel Einfacheres: eine Anleitung dazu, mit den Menschen in den Dialog zu treten. Das bedeutet Gelassenheit statt Leistungsdruck, Persönlichkeit statt Perfektion, Verständigung statt Überredung.

Dieses Buch wendet sich an Menschen, die ihre Sache verständlich rüberbringen wollen – so, dass man ihnen motiviert zuhört und bereit ist, mitzudenken. Ausgangspunkt dafür ist die Schwelle, die offensichtlich da ist, die Schwelle vom ungezwungenen Reden im Alltag zum Reden vor Publikum.

Mit diesem Übergang vom nicht-öffentlichen zum öffentlichen Reden verändern sich die Rahmenbedingungen des Redens und es stellen sich besondere Anforderungen an das sprachliche, sprecherische und körpersprachliche Verhalten. Aber nur scheinbar ist es auch ein Übergang vom Dialog zum Monolog. Im Gegenteil: Das Ziel ist Verständigung, und diese gelingt am besten, wenn auch die öffentliche Rede möglichst viel Dialogisches enthält. Die Rednerin, der Redner, aber auch die Zuhörerinnen und Zuhörer profitieren davon. Wie auch im Alltag ist der Grundgedanke, dass das Ziel gemeinsam erreicht werden soll.

Das soll dieses Buch zeigen: dass Reden als Dialog aufgefasst und mit dialogischen Mitteln angegangen werden kann. Dies erleichtert nicht nur dem Redner oder der Rednerin die Aufgabe, sondern macht auch die Menschen im Publikum von passiven Empfängern der Botschaft zu Gesprächspartnern.

Voraussetzung ist, zu erkennen, wie sich nicht-öffentliches und öffentliches Reden unterscheiden und wie eine dialogische Haltung auch in die öffentliche Rede übernommen werden kann. Die Beispiele und Tipps beginnen beim Umgang mit dem Raum: mit der Überwindung der Distanz zum Publikum. Dies führt zu den Themen Körpersprache und Akustik. Darauf folgen die Kapitel, die zeigen, wie man die passenden Worte findet und mit klassischen und neuen Medien visualisiert.

 

Extras

Der Anhang enthält Vorschläge für die Gestaltung von Seminaren mit einer Reihe bewährter Übungen für das Reden vor Gruppen in Präsenz und online.

Dieses Buch ist entstanden, als die Corona-Pandemie viele von uns zwang, Präsenzveranstaltungen ins Netz zu übertragen. Es fußt auf Erfahrungen der Online-Rhetorik, wie sie sich mit den sozialen Medien und den Werkzeugen der digitalen Lehre entwickelt hat. Es nimmt aber auch – in überarbeiteter Form – Grundgedanken und bewährte Inhalte aus dem Buch Konstruktive Rhetorik von 2019 auf.

Die Regeln und Tipps richten sich an alle, die in irgendeiner Form mündlich informieren müssen, und natürlich auch an Lehrende, die das Halten von Vorträgen als Schlüsselkompetenz vermitteln. An sie wenden sich besonders auch die praxiserprobten Seminar- und Übungsvorschläge. Allen aber wünsche ich, dass ihnen die dialogische Ausrichtung des Buchs eine Hilfe ist und dass sie beim Lehren und Lernen auch den spielerischen Aspekt des Redetrainings entdecken.

1Reden vor Publikum: Was wird anders?

Luisa Neubauer, die Geografie-Studentin und Klimaschutz-Aktivistin, steht auf der Bühne. Am Rand des Berliner Invalidenparks spricht sie zu mehreren tausend Menschen, die sich zum internationalen Klimastreik versammelt haben. Sie steht aufrecht, während sie sagt: „Wir sind vernetzter als je zuvor, wir sind globaler als je zuvor, wir werden den Leuten so lange auf die Nerven gehen, bis sie begreifen, dass sie an der Reihe sind, was zu tun.“ Es sind klare, plakative Sätze, und einige davon hämmert sie den Zuhörenden richtiggehend ein: „Wir sind die Generation, die das schaffen kann!“ Jede der unterstrichenen Silben betont sie und dazu schlägt sie mit beiden Armen den Takt. „Wir sind diejenigen, die das schaffen müssen, und wir werden das schaffen.“3


1 | Die Rednerin auf der Bühne.

Die einprägsamen Formulierungen, die starken Betonungen, die rhythmischen Armbewegungen: das ist die „öffentliche“ Luisa. Sie formuliert mit fester Stimme klare Botschaften in kurzen, vollständigen Sätzen.

Eine Fernseh-Doku zeigt sie aber auch im Gespräch mit ihren Freunden. Man sieht sie bei der Planung einer Aktion, beim Diskutieren persönlicher Probleme oder beim Entspannen nach einem anstrengenden Tag. Da ist keine Bühne mehr; sie stehen nahe beieinander. Luisas Stimme klingt mal kräftiger, mal zurückhaltend. Sie braucht nicht immer vollständige Sätze zu machen und lässt sich auch unterbrechen oder fragt nach. Dazu steht, sitzt oder liegt sie, geht durch den Raum. Manchmal schaut sie aufs Handy, gelegentlich führt sie ihre Hände zum Mund oder stützt ihr Kinn auf, um nur zuzuhören.


2 | Gespräch unter Freunden: geringe Distanz.

Das sind zwei Bilder von ein und derselben jungen Frau, einmal bei der öffentlichen Rede vor Publikum und einmal im Gespräch mit Vertrauten. Ansprache im Kontrast zu Zwiesprache. Sie illustrieren die drastischen Unterschiede, die sich da ergeben können. Auch wenn das Ziel nicht in einer Kampfrede besteht, ist es dennoch wichtig zu wissen, unter welchen Bedingungen sich die öffentliche Rede entwickelt hat. Es hilft, zu erkennen, wie man mit diesen Vorgaben umgehen kann. Die nächsten Kapitel zeigen die wesentlichen Aspekte auf. Einige davon müssen respektiert werden, andere lassen sich durchaus ignorieren. Alle werden einfacher, wenn man sie mit einer dialogischen Haltung angeht.

Im Überblick sind dies die wichtigsten Merkmale öffentlicher Kommunikation:

»Drei Rollen: Die Beteiligten übernehmen unterschiedliche Aufgaben:

»eine Person trägt vor

»eine Gruppe hört zu

»ein Veranstalter schafft den Rahmen

»Mehr Raum: RednerIn und Publikum sitzen oder stehen einander in einer gewissen Entfernung gegenüber (Präsenzvortrag) – oder sie befinden sich in unterschiedlichen Räumen und sind durch ein elektronisches Medium verbunden (Online-Vortrag).

»Zeitliche Begrenzung: Wie lang eine Rede sein soll, ist von vornherein abgesprochen oder ergibt sich aus der Erfahrung.

»Einflüsse von Kultur und Gesellschaft: Für jeden Typ Rede gibt es Vorgaben, die von der Wahl des Ortes bis zur Kleidung gehen können.

»Redeziele und Redehandlungen: Eine Rede ist mit einem klaren Zweck verbunden, dem eine sprachliche Handlung zugeordnet werden kann.

»Planung: Jeder Rede geht eine längere oder kürzere inhaltliche und sprachliche Planung voraus.

»Sprache, Sprechen und Körpersprache ergeben sich als Produkt dieser Rahmenbedingungen.

Drei Rollen sind beteiligt: RednerIn, Publikum, Veranstalter

Die Dozentin und die Studierenden; der Vorgesetzte und die Mitarbeitenden; die Pfarrerin und die Gemeinde; der Influencer und die Follower usw.: Sobald eine öffentliche Rede angesagt ist, übernehmen die Beteiligten unterschiedliche Rollen. Die Rolle der Rednerin oder des Redners wird akzeptiert, weil die betreffende Person eine Kompetenz mitbringt, von der die anderen profitieren können, indem sie zuhören können. Das ist die grundlegende Spielregel der öffentlichen Rede.

Die Rednerin, der Redner

„Wenn einer spricht, müssen die andern zuhören – das ist deine Gelegenheit! Missbrauche sie.“4 Kurt Tucholskys Schlussworte zu seinen Ratschlägen für einen schlechten Redner sagen alles über die destruktive Wirkung der klassischen Rednerrolle. Sie stammen aus einer Zeit, in der der öffentliche Vortrag noch einen ganz anderen Stellenwert als heute hatte. Er war oft die direkte Begegnung mit einer Informationsquelle, zu der es keinen anderen Zugang gab. Man ging hin, um sich zu informieren oder überzeugen zu lassen, weil das der unmittelbarste Zugang zu kompetenten und aktuellen Informationen und Stellungnahmen war. Es gab keine Podcasts, keine YouTube-Kanäle, keine spezialisierten Fernsehangebote. Und das Radio, das noch keine zehn Jahre alt war, lieferte zu einem großen Teil genau dies: Vorträge von Fachleuten und Politikern.

Heute steht jeder Vortrag in Konkurrenz zu anderen aktuellen Medien. Das hat die Rolle nur wenig verändert, aber geblieben ist die Erwartung an eine kompetente Person, die sprechen wird. Gefragt ist ihre Sachkompetenz, aber auch ihre Perspektive: ihre Erfahrung als Fachperson, ihre Spezialität, die sie von anderen unterscheidet. Das ist Verpflichtung und Erleichterung zugleich. Es verpflichtet zu einer gut recherchierten inhaltlichen Darbietung. Und es erleichtert die Aufgabe, weil niemand im Saal das gewählte Thema besser kennt.

Die Rolle als Verpflichtung

Die Rolle der Rednerin oder des Redners ergibt sich aus der Kompetenz der vortragenden Person. Im Sachvortrag beruht sie auf Fachwissen und Erfahrung. Das sollte zum Selbstvertrauen beitragen. Das Privileg, als einzelner Mensch zu mehreren reden zu dürfen, verpflichtet aber auch zur inhaltlichen Sorgfalt.

Ausgeprägter als vor hundert Jahren ist die Erwartung an einen unmittelbaren Austausch während oder nach dem Vortrag. Bereitschaft zur Antwort auf Fragen und Improvisation sind die Regel. Auch digital übertragene Vorträge betonen dies durch eine Kommentar- oder Chat-Funktion. Der heutige Vortrag ist offen – und wenn das Medium dies nicht erlaubt, dann wird es wenigstens deklariert.

Das Publikum

„Warum halten eigentlich die meisten Menschen so gern Reden? – Wie ich glaube, deshalb, weil dies die einzige Art und Weise ist, in der sie sich die Illusion verschaffen können, dass ihnen die anderen zuhören. Sie hören natürlich nicht zu; wenn sie nur irgend können, dann verschaffen sie sich auf ihren Zuhörerplätzen Papier, Programme, ein Zettelchen, und dann ziehen sie mit ernster Miene einen Bleistift aus der Tasche und machen sich Notizen … Männerchen, Sternchen, Kreise und schraffierte Felder, und ein geschickter Seelenarzt kann aus diesen Malereien viel Aufschlussreiches herauslesen … Zuhören aber tun sie nicht.“5

Das ist das (weniger berühmte) Zitat Tucholskys über das Publikum. Darin spiegelt sich die klassische monologische Einstellung. Das Publikum sollte zuerst still zuhören und sich eventuell im Nachgang äußern. Dennoch war es auch damals nicht passiv. In jedem Fall wurde erwartet, dass es mitdachte, lernte, im besten Fall auch weiterdachte. Das kann durch einen guten Vortrag erreicht werden. Und wir werden in diesem Buch sehen: Je dialogischer der Ansatz ist, desto leichter wird es und desto aktiver wird die Rolle, die das Publikum übernimmt.

Das Publikum ist freiwillig da

Vom Publikum kann immer Interesse erwartet werden – im Idealfall sogar Wohlwollen. Beides lässt sich fördern, indem es wahrgenommen und auf Augenhöhe angesprochen wird.

Der Veranstalter

Eine weitere Rolle, die im Rhetorik-Unterricht oft übersehen wird, ist die des Veranstalters. Zwar spricht er nicht und spendet auch nicht Applaus; dennoch macht er seinen Einfluss geltend, sei es durch die Vorgabe eines Programms, sei es durch Kleidervorschriften oder auch durch Zensurmaßnahmen. In der digitalen Welt ist es zurzeit umstritten, wie stark der Einfluss des Eigentümers einer Plattform – etwa von Facebook oder Twitter – auf die präsentierten Inhalte sein soll. Die Tweets von US-Präsident Trump wurden zum Teil mit Kommentaren versehen („Diese Behauptung über Wählbetrug sind umstritten“), zum Teil gelöscht, bis gegen Ende seiner Amtszeit der gesamte private Account von @RealDonaldTrump aus dem Netz entfernt wurde. Aber im Zusammenhang mit Redebeiträgen sind auch andere Zensurmaßnahmen bekannt geworden. Dazu gehören Eingriffe der weltumspannende Vortragsfirma TED, die Bühnenprogramme mit Kurzvorträgen organisiert, die später im Internet Millionen von Klicks generieren. Dabei müssen sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer an einen ganzen Katalog von Vorschriften halten. Wenn sie es nicht tun, werden sie mitunter damit gestraft, dass ihre Vorträge auf der TED-Plattform nicht weiter zu sehen sind.

So ging es im Jahr 2012 dem Unternehmer und Investor Nick Hanauer. Selbst Milliardär, wandte er sich gegen die Steuervorteile, die Unternehmen und reiche Mitbürger in den USA genießen. Zwar werde behauptet, dass sie die so erzielten Einsparungen für neue Arbeitsplätze nutzten. Aber Hanauer stritt dies vehement ab: „Reiche Leute wie ich schaffen keine Arbeitsplätze; Arbeitsplätze sind die Folge einer Rückkopplung von Kunden und Unternehmen.“ Hanauer brüskierte die Reichen und Superreichen, die schon viel zum Erfolg von TED beigetragen hatten. Das fand man dort nicht witzig, sondern man beschloss, das Video von Hanauers Rede nicht zu veröffentlichen. Die Begründung: Die Leistung sei „mittelmäßig“ gewesen, das anwesende Publikum habe gemischte Reaktionen gezeigt, und mit der politischen Botschaft könnten sich viele Geschäftsleute angegriffen fühlen.6

Mitspieler Nummer 3, der Veranstalter, hatte zugeschlagen. In seiner Macht steht es, den Rednern eine Plattform zur Verfügung zu stellen oder auch zu entziehen. Er hat auch die Macht, für den Inhalt der Reden in seinem Einflussbereich eigene Regeln zu formulieren. Für die TED-Vorträge existiert eine Liste, die angibt, welche Inhalte zulässig sind und welche nicht. Dies geht so weit, dass Behauptungen, die sich „außerhalb orthodoxen wissenschaftlichen Denkens“7 bewegen, der Zensur unterworfen werden.8 Aber auch für die Sprache gibt es Regeln. So ist zum Beispiel „unpräzises New-Age-Vokabular“ verboten.9 Es ist leicht denkbar, dass es da Rednerinnen und Redner schwer haben, die eine radikale politische oder philosophische Position vertreten.10

 

Im Fall von Hanauer kam es bald zu einem Kräftemessen zwischen TED und dem Redner, der immerhin finanzkräftige Partner hinter sich wusste. Er wehrte sich erfolgreich. TED gab klein bei, lud später Hanauer sogar erneut ein, um ihn dann sehr schmeichelhaft auf der TED-Website zu präsentieren.11

Der Einfluss des Veranstalters

»Platzierung der Rede im Programm (im Kontrast mit anderen Reden)

»Regeln zur Form, von der Kleidung bis zum sprachlichen Ausdruck

»Festlegung inhaltlicher Grenzen

»Entscheidung über die Weiterverbreitung (Kontakt zur Presse, Internetauftritt, Aufnahme in Publikationen)

Die Regeln des Veranstalters müssen nicht, wie bei TED, schriftlich festgelegt12 sein; andernorts hält man sich mehr oder weniger unbewusst an traditionelle Formen. Wie der Pfarrer bei der Taufe spricht (in welcher Kleidung, welchen Worten, an welchem Platz in der Kirche, mit welchen Gesten usw.), ist in der Liturgie des Gottesdienstes festgeschrieben. Was im Parlament möglich ist und was nicht, schreibt die Geschäftsordnung vor. Aber auch wenn Jugendliche einen Debattierclub gründen, stellen sie ad hoc Regeln auf, die nicht sehr von den überlieferten Gebräuchen abweichen, obwohl sie es in der Hand hätten, völlig neuartige Formen auszuprobieren.