Himmelblaue Briefe

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Himmelblaue Briefe
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Kapitel 1

Keine Ablenkung ist vollkommener als nächtelanges Tanzen in sündhaft teuren Clubs.

Wahrscheinlich funktioniert es mit günstigen Clubs genauso gut, aber davon hab ich keine Ahnung.

Ein Joint wird auf der Tanzfläche herumgereicht und auch ich nehme einen Zug. Inhaliere ihren Rauch und tanze mich zum Wummern des Basses immer weiter in Ekstase. In Nächten wie diesen ist alles erlaubt.

In unmittelbarer Nähe stehen Kellner für uns bereit, die uns einschenken werden sobald unsere Gläser geleert sind.

Ich bin hier mit Leuten, die sich meine Freunde nennen. Und dabei habe ich doch gar keine Ahnung wer meine Freunde eigentlich sind. Wir verstehen uns am besten an Orten wie diesen, an denen jeder Satz tonlos im Raum verhallt.

Menschen kommen aus drei Gründen hierher. Entweder wollen sie einfach nur einen spaßigen Abend haben, sie suchen nach einem Partner oder sie wollen sich ablenken. Bei mir ist es letzteres, es ist immer die Ablenkung die ich brauche.

Ich trinke Don Perignon wie an anderen Tagen mein Wasser und es fühlt sich auch genauso notwendig an.

Der Alkohol ist wie ein Stummschalter für die zu lauten Gedanken, die sich ihn ihm befinden.

Normalerweise fahre ich an Abenden wie diesen mit dem Taxi nachhause. Heute aber beschließe ich zu laufen. Ich weiß, dass ich eigentlich zu betrunken dazu bin, aber das ist egal. Ich brauche Abstand. Ich brauche Abstand von diesem Reichtum, der mir immer mehr zu wider wird. Meine Freunde verstehen das nicht. Sie fahren trotzdem Taxi. Aber das ist egal, ich komme auch alleine klar.

Eigentlich sogar viel besser. Ich bin eigentlich viel mehr Introvertiert als extrovertiert, viel mehr hochsensibel als hyperaktiv. Ich lebe ein Leben, das nicht zu mir passt und in dem ich mich von mir selber verstecke. Und es fühlt sich an wie endlich ein erster Schritt zur Rebellion als ich nachhause laufe. Wie viele kleine, torkelnde Schritte. Der Himmel über mir färbt sich schon rosa und in den ersten Häusern gehen Lichter an. Leute werden wach während ich mich auf dem Weg ins Bett mache. Das ist jedes Mal ein seltsames Gefühl.

Doch in der Gegend in der ich zuhause bin muss man nicht Angst haben wenn man als junges Mädchen alleine nachts unterwegs ist. Es gibt überall Alarmanlagen an den Häusern und alles ist so gut überwacht, dass es sehr unwahrscheinlich ist von herumlungernden Menschen angemacht zu werden.

Die Gegend hier ist richtig schön, wenn man auf englischen Rasen steht und auf seelenlosen Häusern abfährt, die alle vom selben überteuerten Einrichtungsmagazin dekoriert wurden. Der Boden hier ist so glatt und sauber, dass es ein leichtes ist auf meinen zehn Zentimeter hohen Absätzen darüber zu schreiten ohne Angst um ihren Zustand haben zu müssen.

Mein Kopf dröhnt, ich höre immer noch die Musik die sie im Club gespielt haben. Vielleicht habe ich es in dieser Nacht doch ein wenig übertrieben.

Aber jetzt bin ich zuhause. Ich biege in unsere Einfahrt ein und halte meinen Finger an unsere Haustür, die sich darauf surrend öffnet. Fast wäre ich mit meiner Clutch am Buchsbaum neben der Tür hängen geblieben. Wäre schade um ihn, da der Gärtner sich immer so viel Mühe gibt ihn in Form zu halten.

Ich mag diesen Buchsbaum auch wenn ich mir wünschen würde, dass wir hier stattdessen einen echten Baum stehen haben würden. Eine Tanne zum Beispiel. Einen wilden, starken Baum, der nicht regelmäßig gestutzt werden muss um in Form zu bleiben. Ich würde mir ein bisschen mehr Wildheit anstatt Berechenbarkeit wünschen. Aber da bin ich wohl in der falschen Welt geboren.

Um nicht völlig den Boden unter den Füßen zu verlieren, mache ich manchmal eine kleine Übung wenn ich nachhause komme. Diese Übung mache ich auch heute.

Sie funktioniert so, dass ich mich in unsere Eingangshalle stelle und versuche mir vorzustellen, ich wäre das erste Mal in diesem Haus. Ich betrachte dann den Marmorboden unter meinen Füßen und den großen glänzenden Kronleuchter, der in der Mitte des Raumes hängt. Ich schaue auf das glänzende Klavier das an der Wand neben einem kniehohen Strauß Rosen steht. Ich blicke die Treppe hinauf, die an amerikanische Filme erinnert. Und dann laufe ich nach oben als würde ich es das erste Mal tun. Ich spüre die Wärme der Fußbodenheizung, die meine Sohlen wärmt. Meine Absatzschuhe trage ich inzwischen in der Hand. Ich trage sie in mein eigenes Ankleidezimmer, das direkt neben meinen Schlafzimmer liegt. Ich versuche auch mein Ankleidezimmer so zu betrachten, als sähe ich es zum ersten Mal. Es ist so groß, dass es locker als ein Zimmer für ein weiteres Kind dienen würde. Vielleicht für die Schwester die ich mir immer gewünscht habe oder gerne auch für einen Bruder. Ich lege meine Schuhe vorsichtig in ihren Karton und stelle ihn zu den fünfzig anderen, die sich inzwischen angesammelt haben. Dann geht es weiter in mein Schlafzimmer. In meinem Schlafzimmer steht ein Sofa das aussieht, als wäre es aus einem alten Schloss gestohlen. Dabei ist es zum Glück doch nur aus dem Möbelkatalog, den ich vorhin schon erwähnt habe. Das Ikea für Leute mit zu viel Geld. Daneben steht direkt mein Schreibtisch, der Platz genug für ganze Lerngruppen bildet. Den Fußboden ziert ein handgeknüpften Teppich den mein Vater mir von einer seiner Geschäftsreisen mitgebracht hat.

Und dann gibt es da noch mein ausladendes Boxspringbett von dem aus man auf eine schwarze Kommode schaut, auf der sich mein Fernseher befand, bevor ich ihn verschenkt habe. Jetzt stehen hier Duftkerzen und Blumen. Ein Stapel meiner liebsten Zeitschriften liegt dekorativ daneben.

Ich lege mich in mein Bett und erkläre mir das Spiel damit für beendet. Und es hat seinen Zweck erfüllt. Den einzigen Zweck den es hat. Es lässt Freude in mir entstehen und Dankbarkeit für das was ich habe. Ich mache diese Übungen um nicht abzustumpfen. Um nicht irgendwann einmal wie meine Eltern zu werden die dieses Haus nur haben um darin planen zu können, was sie alles noch verbessern können. Ich möchte stattdessen lieber sein wie die Leute, die uns ab und zu besuchen kommen und aus nicht ganz so guten Verhältnissen kommen.

Ich möchte staunend innehalten und mich erfreut umsehen.

Mit dieser Übung gelingt mir das mir mein Leben nicht egal wird.

Kapitel 2

Am nächsten Morgen ist die Wirkung des Spieles schon wieder verflogen. Ich kann mich über nichts so richtig freuen, alleine schon deshalb weil mein Kopf viel zu sehr dröhnt und alle Gegenstände leicht verschwimmen, wenn ich mich im Zimmer umsehen will. Zum Glück gehörte ich noch nie zu denjenigen, die sich nach einer langen Partynacht übergeben müssen. Trotzdem bin ich weit entfernt davon mich gut zu fühlen.

Es klopft an der Tür und meine Mutter Helena tritt ein. Seit ein paar Monaten hat sie verstanden, dass es zwecklos ist mir die Partys zu verbieten. Solange ich mich an Samstagen wie diesen hinsetze um für die Schule zu lernen, ist das okay für sie. Auf ihrer frisch manikürten Hand liegt eine Schmerztablette, die meiner Einschätzung nach zu stark für mich ist. Sie reicht sie mir trotzdem. „Hier nimm die. Und dann schau dass du auf die Beine kommst. Ich habe dir Nachhilfeunterricht für später bestellt.“ Ich rufe ihr demonstrativ auch einen guten Morgen hinter her, während Mum sich auf dem Weg zur Tür macht. „Ja dir auch einen guten Morgen.“ Murmelt sie als sie schon wieder im Flur ist.

Vielleicht ist meine Bildung die einzige Hinsicht in der sich meine Eltern jemals einig waren. Sie haben beide schon längst Ziele für mich gesteckt, als ich noch nicht einmal wirklich wusste was Ziele überhaupt bedeuten. Und sie hatten Rückschläge einzustecken mit mir. Als sie mich einschulen wollte, gaben ihnen die Erzieher zu verstehen, dass ich noch nicht bereit dazu war. Ich brauchte ein Jahr länger als die anderen Kinder um bereit zu sein und im Grunde genommen bin ich es heute immer noch nicht. Auch jetzt noch fühle ich mich fehl am Platz wenn ich über meinen Heften hänge.

Meine Gedanken tragen mich zu ganz anderen Orten und ganz andere Fragen tun sich auf. Fragen, die mir die Schule auch nach elf Jahren noch immer nicht beantworten kann.

Als eine halbe Stunde später die Nachhilfelehrerin in meinem Zimmer steht wird wieder einmal deutlich, dass meine Mutter und ich eine ganz unterschiedliche Auffassung von Zeit haben. Später wäre für mich lang noch nicht jetzt. Denn jetzt liege ich noch im Bett und versuche mich nicht allzu sehr in Gedanken zu verlieren.

Ich frage mich ob Mum eigentlich jemals spürt, dass ich viel mehr eine Anti Depressiver als eine Aspirin Tablette bräuchte. Aber dafür verstecke ich meine Gefühle zu gut. Und damit das auch so bleibt setzte ich mich sofort zu meiner Nachhilfelehrerin an den Schreibtisch.

Die Nachhilfelehrerin heißt Lena und ist gar nicht so viel älter als ich. Sie hat bei weitem nicht so viel Geld wie wir, aber so wie sie sich an der Uni bemüht schätze ich dass sie später einmal genau dieses Leben führen will.

Ihr übertriebener Ehrgeiz macht sie nicht besonders sympathisch. Sie trägt eine zu große Markenbrille, die ihr ständig halb von der Nase rutscht. Der Höflichkeitshalber gebe ich mir trotzdem mühe ihr zuzuhören. Während sie mir von Zahlen berichtet und Summen die diese zusammengerechnet ergeben fällt mein Blick auf meinem Zeichenblock, der auf der Fensterbank liegt.

Bevor es in der Schule immer ernster wurde habe ich ihn öfter benutzt. Ich habe mich manchmal auf die Fensterbank gequetscht und stundenlang die Leute gezeichnet, die außen vorbeiliefen.

Im Grunde habe ich alles gezeichnet. Ich wollte das Leben in mir aufsaugen. Ich wollte es auf diese Blätter bringen um es dann irgendwie zu verstehen.

Ich wollte die Leute verstehen, wenn ich ihre Portraits malte und das Leben wenn ich seine Erscheinungen darstellte.

 

Aber die Malerei kann nicht über all die Geheimnisse dahinter berichten. Im Grunde gibt sie nur wieder, was wir selber hineininterpretieren.

Dann ging es aufs Abi zu, meine Noten wurden schlechter und Mum verbat mir zu malen. So kommt es dass ich jetzt Zahlen nachjage, deren Sinn ich niemals einfangen werde, anstatt mich diesem Block zu widmen. Ich bin froh als die Stunde vorbei ist, sehr froh sogar.

Und ich wage einen Blick hinein in meinen Block und stelle fest, dass mir die Zeichnungen noch immer gefallen. Ich versuchte in jedem einzelnen Menschen der außen vorbei lief das besondere zu sehen und gab es dann wieder. Meine Zeichnungen sind immer ein Versuch die Schönheit in der Alltäglichkeit einzufangen. Ich hänge an den schönen Dingen im Leben. Er kommt mir dann so vor als wäre ich doch richtig auf dieser Welt, selbst wenn es niemanden gibt der so richtig zu mir passt.

Gerade als ich mir überlege wieder ein bisschen zu malen, vibriert mein Handy. Es ist eine Nummer, die ich schon länger aus meinem Adressbuch löschen wollte. Die Nummer von Tim. Er hat vor zwei Jahren den Abschluss an meiner Schule gemacht. Wir hatten einige Dates damals. Und einige auch noch danach, als sein Studium schon angefangen hatte. Dann ließ er mich wissen, dass ihm jetzt die Unabhängigkeit wichtiger war.

Er wollte frei sein in all den Momenten, den sich sein neues Leben bat. Und wahrscheinlich wollte er lieber eine kluge Studentin als mich, die zu sehr mit dem Leben beschäftigt war um sich auf seine Details einlassen zu können.

Er war der erste für den ich Gefühle hatte. Der erste den ich erlaubte mich richtig zu küssen. Es war nicht viel mehr passiert als diese Küsse und doch war es ihm damals gelungen mich aus meinen Gedanken zu befreien.

Auch wenn ich ihn nicht wirklich liebte, hatte ich ihn doch sehr vermisst nachdem der Kontakt abgebrochen war.

„Lia ich bin es Tim. Ich gebe nächstes Wochenende eine Party im Seehaus. Und ich würde dich gerne dazu einladen. Wenn ich schon mal in der Gegend bin, muss ich dich unbedingt sehen.“

„Ich weiß nicht Tim. Ich kenne da keinen. Ich kenne nicht mal dich so wirklich.“

„Ach komm, jetzt beleidigst du mich aber. Natürlich kennst du mich. Aber überlege es dir einfach und gib nur rechtzeitig Bescheid.“

Und er legt auf, bevor ich antworten kann.

Das Seehaus ist ein sehr edles Restaurant.

Es ist schick und angesagt dort und jeder der etwas auf sich hält und das nötige Geld hat findet sich früher oder später zum Essen und feiern ein. Es ist ein Lokal mit unausgesprochenem Dresscode. Die Blicke der Türsteher und anderer Gäste reichten, um zu verstehen dass hier langweilige Alltagsoutfits nicht erwünscht sind.

Ich war dort einige Male mit Freunden zum Abendessen oder an der Bar auf ein paar Drinks.

Alles ist dort überteuert und die Hälfte der Gäste sind unzufriedene Geschäftsleute in der midlife crises.

Wenn man das allerdings erfolgreich ausblenden kann ist die Atmosphäre dort beeindruckend.

Und Tim schafft es einfach immer wieder mich von seinen Plänen zu überzeugen. Selbst nach dieser langen Zeit des Schweigens zwischen uns.

Ich lege den Block wieder auf die Seite und gehe stattdessen in Mums Kleiderzimmer. Zwar sind es noch fünf Tage bis zur Party, aber ich bin gerne vorbereitet. Und außerdem kam sie vorhin während der Nachhilfe kurz rein um sich zu verabschieden. Das bedeutet, dass ich das Haus nun ganz für mich alleine habe. Mum teilt gerne und bereitwillig ihre Kleidung mit mir, aber wenn sie nicht da ist sehe ich mich doch noch ein kleines bisschen lieber um.

Es ist nicht so, als ob sie unbedingt meinen Geschmack hätte. Sie hat aber den Geschmack den die Leute hier mögen.

Den Geschmack, mit dem man problemlos ins Seehaus hereinkommt.

Ihr Kleiderzimmer ist noch größer als meines, aber dafür teilt sie es sich auch mit meinen Vater.

Er liegt allerdings nicht so viel Wert auf Mode und setzt lieber auf altbewehrte Anzüge.

Als ich mich gerade versuche zwischen einem silbernen Plisseerock und einem Kleid mit Spitzenbesatz zu entscheiden, fällt mein Blick auf ein anders Stück Stoff.

Ein glänzendes Seidenkleid in navy. Es ist nicht so auffallend wie die anderen der beiden Stücke und trotzdem in seiner Eleganz nicht zu übertreffen. Der Schnitt, der Stoff, die Art wie es sich anfühlt.

Es muss neu in Mums Sammlung sein. Vorsichtig nehm ich es von seinem goldenen Bügel und halte es mir vor den Körper. Die Marke lässt mich seinen Preis erahnen. Vorsichtig schlüpfe ich hinein und stellte mich vor dem antiken Spiegel, die Krönung in diesem Kleiderzimmer. Und es sitzt perfekt. Es umspielt fließend meine Kurven. Meine Wahl für die Party im Loft steht.

Ich lasse meine Hände in die kleinen seitlichen Taschen kleiden, posiere ein bisschen vor dem Spiegel und spüre dann ein Papier in meinen Händen. Da es mich stört ziehe ich es heraus.

Es ist ein Brief von einem Mann, dessen Schrift mir fremd ist. Ein Brief von einem Mann, dessen Namen mir nichts sagt. Ein Brief in dem ein Mann meine Mutter anhimmelt und sich für gemeinsame Stunden bedankt. Es gibt kein Datum auf diesem Brief, aber da das Kleid noch neu ist muss es auch der Brief sein.

Und der Brief besagt, dass Mum einen Verehrer hat.

Meine Mum, die für ihre Arbeit und den Ruf unserer Familie lebt. Meine Mum, die das beste Beispiel im vorzeigbaren Benehmen ist. Meine Mum, die mit Dad eine feste Einheit darstellt. Nach dem was ich hier sehe hat sie eine Affäre.

Wenn ich eine beste Freundin gehabt hätte, würde ich sie in diesem Moment anrufen. Ich würde ihre Nummer wählen und ihr mit stockender Stimme von meiner Entdeckung berichten. Aber da gibt es niemanden. Da sind Leute die mich interessant finden und Leute die mich bewundern und Leute, die ich meine Freunde nenne. Aber mit keiner von ihnen verstehe ich mich so gut, dass sie den Titel der besten verdient hätte.

Das ist ziemlich traurig, besonders in diesem Moment denn nun weiß ich nicht was ich tun sollte. Ich stehe einfach da vor dem Spiegel und lese den Zettel immer wieder. All die unangebrachten Komplimente für meine Mum und die Dankbarkeit für das, was sie ihn gibt. Der Brief ist nahezu kitschig, dabei passt Kitsch nicht zu meiner Mum. Sie ist alles andere als eine kitschige Person, besonders wenn es um Liebe geht. Und doch war da nun dieser Brief, der eine Seite von ihr offenbart von der ich nichts wusste. Die mir Angst macht und mich überfordert.

In diesem Moment höre ich wie unten die Tür surrend ins Schloss fällt. Mum muss nachhause gekommen sein. Schnell schlüpfe ich aus dem blauen Seidenkleid, stecke den Brief zurück in der Tasche und hänge es an seinem Platz.

Jetzt ist es meine Aufgabe so zu tun als wäre nichts gewesen, denn ich fühlte mich nicht bereit für das was sie beichten könnte.

„Lia ich habe uns was vom Italiener mitgebracht, Zeit zum Abendessen!“ ruft sie und so sehr ich mich auch anstrengte eine Veränderung an ihr zu Bemerken, sind es doch nur meine eigenen Gefühle die sie mir so fremd wirken lassen.

Mum bringt meistens Essen aus Restaurants mit, denn sie kocht nicht gerne und hat meistens auch nicht die Zeit dazu.

Wir essen außen auf der Terrasse im Licht der untergehenden Sonne.

In einem Punkt ist Mum wie alle Mütter: Ich kann ihr nichts vormachen. Sie merkt immer wenn etwas mit mir nicht stimmt, ganz egal wie gestresst sie gerade ist.

„Was ist denn los? Schmeckt dir das Essen nicht?“

Ich wäre so froh wenn es das wäre. Aber die Lasagne schmeckt fantastisch und es gibt nichts was ich daran aussetzen könnte.

„Mir ist es nur ein bisschen übel. Ich lege mich glaub bald ins Bett.“ Mum legt mir besorgt eine Hand auf die Stirn und kramt ein Schächtelchen mit Schüßler salzen aus ihrer Designerhandtasche. Sie ist immer bestens mit Medizin ausgestattet, denn ihr Job lässt es nicht zu dass sie kränkelt.

Während ich die Tabletten schlucke hoffe ich insgeheim, dass sie auch gegen Verzweiflung wirken.

Ich wünsche Mum eine gute Nacht und gehe auf mein Zimmer.

Es ist schon immer mein liebster Rückzugsort in diesem Haus. Ich hätte, Tage, Wochen und vielleicht sogar Monate darin verbringen können.

Es macht mir nichts aus alleine zu sein. Ich liege gerne einfach nur auf meinem Bett und schaue an die Wand den Lichtpunkten dabei zu, wie sie durchs Zimmer tanzen. Oder ich höre Musik und zeichne. In meinem Zimmer kann ich Zeit und Raum vergessen.

In meinem Zimmer kann ich weinen, ohne daran erinnert zu werden stark sein zu müssen.

Und das tut gut, unglaublich gut. Ich weine den Schmerz darüber weg, dass mein Leben aus seinen sehr geordneten Fugen gerät.

Vor meinen Augen sehe ich Bilder, wie Mum einen fremden Mann mit der Hand streichelt, die ihren Ehering trägt. Und werde gleich darauf wütend auf mich selber. Wütend, weil ich an so etwas glaube. Weil ich davon ausgehe, dass sie sich auf den Mann einlässt. Weil ich nicht mal eine geringe Hoffnung habe, dass es vielleicht doch einseitig sein könnte, ganz egal wie offensichtlich es auch ist. Ich bin sauer, weil sich meine Eltern nicht gut genug verstehen um eine Affäre unmöglich machen zu lassen. Und ich bin sauer auf Mum, weil sie uns in diese Situation bringt. Meinen Dad und mich. Sicher ist er nicht immer so wie ich es mir wünschen würde, aber das hat er trotzdem nicht verdient.

Es wird Zeit für eine Ablenkung. Zeit für eine Kugel Kirscheis. Meine Lieblingssorte seit ich denken kann.

Kapitel 3

In der Schule kann ich mich kaum konzentrieren. Immer wieder muss ich an den Brief denken und daran, was er für unsere Familie bedeuten könnte. Ich überlege kurz ob ich es meinen Freundinnen erzählen soll und lasse es dann doch lieber bleiben. Sie alle haben einen so guten Eindruck von meinem Leben, dass es mir nicht leicht fallen würde ihn zu zerstören.

Und außerdem sind sie nur damit beschäftigt an die Party zu denken, zu der mich Tim eingeladen hat.

Ich bin die einzige, die er gefragt hat. Dabei war er der Schwarm der Schule. Und ich weiß, dass sie so tun als würden sie sich für mich freuen obwohl das nicht der Wahrheit entspricht. Eigentlich wünscht sich jede von ihnen an meiner Stelle zu sein.

Ich frage mich an welcher Stelle ich stattdessen gerne wäre.

„Was planst du denn anzuziehen? Ein richtig heißes Teil muss her Lia. So scharf, dass er die anderen Mädchen gar nicht mehr anschaut.“ Sie stoßen sich gegenseitig in die Seite und kichern aufgeregt.

Ich driftete in meinen Gedanken immer wieder ab. Es wäre Dad gegenüber nicht fair es nicht zu erwähnen. Ich muss es ihm sagen. Vielleicht können wir dann gemeinsam eine Lösung finden.

„Mach es doch nicht so spannend.“

Ah richtig, das Gespräch.

„Es wird auf jeden Fall nicht das dunkelblaue Seidenkleid.“ Sie sehen mich fragend an. Das habe ich gerad gar nicht sagen wollen.

„Ah du meinst das aus der neuesten Kollektion von Valentino? Das ist doch wunderschön.“ Ja vielleicht ist es das und trotzdem würde ich es nicht tragen und den silbernen Rock genauso wenig. Falls ich wirklich auf diese Party gehe muss es etwas aus meinem eigenen Kleiderschrank sein, etwas dass mich nicht die ganze Zeit an diesen Brief erinnern wird.

Zuhause versuche ich am Verhalten meiner Eltern zu erahnen, ob Dad von der Affäre weiß. Es sind immer nur ein paar Stunden am Abend die sie gemeinsam verbringen. Im Grunde ist es nur das Abendessen. Danach setzt sich Mum vor dem Fernseher um ihre Lieblingsserie zu sehen und schläft dabei irgendwann ein.

Dad verbringt meistens noch ein bisschen Zeit in seinem Arbeitszimmer und weckt Mum wenn er fertig ist. Sie gehen dann gemeinsam hoch um zu schlafen.

Große Romantiker waren sie beide noch nie und dennoch ist da ein starkes Band zwischen ihnen, das ihre Beziehung seit Jahren zusammen hält

Da nichts an ihrem Verhalten verändert wirkt gehe ich davon aus, dass Mum Dad nichts erzählt hat.

Und auch ich kann es ihm nicht sagen, da ich seine Welt nicht zerstören will. Ich weiß, dass meine Welt unmittelbar davon betroffen ist wenn ich es tue – und dafür bin auch ich noch nicht bereit.

Kapitel 4

Es ist der Abend der Party und ich werde dabei sein. Ich werde mich der Möglichkeit die sich mir mit Alkohol und süßen Jungs bietet nicht verwehren. Ablenkung kann ich gebrauchen, ich sehne mich nahezu danach.

 

Tim hat mir noch einige Nachrichten geschrieben und schließlich habe ich mich gerne überzeugen lassen.

Im Bad vor unserem vergoldeten Spiegel mache mich für die Party zurecht und muss dabei an meine Klassenkameradinnen denken. Ich fühle mich ihnen oft so fremd und bin doch eigentlich gar nicht so anders.

Verurteilung fällt leichter als Einsicht. Denn auch wenn ich im Gegenzug zu ihnen nicht oberflächlich und gewöhnlich sein will - so bin ich es dennoch.

Auch ich stehe Stunden im Bad bevor ich mich zu einer Veranstaltung aufmache und auch bei mir drehen sich die Gespräche oft genug um teure Designer und neueste Lippenstifte. Es sind die Themen, mit denen man hier respektiert wird. Über die man sprechen kann ohne seine Seele offenbaren zu müssen.

Ähnlich wie die Schminke verbergen sie wer man wirklich ist.

Ich klebe mir die falschen Wimpern auf und gehe mit dem Glätteisen so lange über meine Haare, bis jede Strähne perfekt ist. Foundation, Puder, Liedschatten. Alles Produkte, die mir helfen so wahrgenommen zu werden wie andere es erwarten. Genauso wie die richtigen Gespräche, seit Jahren antrainiert.

Und jedes Mal wenn ich fertig bin sehe ich in den Spiegel und erkenne mich selbst kaum wieder.

Ich trage eine Maske die mich seit Jahren begleitet.

Ein schrilles Hupen bringt mich in den Moment zurück.

Mein Taxi ist da. Es wird mich zum Seehaus bringen.

Als ich ankommen bin nickt mir der Türsteher zu und winkt mich durch. Und ich bin froh darum. Denn ich wollte nichts von Mums Garderobe tragen. Nicht nachdem was war.

Tim hat die Terrasse für uns gemietet, die wie ein Steg über den kleinen See reicht. Überall sind Sitzgruppen aufgestellt und in silberne Laternen sorgen Kerzen für besonderes Licht.

Er steht bei einer Gruppe junger Leute, die ich nicht kenne und scherzt mit ihnen rum. Ich beobachte ihn eine Weile von weitem. Er hat sich kaum verändert seit wir uns das letzte Mal gesehen haben. Er strotzt noch immer vor Selbstbewusstsein.

Es ist als hätte er eine Ahnung vom Leben, die wir anderen nicht haben.

Und dann sieht er mich und lässt seine Freunde stehen um mich zu begrüßen.

„Schön dich wiederzusehen. Du siehst gut aus.“ Und er haucht mir Küsse auf die Wangen und zeigt mir meinen Platz.

Ich kenne die Leute am Tisch nicht, aber das ist nicht schlimm da ich hier sowieso kaum jemanden kenne. Die meisten sind älter als ich. Tim winkt einen Kellner zu uns heran und lässt mir einschenken. Dann stoßen wir alle auf ihn an und ich frage mich, ob überhaupt einer ihn richtig kennt.

Auf Partys wie diesen geht es immer viel mehr darum so zu tun als ob. Als hätte man eine Verbindung, auch wenn diese niemals besonders tiefgreifend ist.

Tim entschuldigt sich um die nächsten Gäste zu begrüßen.

Ich beobachte wie er eine große, schwarzhaarige Frau lange umarmt und frage mich ob er sie von der Uni kennt.

Irgendwann wird die Musik aufgedreht und die ersten haben genug Alkohol intus um mit dem Tanzen zu beginnen.

Ich sehe ihnen zu, beobachte wie sie versuchen ihre Körper im Takt der Musik zu bewegen.

„Komm wir tanzen auch ein bisschen!“ eine meiner neuen Bekannten stupst mich aufmunternd in die Seite, aber ich bin noch nicht so weit.

Stattdessen stelle ich mir vor, ob meine Eltern jemals auch so gewesen sind. Ich weiß dass sie früher Dates hier hatten. Ich weiß dass sie einmal glücklich miteinander waren. Es gab Zeiten, da waren sie sich selbst genug und ich frage mich wie sich das ändern konnte und warum ich es verpasst habe.

Ich frage mich warum Geheimnisse entstanden sind und wie ich es schaffen kann sie zu bewahren, ohne dabei verrückt zu werden.

„Stimmt etwas nicht? Du wirkst ein bisschen bedrückt.“

„Ich glaube meine Mum hat eine Affäre.“

„Die erste? Meine hat ständig Affären. Langsam nervt es richtig.“

Und wieder einmal frage ich mich, in welcher Welt ich hier eigentlich lebe.

„Naja, wenn du dann auch so weit bist, kannst du ja nachkommen.“ Sagen sie und ich weiß, dass es ihnen im Grunde egal ist.

Sie gehen tanzen und ich sitze alleine hier.

Fühle mich wieder als Beobachterin meiner Welt. Die ersten Jungs grölen bereits betrunken herum und ein Kellner muss kommen, um sie zu besänftigen. Innen sitzt schließlich die feine Gesellschaft. Sie haben vergessen, dass sie früher auch einmal so waren. Jung, wild und auf dem besten Weg in einen langweiligen Bürojob.

Irgendwann kommt Tim und fragt ob er sich zu mir setzen kann. Er hält zwei Champagner Gläser in der Hand und reicht mir eins. „Hier hab ich dir mitgebracht. Du siehst heute so nachdenklich aus.“

„Sieht man mir das so deutlich an?“ „Sehr deutlich, ja. Dein Gesicht spricht Bände. Man sieht richtig wie es in deinem Kopf rattert. Was ist denn los?“

„Ach nur Probleme zuhause.“ „Und dabei ist dein zuhause doch perfekt.“ Sagt er und ich frage mich, wie er das wissen kann wo er doch so selten bei mir war. „Egal was es ist kann es nicht wichtig genug sein um dir den Abend zu verderben. Wir sind jung. Wir sollten feiern. Und dieses wahnsinnig leckere Zeugs hier trinken.“ Und er nimmt sein Glas und stößt es gegen meines bevor er trinkt. „Also was ist? Wollen wir tanzen?“ fragt er schließlich. Ich fühle mich noch immer nicht bereit. „Geb mir noch ein paar Minuten und geh ruhig schon vor.

Ich finde dich dann schon.“

Und ich beobachte wie er hüftenschwingend in der Menge verschwindet. Und irgendwann möchte ich nicht mehr nur alleine auf dem Sofa sitzen und mir Gedanken über die komplizierte Beziehung meiner Eltern machen. Irgendwann will auch ich auf die Tanzfläche hinaus. Das bunte Licht der Diskokugel spiegelt sich auf der Oberfläche des Sees wieder und die Stimmung ist toll. Und Tim ist da. Er wartet auf mich. Er lächelt mir entgegen. Und ich gehe auf ihn zu und er nimmt meine Hand, legt sie um seine Hüften und dann beginnen wir zu tanzen.

Ich spüre seine Muskeln, rieche seinen Duft in dem sich Männerdeo mit Zigarrenrauch vermischt. Und irgendwie ist er interessant. Irgendetwas hat er an sich, dass mich mitzieht. Er ist so von sich selbst überzeugt, dass man selbst es irgendwie auch sein muss. Er lässt gar keine andere Wahl.

Und vielleicht wird es langsam Zeit für mehr.

Vielleicht ist mir Alkohol heute nicht Ablenkung genug.

Tim hat das Leben schon immer genossen ohne groß über Probleme nachzusinnen. Alles an ihm wirkt so mühelos, dass es ziemlich faszinierend ist für ein Mädchen wie mich, das ständig in ihren Gedanken feststeckt. Vielleicht hat er noch Potenzial. Vielleicht verrät er mir was ich vom Leben noch nicht weiß. Und er flüstert mir ins Ohr ob wir einen Spaziergang machen wollen, weil es hier auf der Tanzfläche viel zu laut ist um sich zu unterhalten.

Und so verlassen wir die Tanzfläche und spazieren zum See.

Ich muss mein Kleid festhalten, damit es von der leichten Sommerbriese nicht davon gehoben wird.

„Lia, du siehst super aus.“ Sagt Tim und haucht mir einen Kuss auf die Wange. Ich bin froh, dass ich mich letztendlich doch für eigene Sachen entschieden habe, anstatt den Stil meiner Mutter nachzuahmen.

Und so trage ich heute ein Tunikakleid und hochhackige Sandalen dazu. Das Kleid von Valentino ist weiterhin in Mums Schrank – genauso wie der Brief darin.

„Schön, dass wir mal wieder ein bisschen sprechen. Du hast mir nämlich gefehlt in letzter Zeit.“

„Ja wirklich? Obwohl ich so nachdenklich bin?“

„Jeder hat mal einen nachdenklichen Tag, das wird schon wieder.“ Und ich frage mich wie er reagieren würde, dass das hier nur eine weitere Folge ist. Ein weiterer Höhepunkt an Nachdenklichkeit, die mich schon seit Jahren begleitet.