Das Flüstern der See

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Das Flüstern der See
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Julia Beylouny

Das Flüstern der See

Durch die Flut 2

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Durch die Flut 2

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Kapitel 65

Kapitel 66

Kapitel 67

Kapitel 68

Kapitel 69

Kapitel 70

Kapitel 71

Kapitel 72

Kapitel 73

Kapitel 74

Kapitel 75

Kapitel 76

Kapitel 77

Kapitel 78

Kapitel 79

Kapitel 80

Kapitel 81

Kapitel 82

Kapitel 83

Kapitel 84

Kapitel 85

Kapitel 86

Kapitel 87

Kapitel 88

Kapitel 89

Kapitel 90

Kapitel 91

Kapitel 92

Kapitel 93

Danke

Wusstet ihr schon ...

Impressum neobooks

Durch die Flut 2

Das Flüstern der See

Für Raphael

Kapitel 1

Kriemhild

Die Maschine war längst gelandet. Unzählige Menschen drängten sich um Kriemhild herum. Sie alle waren Teil der vergangenen acht Stunden ihres Lebens, der vermutlich einsamsten Zeit, die sie je durchgemacht hatte. Alles plauderte und kramte hektisch in den Gepäckablagen. Kriemhild saß teilnahmslos auf ihrem Platz und war unfähig sich zu rühren. Die Ziffern auf dem Display ihres Handys zeigten siebzehn Uhr fünfundzwanzig an – noch immer amerikanische Zeit. Für Kriemhild war die Zeit stehengeblieben; bei Sam. Ihr Blick fiel aus dem Bullauge und hinaus in die gelbblinkende Flughafennacht.

Dreiundzwanzig Uhr fünfundzwanzig, Ortszeit Amsterdam. Kriemhild seufzte.

Bist du noch bei mir?, flüsterte sie in Gedanken und wischte sich eine Träne fort. Samuel antwortete nicht mehr, und das schon seit Stunden.

 

Die Bordbegleiter gingen durch die leeren Reihen und sammelten den Müll der Passagiere ein, Essensreste und Decken.

„Entschuldigen Sie, Ma’am? Geht es Ihnen gut? Darf ich Ihnen mit dem Gepäck behilflich sein?“

Kriemhild blickte auf. Ein nettes Gesicht lächelte sie an und riss sie aus den Gedanken.

„Nein, nein … Alles in Ordnung, ich bin schon weg“, stammelte sie und erhob sich langsam.

Ihre Knie zitterten. Sobald sie das Flugzeug verlassen hätte, hätte sie nicht länger den amerikanischen Boden unter den Füßen, der beim Boarding noch dagewesen war. Tausende von Kilometern trennten sie voneinander – Sam und Kriemhild.

Sie tastete nach dem Rucksack in der Gepäckklappe. Ein kleines weißes Papierstück fiel heraus und segelte direkt vor ihre Füße hinab. Sie hob es auf und erkannte Jasons Visitenkarte mit seinen Daten auf der Rückseite, die ihr ein wehmütiges Lächeln abrangen. Brookes Party am Vorabend, der Spaziergang über den Strand zurück zum Haus der Gilberts, und die letzte Nacht an Samuels Seite. Mit bebenden Fingern ertastete Kriemhild unter dem Shirt die Kette; ihren ganz persönlichen Ehering.

Auf der Gangway wählte sie Sams Nummer. Es schellte zweimal, bevor er abnahm. Seine Stimme klang so rein, so klar, als würde er direkt neben ihr stehen. Sie erinnerte sich an die erste Fahrt in seinem Jeep zurück, als Sam sie neulich – Anfang Juni – vor Jasons kläglicher Anmache gerettet hatte. Da hatte sie seine Stimme zum ersten Mal gehört und ihr Klang hatte sich in ihren Kopf gebrannt.

„Hey“, sagte er sanft. „Ich habe auf deinen Anruf gewartet. Wie geht es dir? War der Flug okay?“

Sie schloss die Augen und lauschte seinen Worten, seinem Atem, der so dicht an ihr Ohr drang, dass sie ihn beinahe auf der Haut spürte.

„Nachdem du fort warst? Der Flug war schrecklich.“ Sie wollte nicht dort sein, nicht ohne ihn. Eine heimliche Träne stahl sich über ihre Wange davon. „Ich vermisse dich jetzt schon wahnsinnig!“

„Ich vermisse dich auch“, sagte er. „Aber, Kopf hoch, es ist ja nicht für lange. Ich weiß, dass du das schaffst. Soll ich deiner Tante Bescheid geben, dass du gut angekommen bist?“

„Ja, bitte, das wäre nett. Ich kann jetzt nicht mit Margret sprechen, sonst heule ich noch mehr. Sie soll auch bei Ma anrufen, damit sie beruhigt ist.“

„Gut, sie werden sicher verstehen, dass du im Moment nicht reden willst.“

„Ja“, flüsterte sie. „Ich muss jetzt weiter, Sam, auch wenn ich am liebsten auf der Stelle umdrehen würde. Die Passkontrolle und Sara erwarten mich. Was tue ich hier überhaupt? Ich wünschte, du wärest hier.“

Sie schaute sich hilflos um und fühlte sich völlig verloren. Seine Tonlage verriet das ermutigende Lächeln. Kriemhild sehnte sich nach seinen Grübchen.

„Hey, Sara und Elisabeth freuen sich auf dich, vergiss das nicht, hörst du? Wir sehen uns schon bald! Du schaffst das.“

Sie nickte und wischte sich durch die Augen.

„Ich weiß. Ich melde mich, Sam.“

Alles geschah wie in Trance; die Passkontrolle, die Gepäckausgabe. Kriemhild war nicht bereit, sich in jenes Land zu begeben; mental, sie war einfach noch nicht angekommen.

Samuels Stimme hallte in ihr nach. Sein Schatten haftete an ihr, seine Berührungen und seine Nähe. Kriemhild war auf Entzug. Alles in ihr schmerzte und die brennende Sehnsucht war wie ein Strudel, der sie unaufhaltsam in die Tiefe hinabzog. Sie fühlte sich wie der Teil eines Ganzen, das in zwei Stücke gerissen worden war.

Dann schwang die Tür auf. Sara kreischte, als sie Kriemhild erblickte und ihr in die Arme rannte. Ihre Freundin roch nach kaltem Rauch.

„Kriemhild! Endlich, ich hab dich so vermisst – und ganz vergessen, wie scharf du aussiehst!“

Sara trug ihre kinnlangen, schwarzen Haare zu einem Minizopf zurückgebunden. Die hohen blassen Wangen, die schmalen Lippen; Endlich ein vertrautes Gesicht, dachte Kriemhild, nach dem schrecklich einsamen Flug. Sie erwiderte die Umarmung. Ihre Freundin bemerkte die Tränen, die Kriemhild vergebens wegwischte.

„Süße, was ist los? Wieso weinst du denn? Ich hoffe, das sind Freudentränen.“

„Sicher. Freudentränen. Hey, Sara!“ Mehr konnte sie nicht sagen. Ein Schluchzen brach ihre Stimme und die zierlichen Arme ihrer Freundin hielten sie.

„Komm, ich helfe dir mit dem Wagen.“ Sara deutete auf das Gepäck. „Mann, was hast du denn in den ganzen Koffern? Unser Hotel ist übrigens gleich dahinten. Ich hab gedacht, wir nehmen eines in Flughafennähe, dann haben wir es nicht so weit. Wenn du wüsstest, wie sehr ich mich freue, dass du wieder da bist!“

Sie teilten sich ein kleines Doppelzimmer. Es war ziemlich veraltet, aber sauber. Braune Gardinen, brauner Teppich – knarrendes Bett. Doch das machte Kriemhild nichts aus. All die Nebensächlichkeiten ertranken in ihrem Schmerz und ihrer Sehnsucht nach Samuel. Seit er aus ihrem Kopf verschwunden war, quälte die Feuerqualle sie wieder. Kriemhild nahm eine Dusche und kroch ins Bett. Sara hatte durch die Fernsehkanäle geswitcht und es ausgeschaltet, als sie neben ihr lag.

„Hey, bist du müde?“, fragte ihre Freundin von der Seite.

„Nein, im Gegenteil. Diese dumme Zeitverschiebung …“

„Naja.“ Sara gähnte. „Kann ich leider nicht von mir behaupten. Aber für dich bleibe ich gern wach.“

„Das musst du nicht. Wenn du müde bist, solltest du besser schlafen. Übrigens, lieb von dir, dass du mich abholst. Danke nochmal.“

„Mach ich doch gern! Aber jetzt erzähl mal, ich halte es nicht länger aus! Wie war dein Sommer in den Staaten? Die Jungs und all das? Hast du viele neue Leute kennengelernt?“

Kriemhild drehte sich zur Seite. Sie war nicht wirklich in der Stimmung, fröhlich draufloszuplaudern … Das Bett ächzte und ihre Kette fiel aus dem Shirt hervor. Sara bekam große Augen. Sofort griff sie nach den Korallenperlen und ließ sie durch ihre Finger gleiten.

Wow, was ist das denn für ein cooles Teil?“

Die Szenen der Hochzeit traten lebhaft aus Kriemhilds Erinnerung hervor – lebhaft und schmerzhaft. Vor allem der Moment, als Sam ihr die Kette um den Hals gelegt hatte, und sein Blick.

„Alter, ist die hübsch!“ Sara musterte Glied um Glied. „Ich hoffe doch mal, du hast mir auch so eine mitgebracht. Woher hast du die?“

„Aus den Staaten.“ Schweren Herzens schob Kriemhild die Hand ihrer Freundin weg. Sie war sich nicht sicher, ob sie ihr schon in dem Moment von der Hochzeit erzählen sollte.

„Ja, dass die nicht aus ‘nem Kaugummiautomaten ist, sehe ich selber! Darf ich sie mal tragen?“

Nein!“ Kriemhild erschrak selbst über ihre heftige Antwort. Sie ließ die Kette unter dem Shirt verschwinden. Sara saß senkrecht im Bett. „Wie nein? Ich will sie dir nicht abkummeln. Wir borgen uns doch ständig irgendwelchen Schmuck. Oder …“, sie hielt grinsend inne und legte den Kopf auf die Seite, „oder ist sie von ‘nem Typen?“ Kriemhild drehte sich um und wünschte, ihre Freundin hätte die Kette gar nicht erst bemerkt. Sie hätte Sara gern eingeweiht, aber irgendwie fürchtete sie sich vor ihrer Reaktion. Einfach zu heiraten, das war eine ganz neue Seite an ihr, die ihre Freundin nicht kannte. Für gewöhnlich passten solche Dinge nicht zu Kriemhild – so war es bisher jedenfalls gewesen.

„Echt jetzt? Von ‘nem Typen? Mann, Süße! Eher landen Aliens auf der Erde, bevor du was von ‘nem Typen annimmst! Was ist los mit dir, du bist so anders! Jetzt erzähl doch mal!“

Kriemhild schwieg. Erneut stiegen Tränen in ihr auf.

„Weißt du, … wenn ich mich recht erinnere, dann waren wir vor drei Monaten noch beste Freundinnen“, sagte Sara traurig. „Darf ich nicht erfahren, was in der Zwischenzeit so alles passiert ist?“

„Natürlich darfst du das erfahren, und wir sind auch noch immer beste Freundinnen. Aber das mit der Kette … Ich weiß nicht, ob ich im Moment drüber reden will, verstehst du?“

„Nein, tu ich nicht.“

Kriemhild spürte die enttäuschten Blicke auf ihren Schultern ruhen.

„Ist es so schlimm, dass ich es nicht wissen darf? Du bist vor mehr als zwei Stunden gelandet und hast noch nicht ein Wort von deiner Zeit in den USA erzählt. Ich hab mich so auf dich gefreut! Dann werd’ ich wohl doch lieber schlafen, vielleicht bist du morgen Früh besser drauf.“

Sara schaltete das Licht aus. Durch das Fenster strahlte gelber Schein von der Straße, dem Flughafen und der Stadt herein. Wieder rann eine Träne über Kriemhilds Wange.

„Sie ist von Sam“, flüsterte sie. „Er hat mir die Kette geschenkt.“

Das Bett knarrte.

Wer?“

„Samuel.“

„Ist das der Typ, von dem du am Telefon erzählt hast?“

Kriemhild nickte.

„Na, siehst du, geht doch. Und was genau läuft da zwischen euch? Ich meine … außer Justus gab es niemanden in deinem Leben. Der Justus – der eigentlich gar nicht zählt. Und dann bist du kurz in Amiland und lässt dir prompt ‘ne Kette andrehen?“ Sara lachte. Draußen begann es zu regnen. Gelbe Tropfen perlten am Fensterglas ab und Kriemhild spürte, wie ihre Freundin das Kinn an ihre Schulter lehnte.

„Hey, sorry, sollte sich nicht so hart anhören. Ich bin einfach überrascht. Erzählst du es mir? Das mit Sam? Bitte.“

„Klar. Was willst du hören?“

„Na, alles natürlich!“

Alles? Dazu bist du zu müde.“ „Los, raus damit! Ich platze vor Neugier!“

Kriemhild drehte sich herum und schaute in die Dunkelheit. Wieso nicht? Sara würde es ohnehin erfahren. Früher oder später – was spielte das schon für eine Rolle?

„Sam ist unglaublich“, begann sie. „Ich habe ihn gleich am Tag nach meiner Anreise kennengelernt. Ich wollte mir die Gegend anschauen, bin über den Strand und durch die Dünen gelaufen. Und da saß er.“

Sara lauschte gebannt. Kriemhild fuhr fort, während die Erinnerungen sie einholten.

„Du kannst dir nicht vorstellen, wie schön es in Falmouth ist! Das Meer und der Strand, die Landschaft, die hübschen Holzhäuser. Da kann unsere Nordsee nicht wirklich mithalten.“

„Jaja, aber jetzt erzähl mir erst mal von dem Typ“, rief Sara wie ein ungeduldiges Kind. „Er saß da in den Dünen. Und dann?“

„Ja, er saß da in den Dünen und schaute aufs Meer hinaus. Ich wollte Richtung Innenstadt, aber als ich ihn dort so sitzen sah, musste ich einfach anhalten und ihn ansehen. Schon verrückt.“

Verrückt!“ Sara gackerte. „Das ist das richtige Wort. Hat er zurückgeschaut?“

„Ja, er hat mich kurz angesehen und dann bin ich auch schon weiter, Richtung Straße. Von dem Tag an sind wir uns ständig über den Weg gelaufen. Ist in so ‘nem Ort wohl auch nicht sonderlich aufregend. Er fand irgendwie raus, dass ich nicht schwimmen kann und hat es mir beigebracht.“

„Mal eben – einfach so? Süß. Scheint ja ein echter Held zu sein.“

Die Regentropfen am Fensterglas erinnerten Kriemhild an das salzige Meerwasser, an die Lagune und die wunderschönen Riffe. Sara schien nicht zu verstehen, was sie gesagt hatte. Und Kriemhild hatte nicht vor, ihrer Freundin jedes kleine Detail zu erzählen; noch nicht.

„Du müsstest seine Augen sehen“, flüsterte sie. „Ich hätte nie gedacht, dass ich mich mal Hals über Kopf in jemanden verliebe.“

Was?“ Das schrille Lachen ihrer Freundin durchbrach die Dunkelheit und Kriemhilds Herz. „Das ist nicht dein Ernst! Liebe auf den ersten Blick, oder was? Du bist so romantisch, wie du naiv bist! Hast du ein Foto? Ich will ihn sehen! Ist er auf Facebook? Wie ist er denn so – mal abgesehen von den Augen? Ein echter Ami? Ich hoffe, er teilt deine Ansicht. Oder hat er in zwei Wochen die Nächste am Start? Wer weiß, am Ende ist das mit dem Schwimmkurs nur so ‘ne Masche von ihm.“ Kriemhild versuchte den Schmerz zu verbergen, den Saras Spott in ihr auslöste. Die sprach von Sam wie von einem kitschigen Souvenir, das sie aus dem Urlaub mitgebracht hatte. Sie hätte besser auf ihr Bauchgefühl gehört und ihr noch nichts von ihm erzählt.

„Nein, Sam ist nicht auf Facebook.“

„Oh, sehr enttäuschend. Und was macht er so? Arbeiten? Studieren?“

„Er geht nächste Woche nach Harvard.“

Ihre Freundin schwieg. Sie schaltete das Licht wieder ein und riss ungläubig die Augen auf.

Das Harvard? Sag nicht, dass er so ein reicher Snob ist, sponsored by Dad?“

„Nein, er ist kein Snob.“ Obwohl, sponsored by Tom war er schon, wenn auch unfreiwillig …

„Wie auch immer“, fuhr Sara fort. „Dann hat’s dich also richtig erwischt, ja? Ach, was würde ich um so eine kleine Schwärmerei geben … Egal, erzähl mir lieber, wie es weiterging.“

 

Kriemhild dachte an die Party am Pier zurück, als Sam sie aus den Wellen gerettet hatte. An Brooke, an Sarana und an das Dinner bei Lynn.

„Wir haben ‘ne Menge zusammen unternommen und waren auf der Hochzeit seiner Schwester. Glaub mir, Sara, sowas Irres hast du noch nicht erlebt …“

Die Früchte der blauen Mondmuschel, Amy und Malahan im mondlichtdurchfluteten Riff. Die Walgesänge, der Mariane und Samuels wahre Gestalt. Der Tag im Sturm, an dem Kriemhild seinem Geheimnis auf die Schliche gekommen war – all das trat aus ihrer Erinnerung hervor. Wehmütig schaute sie in Saras braune Augen. „Um ehrlich zu sein, hatte ich nicht vorgehabt, je wieder heimzukommen, weißt du das?“

Der Blick ihrer Freundin durchdrang sie, ohne dabei jene Tiefe zu erreichen, die Sams Blick in sich barg.

„Dann waren das vorhin auch keine Freudentränen, richtig?“

„Richtig.“

„Oh, komm her!“ Sara umarmte sie. In ihrer Stimme hallte übertriebener Trost. „Das wird schon wieder. Aber süß von ihm, dass er dir zum Andenken ‘ne Kette geschenkt hat.“

„Zum Andenken?“ „Naja, klar, wenn er doch nach Harvard geht und du nach Hamburg? Ich meine – so ein Sommerflirt bleibt sicher unvergessen. Nicht, dass ich dir dein romantisches Bild der ersten Liebe zerstören will. Aber die meisten Typen ticken da anders. Glaub mir, ich weiß, wovon ich rede. Keine Sorge, du wirst drüber wegkommen.“

Was? Sara … Das war kein Sommerflirt! Du hast nicht zugehört, wovon ich eben gesprochen habe.“ „Natürlich hab ich zugehört. Übrigens: Stört es dich, wenn ich eine rauche?“, fragte sie und fingerte nach ihren Kippen. Kriemhild raufte sich die Haare.

„Ja, es stört mich! Hör zu, Sara, ich weiß nicht, was du denkst, aber ich liebe Sam und ich fliege spätestens an Weihnachten mit Ma wieder hin und ich werde dableiben, hast du das jetzt auf dem Schirm?“

„Jetzt zick mal nicht so rum! Wie, du bleibst da? Wieso solltest du dableiben?“ Sara schob die Zigarette zurück in die Schachtel und legte die Stirn in Falten. „Bis Weihnachten kennt der nicht mal mehr deinen Namen. Entschuldige, dass ich so direkt bin, aber ich kenne diese Art von Typen. Die haben jeden Sommer ‘ne andere am Start. Ist doch so!“ Kriemhild gab auf. Wieso hatte sie ihr überhaupt davon erzählt? Was das anging, teilten sich ihre Ansichten in entgegengesetzte Richtungen.

Offenbar bemerkte Sara die Enttäuschung in Kriemhilds Blick. Sie lächelte versöhnlich. „Weißt du was? Vergiss einfach, was ich gesagt hab. Genieß deine Erinnerungen an ihn, solange sie andauern und in ein paar Wochen reden wir nochmal drüber. Ich bin sicher, dass du dann ganz anders über die Sache denken wirst. Du wirst sagen: ‚Hey, war nett mit Sam. Ein schöner Sommer in den Staaten.‘ Was übrigbleibt, ist meist ein kleines Lächeln auf dem Gesicht, wenn man dran zurückdenkt.“

Kriemhild hatte es die Sprache verschlagen. Dabei hatte sie immer gedacht, ihre Freundin besser zu kennen als irgendjemanden sonst auf der Welt. Sara würde es nicht verstehen; wie tief man lieben konnte und wie wahrhaftig. Oder welche Gründe es gab, jemanden zu heiraten.

„Weißt du“, sagte sie, „ich bin doch ziemlich müde – der Flug und all das … Lass uns schlafen und morgen weiterreden, einverstanden?“

Ihre Freundin nickte und schaltete das Licht aus. „Klar, gute Nacht, Kriemhild. Morgen finden wir ‘ne coole Ablenkung für dich, um die Welt wieder in bunt zu sehen. Nach all dem Rosarot muss dir ja ganz schlecht sein.“

Kapitel 2

Tom

Am selben Abend schaute er in den Rückspiegel und wartete auf Lynn. Tom hatte den Wagen an der Promenade geparkt. Seine Frau traf sich mit irgendeiner Kollegin in der Stadt und hatte ihn darum gebeten, sie dort abzuholen.

Er ließ das Fenster herunter, während er in Gedanken versunken war. Die Sache mit Providence ließ ihn einfach nicht los. Die Gelder, die sie beantragt hatten, waren abgelehnt worden. Und das nach all den Wochen, in denen sie hart darum gekämpft hatten. Kopfschüttelnd fuhr er sich durch die Brauen. Tom verstand die Politik einfach nicht, obwohl er immer gedacht hatte, er würde es tun. Vielleicht könnte er seine neuesten Veröffentlichungen dazu nutzen, um für das Projekt zu werben. Vielleicht würde er neue Interessenten finden, die bereit waren, für eine gute Sache zu spenden. Vielleicht … vielleicht aber auch nicht.

Er schob die erdrückenden Gedanken beiseite und ließ seinen Blick in die Ortschaft fallen, um nach Ablenkung zu suchen. Falmouth war ruhiger geworden. All die Sommertouristen waren in ihre Großstädte zurückgekehrt. Das Pflaster der Touristenmeile war wie leergefegt.

Tom hatte zuvor an Samuels Gedanken bemerkt, dass auch sie abgereist war – das rothaarige Mädchen war wieder daheim in Deutschland – trotzdem ging sein Sohn ihm nach wie vor aus dem Weg. Doch sie war fort; und allein die Tatsache ließ ihn erleichtert seufzen. Wenigstens etwas, das ihn nicht länger belastete. Für einen kurzen Moment tat sein Sohn ihm leid, doch der Junge würde schon darüber hinwegkommen, früher oder später. Sobald er die Sache überwunden hatte, würde sie ihn stärker machen und dann wäre sicher wieder das eine oder andere vernünftige Gespräch mit ihm möglich.

Toms Blick wanderte über das Kopfsteinpflaster. Weiter hinten – an der Kaffeebude – hockte eine Gruppe junger Mädchen. Sie erhoben sich und liefen in seine Richtung. Er schaute weg, um seinen Sinnen mehr Menschlichkeit aufzuzwingen. Tom verabscheute sein Gehör. Er verabscheute es, immer ungewollt Zeuge fremder Gespräche zu werden, was ihn grundsätzlich in sämtliche Zwickmühlen katapultierte, wenn es um geschäftliche Dinge ging; wenn seine Partner unter vier Augen miteinander sprachen und er eigentlich gar nichts davon mitbekommen sollte. Gut, so betrachtet, barg es natürlich auch ungeahnte Möglichkeiten in sich. Aber dennoch; er hatte ständig ein schlechtes Gewissen.

Als die Mädchen näherkamen, blieb eine von ihnen plötzlich stehen. Tom sah auf und schaute in das braungebrannte Gesicht von Miss Delaware. Sie war immer mit der Rothaarigen unterwegs gewesen.

„Hey, Joyce, Kelly, seht mal“, flüsterte sie ihren Freundinnen zu. „Ist das dort drüben nicht der Dad von Sushi-Sam? Los, lasst uns mal hingehen. Es gibt da etwas, das mich brennend interessiert.“

Kurz darauf erreichten sie seinen Wagen. Miss Delaware lächelte und beugte sich ein Stück hinab, um Tom durch das heruntergelassene Fenster besser sehen zu können.

„Oh, hallo, Mister Dawson. Ein herrlicher Tag heute, nicht wahr?“, flötete sie.

Er tat unbefangen.

„Miss Delaware. Wie kann ich Ihnen helfen?“

„Oh, ach, wissen Sie …“, stammelte sie. „Meine Freundinnen und ich haben eben ein wenig geplaudert. Um ehrlich zu sein, fragten wir uns, was es wohl für ein wichtiger Termin gewesen sein könnte, für den Sie am Freitag die Hochzeit haben sausen lassen. Ich weiß, es ist indiskret zu fragen. Aber … ach, vergessen Sie es einfach. Dummes Gequatsche. Entschuldigen Sie bitte.“

Tom hob eine Braue. Irgendwas in ihren Worten ließ ihn aufhorchen.

Hochzeit? Von was für einer Hochzeit reden Sie denn?“ Miss Delaware wandte sich den anderen zu und lachte verwirrt. Dann sah sie ihn wieder an.

„Naja, die Hochzeit eben … Die von Ihrem Sohn und … Kriemhild.“ Er erbleichte. Hatte er das etwa richtig verstanden? Sein Puls schnellte in die Höhe und hämmerte gegen die Schläfen, während unbändige Wut in ihm aufstieg. Tom rang nach Fassung und zwang sich zu einem netten Lächeln.

„Ach, natürlich. Die Hochzeit … Wissen Sie, Miss Delaware, der Termin war tatsächlich wichtig und leider unaufschiebbar. In meinem Job kommt das dummerweise öfters vor. Einen schönen Tag noch.“ Ohne auf Antwort zu warten, fuhr er das Fenster hoch und schaute in eine andere Richtung.

Sein Herz donnerte in der Brust und sein Atem ging heftig. Vielleicht hatte er sich doch verhört? Das alles musste ein Irrtum sein. Samuel war nicht verheiratet! Nicht mit einer … Menschenfrau! Nicht ohne Toms Wissen. Seine Familie würde ihn niemals derart hintergehen. Doch ein letzter Blick in Richtung Miss Delaware ließ keinen Zweifel daran. Selbst wenn Tom sich dagegen gewehrt hätte, ihre Gedanken waren nicht zu überhören. Sie fragte sich in dem Moment, wieso er solche kühle Arroganz ausstrahlte und was für ein Termin wichtiger gewesen sein könnte als die Hochzeit seines eigenen Sohnes.

Toms Fäuste umklammerten das Lenkrad und beinahe wäre das butterweiche Leder seinem zerstörerischen Griff gewichen. Dann sah er Lynn. Sie kam über das Kopfsteinpflaster direkt auf den Wagen zu. Seine Hände zitterten so stark, dass er sich zwingen musste, die Kontrolle nicht zu verlieren.