Read the book: «Brauch Blau»

Font:

»Vielleicht geht es gut, denkt sie, vielleicht habe ich Glück und kann alles zusammen haben, Arbeit und Kinder. Alles zusammen, außer der Liebe natürlich.«

Sie erwacht auf einem Hotelbett, ihre Erinnerungen sind im Nebel, dringen nur splitterhaft zu ihr durch. Eine Erkenntnis flutet wie eine heiße Welle ihr Bewusstsein: Sie hat zwei kleine Kinder! Wieso ist sie allein? Eines steht fest: Sie muss sie finden, und zwar schnell. Eine atemlose Suche beginnt. Sie rennt. Und sie muss ihr Leben in den Griff und endlich diese Hauptrolle in der Oper bekommen. Alles steht auf dem Spiel: das Wohlergehen ihrer Kinder und ihr eigenes Selbstverständnis als Karrierefrau und Mutter, die verzweifelt versucht, sich gegen die Selbstaufopferung zur Wehr zu setzen, die ihr der Alltag als Alleinerziehende abverlangt. Sie hat es endgültig satt, allen immer nur zu gefallen.

In »Brauch Blau« sieht eine Mutter rot. Es ist die Geschichte einer Frau, die kämpft: gegen ihre gesellschaftliche Rolle, die ihr den Atem abschnürt, gegen den Vater ihrer Kinder, der sie nicht nur verlassen hat, sondern der ihre Grenzen übertritt, gegen die Fremdbestimmtheit und nicht zuletzt gegen sich selbst.



Inhalt

Wand

Flur

Beton

Brauch Blau

Mutter

Monbijou

Dancing Queen

Baby

Schwelle

The Rape

Arschmama

Automat

Vorsingen

Babysitter

Diener

Kerker

Die Dicke

Leopardenhaut

Norma

Blau

WAND

Sie ist noch auf der anderen Seite, als sie die Bewegung ihres Atems spürt. Gleitet über die Schwelle, hinüber zum Licht, öffnet die Augen. Alles ist schwer, teuer und klebrig. Ihr Blick hängt fest zwischen Sesseln und Quasten. Wo ist sie hier? Das ist ein Hotelzimmer. Sie ist ganz neu. Die Vorhänge sind aufgezogen, schwere Seide an den Seiten. Dazwischen flattern weiße Gespenster. Kalte Luft wabert. Wie spät ist es, was macht sie hier? Nirgendwo ein Hinweis, nur unbestimmbare Ewigkeit im Außen.

Sie friert, so nackt auf dem Bett. Die Arme hinter dem Kopf, sie kann sich nicht bewegen. Verdreht ragt ihr Becken in die Luft, tief darunter liegt die Taille. Ihre Haut, frisch gewaschen auf dem weißen Laken. Sie hat diesen Körper noch nie gesehen. Der Bauch eine Rundung. Dann wölbt sich das Schambein unter dunklen Haaren. Da, wo sie hinschaut, spürt sie sich. Innen drin zieht es. Wärme. Ihre Hände möchten die Brüste greifen, wollen sie drücken, die Nippel zwischen den Fingern reiben. Sie ist doch diese Frau. Aber sie kann die Hände nicht bewegen.

Um das Bett Papiertüten und Klamotten. Stimmt, ihr wurde an der Rezeption eine Tüte in die Hand gedrückt, vielleicht eine Verwechslung, aber das war ihr egal, sie ist auch nicht sie selbst gewesen, also ist sie damit losgezogen. In der Abendsonne ist sie aus dem Hotel getreten, mit federbesetzten hohen Sandalen, daran erinnert sie sich. Ein langer weißer Pelz. Unten wehte der Fetzen des Kleides heraus. Das riesige Tor mit den sechs Säulen. Vier Pferde sahen von oben auf sie herab. Davor der große Platz. Sie hat kein Taxi genommen. Sie ist vom Hotel weggegangen, das Tor mit seinem Grün dahinter im Rücken, immer geradeaus. Und dann? Sie kann sich nicht erinnern. Wohin ist sie gegangen?

Stimmt, sie ist in der Oper gewesen.

Sie hat dieses Zimmer noch nie gesehen. Eine so trockene Leere stockt in ihrem Gehirn, dass sie darin stecken bleibt. Sie späht noch einmal im Kreis. Auf dem Nachttisch ein abgestandenes Wasser, dessen Kohlensäure entwichen ist. Sie hasst lauwarmes Wasser.

Ihr Gehirn klappt kurz auf und wirft das Bild einer Kinderhand aus. Eine sehr kleine Hand, sie hat noch keine Konturen, keine Knochen, ist ganz Weichheit. Tränen rinnen aus ihren Augen, brennen heiß über die Schläfe direkt in ihr Ohr. Neue Bilder strömen in sie. Die kleinen Hände fassen ihr ins Gesicht, riechen nach Milch und Seife. Sie klammern sich an ihren Hals. Zwei Hände, die sich an ihr halten. Ein kleiner Körper. Sie drückt das weiche Bündel an sich. Jetzt sieht sie die Augen. Sie schauen sie so unverwandt an, als wären es ihre eigenen. Sie vertrauen ihr. Sie legen sich ganz in sie hinein, in ihre Hände. Wer ist dieses Kind?

Sie hört sich singen. Leise und zart. Sie singt zwischen diesem Wesen, das sich an ihr festhält, und sich. Das Lied ist unsere Nabelschnur, die immer da ist, denkt sie. Das Kind hört ernst zu. Sie würde es immer beschützen. Es ist ihr Kind.

Sie erinnert sich. Wie aufgeregt sie war, sie hatte sich durch dieses Kind auch selbst gerettet. Sie hatte plötzlich eine wichtige Aufgabe, sie glaubte, jetzt alles hinzukriegen, besser zu werden, erwachsener, ein besserer Mensch.

Das dachte sie damals jedenfalls. Sie war nach Hause gekommen, die Sonne schien, und Herbert ging los, um Windeln zu kaufen. Jetzt würde sie alles schaffen. Auch mit ihm. Sie würde sich nicht mehr verlieren, nie wieder, nicht einmal mehr straucheln, denn dieser Schatz war viel kostbarer als alles, was sie zu träumen gewagt hatte, größer als die Welt. Natürlich wichtiger als jede Oper. Jetzt würde sie auch nie wieder unglücklich sein, dachte sie in der Nacht nach der Geburt, als sie dieses kleine Wesen, das sie ununterbrochen anblickte, fest in ihren Armen hielt. In dieser Nacht im Krankenhaus konnte sie nicht schlafen, weil sie wusste, das Wichtigste ist hier passiert.

Die blanken klaren Augen. Wo sind sie jetzt?

Ihr Kopf tut weh. Der Schmerz besteht aus diesem stickigen Zimmer, er ist unendlich. Nur Teppichgeruch. Sie hat das Gefühl zu ersticken, und spürt sich auf die Knie sacken. Ein paar Tränen, ihre letzten Flüssigkeitsreserven, laufen ihr über die Wangen, fallen in den Teppich, werden dort geschluckt für immer.

Wo sind die Augen, die ihr vertrauen?

Sie hört eine kleine, zarte Stimme. Ein helles Mädchen, das sie anlächelt. Sie kennt dieses Lied, das sie singt. Eine unendlich heile Schönheit fließt aus ihm. Die weiche Federhand berührt ihr Gesicht. Das Mädchen meint sie. Das ist doch ihr Kind, oder? Sie liebt es so sehr. Warum ist es nicht bei ihr? Sie kriecht auf dem Teppich. Sie kann nichts mehr sehen, schiebt sich weiter, kriecht, tiefer in den Raum hinein.

»Hallo?«, fragt sie.

Keiner antwortet. Ihre Knie haben keine Haut mehr. Der Teppich schmirgelt ihr die Knochen ab. Sie muss weiter, aber es geht nicht. Ihr Kopf stößt an eine Mauer. Dahinter hört sie Rufen. Da ist wieder diese zarte Mädchenstimme und noch eine andere, eine zweite, eine Kleinkindstimme, und beide rufen sie. Sie erstarrt, sie erinnert sich. Sie hat zwei Kinder, und beide hat sie verloren. Das Mädchen und einen kleinen Jungen mit wütenden Augen. Er versteht nicht, warum sie nicht da ist, wo sie hingehört. Sie verlangen nach ihr. Irgendwo in der Nähe. Sie ist vielleicht ganz nah. Sie kommt sofort zu ihnen. Ihr Kopf, komplett abgeschaltet, weiß nur noch dieses. Sie spürt nichts mehr. Der Kopf knallt gegen die Wand, und mit jedem Schlag werden die Stimmen um sie herum lauter. Alles wird nass. Der Geschmack von Blut. Sie ist glücklich. Die Teppichhölle aufgerissen. Sie wird nicht ersticken.

Dann sieht sie die beiden Gesichter, wie sie sie anstrahlen. Sie haben ihren ganzen Schmuck aus der Schublade genommen und auf den Balkonpflanzen verteilt. »Schau mal, Mama, bei uns ist Weihnachten!«, jubeln sie. Sie wissen genau, dass sie etwas Verbotenes tun, und lächeln umso süßer. »Jetzt hab ich euch endlich, ich lass euch nie wieder los!«, sagt sie, dann wird das Rauschen in ihrem Kopf unterbrochen.

Sie reibt sich die Augen. Alles ist weiß. Ein Mann beugt sich über sie und kippt ihr Wasser ins Gesicht. Er ist vermutlich die Reinigungskraft, oder wie nennt man ihn, vielleicht Roomboy? Und da ist ja auch wieder dieses Zimmer mit den Kleiderbergen und den hellblauen Federn. Sie muss zu den Kindern, aber dieser Mann hält immer noch ihr Gesicht fest. »Ich rufe einen Arzt«, sagt er und verlässt das Zimmer.

Sie muss sich beeilen, sie muss hier weg. Das Ziehen durch den ganzen Körper, das kennt sie doch, das Gefühl, immer für die Kinder da zu sein, sich um sie zu kümmern. Der Schmerz um Herbert hatte genau das in ihr verbrannt.

Kurz reißt alles auf. Wo sind die Kleinen? Was, wenn sie sie nicht findet? Sind sie geklaut oder überfahren worden oder verhungert? Sie kriegt keine Luft. Sie muss atmen, die Türen aufstemmen, irgendwo dahinter ist noch alles da, oder? Dahinter ist alles gut. Es war doch immer gut.

Sie weiß, sie hat sie ins Bett gebracht. Das war aber nicht dieses hier, das waren zwei Betten nebeneinander.

Sie muss sehr genau nachdenken, fein die trockenen Wände abkratzen, irgendwo ist da eine Lücke, wo sie dazwischenkann, sie muss sie finden.

Aber erst einmal kommt dieser Hotelarzt. Die können sie doch nicht einfach festsetzen und untersuchen. Sie muss die Kinder finden. Es geht hier nicht um ihre Schmerzen, und sie kann es diesem Arzt leider unmöglich recht machen, sie kann es niemandem mehr recht machen, sie muss sofort in ihr Leben, ihr richtiges Leben zurück.

FLUR

Sie kriecht zu dem Klamottenberg, zerrt einen Seidenlappen heraus und sich über die Nase. Blumendruck, hellblaue Federn an den Ärmeln und unten am Rocksaum. Das wird den Kindern gefallen. Ein langer weißer Pelz glotzt sie aus der Ecke an. Woher kennt sie den? Sie watet durch ihre Gedanken.

Keine Zeit! Sie braucht Schuhe. Hier sind aber keine, weit und breit nicht. Sie schiebt sich an der Wand nach oben.

Die Beine stolpern los. Sie reißt die Zimmerkarte aus der Halterung, dann schlägt die Tür hinter ihr zu. Man müsse auch mal eine Tür hinter sich schließen, dafür gingen dann drei neue auf, sagt Larry. Er ist ihr bester Freund und kennt sich mit Türen aus, oder eher mit Ausgängen? Hier sind viele Türen. In welche Richtung soll sie gehen? Für ein Ausschlussverfahren reicht ihre Kraft nicht.

Gerade öffnet sich eine Tür, genau neben ihr. Ein Mann mit Anzug und Rollkoffer tritt auf den Flur. Sein Blick rutscht zu ihren nackten Füßen. Sie wankt, starrt ihn an. Sie will losgehen, taumelt aber und hält sich an der Tür fest. Sein Blick surrt von ihren Füßen die Beine hoch, Federkleid, Pelz, Blut an der Stirn. Ihr Mund zieht sich zusammen. Nur noch mal kurz an der Wand anlehnen. Die Übelkeit ist aufdringlich. Sie muss heruntergeschluckt werden. Sie sieht zu dem Mann, er weicht ihrem Blick aus. Sie geht auf ihn zu, schlingert, bleibt aber aufrecht. Sie weiß nicht, wo sie anfangen soll. Sie hört ihre Kinder rufen. Ihre Stimmen schnüren ihr die Kehle ab. Der Mann steht im Türrahmen, hat noch einen Fuß in der geöffneten Tür. Sie hält sich an ihm fest. Er weicht nach hinten aus, sie greift nach seinem Gesicht. Er wehrt sich, aber sie lässt nicht los, die Zeit drängt. Sie kann doch nicht barfuß durch die Stadt.

»Los. Ich brauch deine Schuhe.«

Er lacht. Hoch und hüstelnd.

»Wer bist du denn?«, fragt er, grinst verlegen.

Was geht den das an. Wo sie es doch selbst nicht mehr weiß.

»Sag doch Schnulli«, antwortet sie ungeduldig.

»Das ist doch kein Name«, sagt er.

Sie dreht den Kopf zur Seite, atmet ein und sagt dann, mit Blick in sein Gesicht: »Mag sein. Ich muss los, jetzt mach mal.«

»Was?« Er lacht schon wieder. »Haha. Na ja, die passen dir bestimmt nicht. Was hast du denn für eine Schuhgröße?«

Sein Atem löst ihren Würgereiz aus.

»Zweiundvierzig«, antwortet sie. Schaut sich seine Schuhe an. Sie sind schwarz und klobig.

»Passt eh nicht«, erklärt er zufrieden.

»Ist egal«, sagt sie schnell.

»Die waren nicht ganz billig«, fährt er fort. »Wirklich nicht. Fünfhundertvierzig Euro. Oder du gibst mir das Geld. Ich kann sie dir ja verkaufen.« Er kichert, begeistert von seiner Idee.

Sie starrt ihn an.

»Vergiss es, ich bin momentan nicht zahlungsfähig. Meine Kinder erziehe ich allein. Mein Mann lebt mit einer anderen Frau zusammen.

Um 6 Uhr weckt mich eines der Kinder, das andere schläft ausgerechnet dann länger.

Ich muss:

Um 9 Uhr Kinder in die Kita bringen.

Um 9.30 Uhr Essen im Supermarkt klauen.

10–13 Uhr, Stimm- und Repertoirearbeit, ich bin Opernsängerin. Leider seit über einem Jahr ohne Engagement. Aber es kann ja jederzeit wieder losgehen. Also Tonleitern, Intervalle.

13–15 Uhr, Arien auf Deutsch, Italienisch, Französisch, Russisch. Üben, bis man jeden Ton im Dunkeln kennt und sich blind in den Liedern zurechtfindet. Manchmal wird sehr spontan, also ein paar Stunden vor dem Auftritt, besetzt, weil jemand ausfällt, und dann muss man das Repertoire perfekt können.

Ich muss:

Immer auf Abruf sein, auch im Schlaf.

Mich ständig im Schlaf treten lassen. Im Wachen anbrüllen lassen.

Immer etwas zu trinken dabeihaben.

Ununterbrochen die Gefühle der Kinder aushalten.

Wutanfälle, Trauer, Schmerzen.

Immer, also wirklich immer, ein Ohr bei den Kindern haben.

Ständig aufpassen.

Bei Kälte Jacken und Mützen gegen den Willen der Kinder anziehen.

Sonnencreme gegen ihren Willen auftragen oder zwei Stunden diskutieren.

Entscheiden, wann im Streit der Kinder der Punkt ist, wo man eingreifen muss.

Alles, was die Kinder sammeln, mitschleppen.

Überhaupt schleppen, alles gleichzeitig:

Einkäufe,

weinende Kinder,

vor Wut brüllende und tretende Kinder,

Laufräder,

Schlitten,

Kinderrucksäcke.

Dann muss ich:

Wäsche waschen,

Wäsche falten,

Kinderzimmer aufräumen,

alle Zimmer aufräumen,

staubsaugen,

Töpfe abspülen,

kochen und noch mal kochen.

Gut gelaunt sein.

Nicht zu oft vor den Kindern weinen.

Singen oder auch nicht singen, je nach Laune der Kinder.

Geschichten erzählen, Geschichten vorlesen.

Zuhören, was die Kinder erzählen, obwohl man etwas anderes denken und etwas anderes tun muss.

Zuhören und so tun, als ob man es versteht.

Sich dafür schämen.

Unendlich geduldig sein.

Alles erklären.

Verkatert Frühstück machen.

Verständnis haben.

Immer in den eigenen Gedanken unterbrochen werden.

Immer den eigenen Rhythmus von jemand anderem bestimmen lassen.

Lego bauen.

Stifte anspitzen.

Fünftausendmal die gleichen Spiele spielen.

Lieben, lieben, lieben.

Grenzen respektieren.

Eigene Grenzen setzen.

Eigene Grenzen immer wieder übertreten lassen.

Einkaufen.

Kochen.

Waffeln backen.

Hintern abwischen.

Kotze aus der Bettwäsche und den eingepinkelten Hosen waschen,

Betten beziehen.

Staubsaugen.

Arien üben, die außer mir vermutlich kein Mensch je hören wird, täglich siebenhundert Bewerbungsbriefe abschicken.

Fingernägel schneiden.

Ponys schneiden.

Lustige Drachen aus Transparentpapier basteln.

Kuscheltiere nähen und hinterher die ganzen Schnipsel wegfegen, angemalte Steine und festgeklebte Nudeln aufsammeln, den Boden sauberlecken, weil mir das Wasser abgestellt wurde.

Den ganzen Kitamassenmailzirkus verfolgen.

Ritterburgen und Zoos aus Kaplasteinen bauen, Bausteine, die ich nicht mal kenne, du Arschloch«, sagt sie dem Mann. »Los, Schuhe aus!«

Der Aufzug glänzt verschwommen. Sie weiß nicht, warum sie weint. In kleinen Schrittchen stemmt sie sich über den Teppich. Die Schuhe sind wirklich zu klein. Aber sie kann gehen. Ihr ist so übel. Sie merkt, wie die Angst sich in ihr formt, sie sieht Kinderhände, aber die Körper fehlen, einzelne Hände, sie kann sie nicht zusammenkriegen.

Die Aufzugstüren gleiten auseinander, der strenge Roomboy kommt ihr entgegen. Neben ihm jemand, der sehr geschäftlich wirkt, und ein grauhaariger Mann mit Arztkoffer. Der Roomboy zeigt mit dem Finger: »Das ist sie!«

»Ihnen ist nicht gut?«, fragt der Geschäftliche.

»Geht Sie das was an?« Sie schluckt ihre Rotze herunter. Ihr Finger berührt den E-Knopf.

Der Mann greift ihr an die Schulter. »Dann geht es Ihnen wohl besser, das freut mich zu hören. Und gut, Sie noch anzutreffen«, sagt er. »Wir konnten Sie gestern leider nicht erreichen. Es gibt ein kleines Problem mit Ihrer Kreditkarte, Sie haben doch bestimmt noch andere Zahlungsmöglichkeiten? Und es gab ein Versehen, einer Dame wurde ein Einkauf mit Kleidung geschickt, der unglücklicherweise an der Rezeption bei Ihnen gelandet ist? Diese Tüte bräuchten wir selbstverständlich zurück. Waren Sie denn gestern noch auf der Premiere?«

Er schaut sie an, von oben bis unten. Ihre Haut kribbelt. Die Handflächen kleben. Der Magen an der Schädeldecke. Was für eine Premiere? Der Mann stinkt. Raucherschweiß und Aftershave. Der Teppich riecht nach Hund.

Sie reißt sich los, er bleibt irritiert stehen.

Während die Aufzugtüren sich schließen, hört sie den Mann ohne Schuhe sagen: »Nein, ich kenne sie auch nicht.«

Sie nimmt sich vor, erst außerhalb des Hotels zu kotzen. Auf dem begrünten Mittelstreifen, an einer auch bei Hunden sehr beliebten Stelle.

Man kann ja viele Dinge steuern. Mit hohem Fieber eine Premiere singen, eine Geburt überleben, obwohl man währenddessen merkt, das geht nicht, das ist zu groß, es lebt schon mehr, als man vorher ahnte, und die Schmerzen hebeln jede eigene Wahrnehmung aus. Sie hatte immer das Gefühl, einen Vertrag mit ihrem Körper schließen zu können, dem zufolge er erst nach dem Erbringen einer bestimmten Leistung zu seinem Recht kommen durfte.

Bis auf die Straße, das ist diesmal das gesetzte Ziel.

Der Aufzug spuckt sie in hellen Marmor. Sie schwankt auf einen Tisch mit vielen Vasen zu. Blitzschneller Richtungswechsel. Dahinten das Licht, sehr fern hinter dem vor Betriebsamkeit surrenden Foyer. Sie presst den Mund zusammen. Denn wenn das hier danebengeht, halten die sie fest. Schneller. Sie rammt zwei Männer in Polohemden, die sie anstieren. Sie weicht aus. Das Plätschern eines Springbrunnens knallt ihr entgegen, überall Sessel und Tische. Der Boden ist weich unter ihren Füßen, ein Teppich, beige-bordeaux gemustert. Eine Gruppe Frauen strecken ihre Pos für ein Gruppenfoto zusammen. Parfums kreischen durcheinander. Der Geruch von Kaffee weht herüber, ihre Übelkeit drückt gegen den Gaumen. Sie beugt sich nach vorn, ihre Beine versuchen, nachzukommen.

Eine Frau von der Rezeption rauscht auf sie zu, weiße Bluse, geknotetes Tuch, sie ruft etwas. Wieder Richtungswechsel. Vom Klavier metallischer Chopin. Sie wühlt sich zwischen eine Rentnergruppe, aufgeblasene Stirnen, glänzend gekämmte Haare, Sahnegeruch von Cremes. Die Frau von der Rezeption nähert sich, wird von einem Mitglied der Rentnergruppe aufgehalten. Die Schuhe sind viel zu klein. Sie fixiert die Drehtür, holt tief Luft und stolpert ihr entgegen, der Mund ist voll, sie presst die Lippen aufeinander, nur noch wenige Meter nach draußen, sie trippelt, schluckt, die Säure drängt von innen gegen die Lippen. Ein Mann mit einer rosa Papiertüte steuert aus der Drehtür auf sie zu, ihre Beine bremsen, ihr Oberkörper wirbelt nach vorn, mit Nähmaschinenschrittchen in die Drehtür, sie fliegt nach draußen.

Sie stürzt zwischen den Taxis auf die Straße, ein Page in dunkelroter Uniform zieht sie zurück, ein Touristenbus donnert vorbei, seine Hand auf ihrem Rücken, sie reißt sich los, sieht zur Mittelinsel. Gras und eine Mülltonne, ein Fahrrad bremst. Sie prescht durch das Orange einer Touristenfahrradgruppe über die Straße, der überquellende Mülleimer neben einer Bank, ein Busch, sie weicht der Hundekacke aus und hält sich beim Kotzen die Haare aus dem Gesicht.

Ausgewrungen fällt sie auf die Bank. Vergorene Sommerluft, überall Moder und Dreck. Der Hals kratzt, der Kopf sticht. Wo fängt sie an? Wann hat sie die Kinder zuletzt gesehen? Wo waren sie? Sie kann sich nicht erinnern.

Panik steigt auf. Atmen. Tiefer. Sie legt sich hin, schließt die Augen.

Sie hält ihre weichen Hände. Auf ihrer linken Brust liegt der Flaum eines schweren Kopfes. In ihrer rechten Hand spürt sie die weichen Fingernägel einer Kinderhand, die beim Einschlafen zuckt.

Sie hat sie ins Bett gebracht. Wo ist dieses Bett?

Sie waren zusammen. Ein kleines Zimmer. Zwei aneinandergestellte Betten aus billigem Holz. Gelbe ausgekochte Bettwäsche. Sie hatten keine Schlafsachen, keine Schlafanzüge, keine Zahnbürsten. Kein Buch zum Vorlesen. Sie haben sich sofort ins Bett gelegt. Sie in die Mitte auf die Ritze, in ihren Armen die Kinder. Neben das Bett hatte sie auf beiden Seiten Stühle geschoben. Nein, nur auf der einen Seite einen breiten Stuhl, auf der anderen die einzige Kommode in diesem Zimmer. Die Kommode war schwer, sie quietschte laut beim Schieben, aber so konnte der Kleine nicht rausfallen in der Nacht. Sie hatten alle nacheinander noch einmal gepinkelt, im Flur gab es eine kleine Toilette mit starkem Pfirsichduft. Dann lagen sie im Bett. Neben ihnen ein Zahnputzbecher mit lauwarmem Wasser aus der Leitung, denn die beiden hatten immer Durst, sobald sie das Licht ausmachte. Dunkeldurst. So hatten sie dazu gesagt.

Sie war so glücklich, als sie die Kinder an diesem Abend wieder bei sich hatte. O Gott, ja. Sie war nach Herberts Besuch fast zu spät in der Kita gewesen. Sie hatte versucht, die Zeit zu überholen. Und musste sich auf dem Weg bei Greg in der Bar noch Geld leihen.

Wie hatte sie sie danach überhaupt loslassen können? Sind sie noch im Hotel mit der gelben Bettwäsche? Sie hatte sie am Nachmittag ja nur in der Kita vergessen. Und den Schlüssel in ihrer Wohnung.

Nein. Nicht vergessen. Das war alles wegen Herbert.

$10.56