»Gestern?« versetzt Frascolin, bemüht, sich den Sinn dieser dunkeln Rede zu deuten.
»Gewiss! Heute befinden Sie sich in einer ganz unabhängigen, freien Stadt, auf die die Union gar kein recht hat, die nur sich selbst regiert …«
»Und deren Name lautet …?« fragt Sébastien Zorn, bei dem schon die angeborene Reizbarkeit durchzubrechen anfängt.
»Deren Name?« antwortet Calistus Munbar. »Gestatten Sie mir, ihn vorläufig noch zu verschweigen.«
»Und wann werden wir ihn erfahren?«
»Wenn Sie den Besuch der Stadt vollendet haben, worüber sie sich übrigens sehr geschmeichelt fühlen wird.«
Dieser so zurückhaltende Amerikaner ist mindestens ein eigenartiger Mann. Alles in allem kommt nicht so viel darauf an. Vor der Mittagsstunde wird das Quartett seinen merkwürdigen Spaziergang vollendet haben, und wenn es den Namen der Stadt auch erst im Augenblick der Abreise davon erfährt, kann es sich jawohl damit begnügen. Auffällig an der Sache ist nur eines: Wie kommt es, dass eine so bedeutende Stadt an der Küste Kaliforniens liegt, ohne der Föderation der Vereinigten Staaten anzugehören, und ferner, wie sollte man es erklären, dass der Führer der Kutsche nicht darauf gekommen war, ihrer Erwähnung zu tun? Das wichtigste bleibt es immerhin, dass die vier Künstler vor Ablauf von vierundzwanzig Stunden in San Diego eintreffen, wo ihnen dieses Rätsel schon gelöst werden wird, im Falle, dass Calistus Munbar sich nicht dazu herbeiließe.
Diese wunderliche Persönlichkeit hat sich aufs neue ihrer wortreichen Beschreibungslust hingegeben, nicht ohne durchblicken zu lassen, dass sie sich auf weitere Erklärungen nicht einzulassen wünscht.
»Meine Herren«, sagt der Amerikaner, »hier stehen wir nun am Eingange zur Siebenunddreißigsten Avenue. Betrachten Sie die bezaubernde Perspektive! Auch hier gibt es keine Magazine oder Bazare, so wenig wie den Straßentrubel, der sonst die Handelstätigkeit kennzeichnet. Nur große Privatwohungen; die Insassen derselben sind aber nicht so vermögend, wie die der Neunzehnten Avenue, es sind mehr kleine Rentiers mit zehn bis zwölf Millionen …«
»Arme Schlucker, nicht wahr?« spöttelt Pinchinat, dessen Lippen sich zu einem mitleidigen Lächeln verziehen.
»Oho, Herr Bratschist«, erwidert Calistus Munbar, »einem anderen gegenüber kann man immer ein halber Bettler sein. Ein Millionär ist ja schon reich gegen den, der nur hunderttausend Francs besitzt; er ist es aber nicht gegen den, der hundert Millionen sein eigen nennt!«
Wiederholt konnten unsere Künstler bemerken, dass von allen Wörtern, die ihr Cicerone gebrauchte, das Wort »Million« – ein Wort von wahrhaft zauberischer Wirkung – am häufigsten wiederkehrte. Beim Aussprechen desselben blies er die Backen so stark auf, dass es einen richtig metallischen Klang bekam. Es schien fast, als prägte er beim Sprechen schon Goldstücke aus. Sind es auch keine Diamanten, die seinen Lippen, wie dem Munde des Patenkindes der Feen Perlen und Smaragde, entquellen, so sind es mindestens vollwertige Goldstücke.
Noch immer spazieren Sébastien Zorn, Pinchinat, Frascolin und Yvernes durch die merkwürdige Stadt, deren geographische Bezeichnung ihnen noch unbekannt ist. Hier belebte Straßen mit einer Menge Menschen in höchst anständiger Kleidung, ohne dass das Auge jemals durch die Lumpen eines Verarmten verletzt wird. Überall Tramwagen, Karren und andere Gefährte, die alle mittels Elektrizität bewegt werden. Einzelne große Verkehrsadern sind mit beweglichen Trottoirs versehen, die mittels einer endlosen Kette im Kreise laufen und worauf die Leute so lustwandeln, als ob sie in einem fahrenden Bahnzuge hin und her gingen, an dessen Eigenbewegung sie natürlich teilnehmen.
Außerdem verkehren besondere elektrische Wagen, die auf der Straße so sanft wie die Bälle auf der Billardtafel dahinrollen. Equipagen im eigentlichen Sinne des Wortes, also Wagen für ausschließliche Personenbeförderung, die von Pferden gezogen werden, trifft man nur in den allerreichsten Stadtteilen.
»Ah, da ist auch eine Kirche!« ruft Frascolin.
Er zeigt dabei nach einem sehr massiven Bauwerke ohne hervortretenden architektonischen Stil, eine Art »Savoyischer Pastete«, die man in die Mitte eines Platzes mit üppigen Rasenflächen gesetzt hat.
»Das ist der protestantische Tempel«, erklärt Calistus Munbar, während er vor dem Gebäude haltmacht.
»Gibt es in Ihrer Stadt auch katholische Kirchen?« fragt Yvernes.
»O ja. Übrigens muss ich Ihnen bemerken, dass wir in unserer Stadt, obwohl es auf der Erde gegen tausend verschiedene Religionen gibt, nur dem Katholizismus oder dem Protestantismus huldigen. Es ist hier nicht so wie in den Vereinigten Staaten, die durch die Religion – wenn nicht schon durch die leidige Politik – veruneinigt werden und wo es ebenso viele Sekten wie Familien gibt, wie z.B. Methodisten, Anglikaner, Presbyterianer, Anabaptisten, Wesleyaner usw. – Hier leben nur Protestanten vom calvinistischen Bekenntnis oder römische Katholiken.«
»Und welcher Sprache bedient man sich meist?«
»Englisch und französisch werden gleich geläufig gesprochen.«
»Unseren Glückwunsch dazu!« sagt Pinchinat.
»Die Stadt ist deshalb«, fährt Calistus Munbar fort, »in zwei annähernd gleiche Hälften geteilt. Hier befinden wir uns …«
»In der westlichen Hälfte, glaub’ ich?« fällt Frascolin ein, der sich nach dem Stande der Sonne orientiert.
»In der westlichen?… Nun ja, wenn Sie wollen …«
»Wie?… Wenn ich will?« erwidert die zweite Geige, sehr erstaunt über eine solche Antwort. »Verändern sich denn die Himmelsrichtungen der Stadt nach dem Wunsche jedes Beliebigen?«
»Ja und nein …« antwortet Calistus Munbar. »Doch davon später. Ich komme also auf diese Stadthälfte zurück … auf die westliche, wenn es Ihnen so beliebt, ausschließlich bewohnt von Protestanten, die auch hier immer praktische Leute geblieben sind, während die raffinierteren, mehr der Fantasie nachgebenden Katholiken die andere Hälfte einnehmen. Ich sagte Ihnen schon, dass das Gebäude vor uns der protestantische Tempel ist.«
»So sieht er auch aus. Bei seinem schwerfälligen Baustile kann das Gebet darin keine Erhebung empor zum Himmel, sondern muss eine Herniederbeugung zur Erde sein …«
»Gut gebrüllt, Löwe!« ruft Pinchinat. »Doch in einer so modern ausgestatteten Stadt, Herr Munbar, kann man wohl auch die Predigt oder die Messe durch das Telefon anhören?«
»Ganz richtig.«
»Und kann auch telefonisch beichten?…«
»So wie man sich mittels Telautografen verheiraten kann, und Sie werden zugeben, dass das eine sehr praktische Einrichtung ist.«
»Das will ich meinen, Herr Munbar«, bestätigt Pinchinat, »praktisch aus dem ff!«
1 Rasthaus an einer Karawanenstraße <<<
2 Die äußere Erscheinung von Lebewesen, insbesondere des Menschen und hier speziell die für einen Menschen charakteristischen Gesichtszüge. <<<
3 Schiffseigner <<<
Um elf Uhr und nach einem so langen Spaziergange ist es gestattet, Hunger zu haben. Unsere Künstler machen von dieser Erlaubnis auch überreichlich Gebrauch. Ihre Mägen knurren im Ensemble und sie selbst harmonieren alle darin, um jeden Preis frühstücken zu müssen.
Das ist auch die Ansicht Calistus Munbars, der ebenso wie seine Gäste der täglichen Nahrungszufuhr bedarf. Da fragten sich die Künstler, ob sie bis nach dem Exzelsior-Hotel zurückkehren sollten.
Ja, denn in der Stadt scheint es nicht viele Restaurants zu geben, und offenbar zieht es jedermann vor, sich auf sein Home zu beschränken. Der Verkehr von Touristen aus beiden Welten ist allem Anscheine nach auch sehr gering.
Binnen wenigen Minuten befördert ein Tramwagen die Hungernden nach ihrem Hotel, wo sie an einer vollbedeckten Tafel Platz nehmen. Hier zeigt sich ein erstaunlicher Gegensatz zu den gewöhnlichen amerikanischen Mahlzeiten, bei denen die Vielheit der Gerichte über deren mangelnde Güte hinwegtäuschen muss. Das Rind- und Hammelfleisch ist vorzüglich; das Geflügel zart und duftend; der Fisch von verlockender Frische. Dazu gibt es, statt des Eiswassers in den Restaurants der Union, verschiedene treffliche Biere und Weine, die unter den Sonnenstrahlen der Rebenhügel von Médoc und Burgund gereift waren.
Pinchinat und Frascolin tun diesem Frühstück alle Ehre an, mindestens ebenso viel wie Sébastien Zorn und Yvernes. Es versteht sich, dass Calistus Munbar nicht unterließ, es ihnen anzubieten, und es wäre doch unhöflich von ihnen gewesen, das nicht anzunehmen.
Der Yankee, dessen Mühle es nie an Wasser fehlt, entwickelt übrigens einen bestrickenden Humor. Er spricht von allem, was die Stadt betrifft, nur nicht von dem, was seine Gäste gern erfahren hätten, d.h. welche die unabhängige Stadt ist, deren Namen er zu nennen zögert. Etwas Geduld, er wird ihn schon verraten, wenn die Besichtigung des Ganzen zu Ende ist. Sollte er gar darauf ausgehen, das Quartett etwas berauscht zu machen, damit es den Abgang des Zuges nach San-Diego versäumte? Nein, doch nach der tüchtigen Mahlzeit trinken alle wacker drauflos, und ebenso sollte das Dessert noch mit einer Tasse Tee begossen werden, da erzittern die Fensterscheiben des Hotels von einer gewaltigen Detonation.
»Was war das?« fragte Yvernes emporschnellend.
»Beunruhigen Sie sich nicht, meine Herren«, antwortet Calistus Munbar, »das war die Kanone des Observatoriums.«
»Wenn sie nur die Mittagsstunde bezeichnen soll«, erwidert Frascolin nach seiner Uhr sehend, »so behaupte ich, dass der Schuss zu spät fiel …«
»Nein, Herr Bratschist, nein! Die Sonne geht hier ebensowenig wie anderswo vor oder nach!«
Dabei umspielt ein eigentümliches Lächeln die Lippen des Amerikaners, seine Augen funkeln unter dem Binokel, und er reibt sich recht sonderbar die Hände. Man möchte glauben, er beglückwünschte sich, einen guten Schelmenstreich ausgeführt zu haben.
Frascolin, der sich von der trefflichen Bewirtung weniger als seine Kameraden gefangennehmen lässt, sieht ihn misstrauischen Blickes an, ohne sich deshalb mehr klarzuwerden.
»Nun, liebe Freunde – Sie gestatten doch, dass ich mich dieser vertraulichen Anrede bediene –«, setzt er in liebenswürdigster Weise hinzu, »wollen wir wieder aufbrechen, um noch den anderen Teil der Stadt zu besuchen; ich käme in Verzweiflung, wenn Ihnen die geringste Einzelheit entginge. Wir haben keine Zeit zu verlieren …«
»Um wie viel Uhr geht denn der Zug nach San Diego ab?« fragt Sébastien Zorn, immer besorgt, seine Engagements nicht durch verspätetes Eintreffen zu verfehlen.
»Ja, welche Zeit?« wiederholt Frascolin dringender.
»O … erst am Abend«, antwortet Calistus Munbar mit dem linken Auge zwinkernd. »Kommen Sie, meine Herren, kommen Sie! Sie werden es nicht bereuen, mich als Führer gehabt zu haben.«
Wie hätte man einer so zuvorkommenden Persönlichkeit nicht folgen sollen? Die vier Künstler verlassen den Saal des Exzelsior-Hotels und schlendern die Straße hinauf. Der Wein muss doch in etwas zu vollem Strome geflossen sein, denn in den Beinen verspüren sie jetzt eine Art Zittern. Der Erdboden scheint eine Neigung zu haben, ihnen unter den Füßen zu entfliehen, obwohl sie sich nicht auf einem der seitwärts weitergleitenden Trottoirs befinden.
»He! He! Halte mich ein – bisschen, Chatillon!« ruft taumelnd Seine Hoheit der Bratschist.
»Ich glaube, wir haben etwas zu viel getrunken«, stammelt Yvernes, indem er sich die Stirn abtrocknet.
»Lassen Sie’s gut sein, meine Herren Pariser, einmal ist ja nicht immer! … Wir mussten doch Ihre Ankunft begießen …«
»Und haben dabei die Gießkanne bis auf den Grund entleert!« fällt Pinchinat ein, der sich dabei nach Kräften beteiligt hat und noch niemals so guter Laune war wie heute.
Unter Leitung Calistus Munbars gelangen sie nun nach einem der Quartiere der zweiten Städthälfte. Hier herrscht weit mehr Leben von minder puritanischem Anstrich, so als wenn man urplötzlich aus den Nordstaaten nach den Südstaaten der Union, aus Chicago nach New Orleans, aus Illinois nach Louisiana versetzt worden wäre. Die Läden hier sind glänzender ausgestattet, die größeren Wohnhäuser sind eleganter, die Villen komfortabler, die Paläste und Hotels ebenso großartig wie in dem protestantischen Stadtteile, und dazu noch von bestrickenderem Aussehen. Auch die Bevölkerung unterscheidet sich durch ihre Haltung, wie ihr Auftreten und Benehmen. Man möchte glauben, hier in einer Doppelstadt, ähnlich den bekannten Doppelsternen zu sein, bis auf den Unterschied, dass sich die beiden Hälften nicht umeinander drehen.
So ziemlich im Herzen der zweiten Hälfte angelangt, bleibt die Gruppe etwa in der Mitte der Fünfzehnten Avenue stehen, und Yvernes ruft:
»Meiner Treu, das ist ein wirklicher Palast!«
»Das Palais der Familie Coverley«, antwortet Calistus Munbar. »Nat Coverley, der Nebenbuhler Jem Tankerdons …«
»Und reicher als dieser?« fragt Pinchinat.
»Das nicht, aber ebenso vermögend«, erklärt der Amerikaner. »Ein Ex-Bankier aus New Orleans, der mehr Hunderte von Millionen als Finger an den Händen besitzt.«
»Ein hübsches Paar Handschuhe, lieber Herr Munbar!«
»Wie Sie das nehmen wollen.«
»Und die beiden Notabeln,1 Jem Tankerdon und Nat Coverley, sind natürlich Feinde …«
»Mindestens Rivalen, die beide in städtischen Angelegenheiten ihr Übergewicht geltend zu machen streben und aufeinander eifersüchtig sind …«
»Und sich schließlich auffressen werden?« fragt Sébastien Zorn.
»Vielleicht, und wenn einer den anderen verschlingt …«
»Das wird einem einen ordentlich verdorbnen Magen geben!« meint die Bratsche.
Calistus Munbar schüttelt sich vor Lachen über den Scherz.
Die katholische Kirche erhebt sich auf einem großen Platze, der ihre glücklich getroffenen Verhältnisse zu bewundern gestattet. In gotischem Stil erbaut, braucht man nicht zu weit zurückzuweichen, um sie betrachten zu können, denn die lotrechten Linien, denen jener Stil seine Schönheit verdankt, verlieren von weither gesehen ihren Charakter. Saint-Mary-Church verdient Bewunderung wegen der Schlankheit ihrer Pinakeln, der Leichtigkeit ihrer Rosetten, wegen der Eleganz ihrer gerippten Wölbungen und der Schönheit ihrer Fenster mit verschlungenem Rankenwerk.
»Ein schönes Beispiel angelsächsischer Gotik!« lässt sich Yvernes vernehmen, der ein begeisterter Liebhaber der Architektonik ist. »Sie hatten recht, Herr Munbar, die beiden Stadthälften gleichen einander ebensowenig, wie der Tempel der einen der Kathedrale der anderen!«
»Und doch, Herr Yvernes, sind die beiden Hälften von einundderselben Mutter geboren …«
»So?… Aber nicht von demselben Vater?« bemerkt Pinchinat dazwischen.
»Gewiss … auch von demselben Vater, meine vortrefflichen Freunde! Sie sind nur in verschiedener Weise hergestellt, indem sie den Bedürfnissen und Wünschen derer angepasst wurden, die hier ein ruhiges, glückliches, sorgenloses Leben suchten – ein Leben, wie es keine andere Stadt, weder in der Alten, noch in der Neuen Welt zu bieten vermag.«
»Beim großen Apoll, Herr Munbar«, antwortet Yvernes, »hüten Sie sich, unsere Neugier allzu sehr zu reizen! Es erscheint, als ob Sie eine musikalische Phrase sängen, die die Tonica zu lange vermissen lässt …«
»Und damit schließlich das Ohr ermüdet«, setzt Sébastien Zorn hinzu. »Ich dächte, der Zeitpunkt wäre gekommen, wo Sie sich entschließen, uns den Namen dieser außergewöhnlichen Stadt nicht länger zu verschweigen.«
»Noch nicht, werte Herren«, erwiderte der Amerikaner, während er das Binokel auf dem Nasenrücken zurechtschiebt. »Gedulden Sie sich bis zum Ende unseres Spaziergangs und lassen Sie uns jetzt weitergehen …«
»Ehe wir das tun«, meldet sich Frascolin, dessen Gefühlen von Neugier sich eine unbestimmte Unruhe beimischt, »hätte ich einen Vorschlag …«
»Und der wäre?…«
»Warum sollten wir nicht den Turm der Saint-Mary-Church ersteigen? Von da aus hätten wir einen vollen Überblick …«
»Nein, das nicht!« wehrt Calistus Munbar ab und schüttelt dazu das buschige Haupt, »jetzt nicht … später einmal …«
»Doch wann?« fragt der Violoncellist, der ob dieser geheimnisvollen Ausflüchte langsam in die Wolle kommt.
»Nach Beendigung unseres kleinen Ausflugs, Herr Zorn.«
»Wir kehren demnach zu dieser Kirche zurück?«
»Nein, liebe Freunde. Wir beschließen unseren Spaziergang durch einen Besuch des Observatoriums, dessen Turm den der Saint-Mary-Church um ein Drittel an Höhe überragt.«
»Ich sehe aber nicht ein«, fährt Frascolin dringender fort, »warum wir die sich hier bietende Gelegenheit nicht benützen sollten …«
»Weil … weil mir damit der Schlusseffekt verdorben würde.«
Eine andere Antwort ist dem rätselhaften Mann nicht zu entlocken.
Da es das beste erscheint, sich ins Unvermeidliche zu fügen, werden die verschiedenen Avenues der zweiten Hälfte gewissenhaft durchwandert. Dem folgt ein Besuch der Handelsviertel, der der Schneider, Schuhmacher, Hutmacher, Fleischer, Gewürzkrämer, Bäcker, Fruchthändler usw. Calistus Munbar, der von den meisten ihm begegnenden Personen gegrüßt wird, erwidert diese Grüße mit eitler Selbstgefälligkeit. Er ermüdet nicht in seinen Standreden, zeigt auf alles Bemerkenswerte hin, und seine Zunge schwingt im Munde ebenso eifrig, wie der Klöppel einer Kirchenglocke am Feiertage.
Gegen zwei Uhr ist das Quartett an dieser Seite zur Grenze der Stadt gelangt, die von einem herrlichen, mit Blumen und Schlingpflanzen verzierten Gitter gebildet wird. Weiter draußen liegt offenes Land, dessen Kreislinie mit dem Horizonte zusammenfällt.
Weiter draußen liegt offenes Land.
Hier macht Frascolin für sich eine Beobachtung, die er seinen Genossen noch nicht mitteilen zu sollen glaubt. Alles wird sich ja auf der Höhe des Turmes vom Observatorium erklären. Diese Beobachtung geht dahin, dass die Sonne, statt sich in Südwest zu befinden, wo sie doch nach zwei Uhr nachmittags sein sollte, jetzt mehr im Südosten steht.
Ein so überlegender Geist wie Frascolin musste darüber notwendigerweise erstaunen, und er fing schon an, sich »das Gehirn zu zermartern«, wie Rabelais2 sagt, als Calistus Munbar seinen Gedanken eine andere Richtung gab, indem er plötzlich ausrief:
»Meine Herren, die Trambahn wird in wenigen Minuten abgehen. Wir wollen nach dem Hafen aufbrechen …«
»Nach dem Hafen?« wiederholt Sébastien Zorn erstaunt.
»Ja, es handelt sich nur um eine Fahrt von höchstens einer Meile (1609 Meter), wobei Sie auch Gelegenheit finden, unseren Park zu bewundern.«
Wenn es hier einen Hafen gibt, so muss er etwas ober- oder unterhalb der Stadt, an der Küste Nieder-Kaliforniens liegen. Wo sollte man ihn sonst suchen, wenn nicht an irgendeinem Punkte dieses Küstenstrichs?
Ein wenig betroffen nehmen die Künstler auf den Bänken eines eleganten Tramwagens Platz, in dem schon mehrere andere Fahrgäste sitzen.
Diese drücken Calistus Munbar die Hand – der Sapperment ist doch aller Welt bekannt – und die Dynamos des Wagens arbeiten mit gewohntem Eifer.
Calistus Munbar hatte recht, die nächste Umgebung der Stadt als »Park« zu bezeichnen. Hier zeigen sich unendlich lange Alleen, saftig grüner Rasen, farbige, grade oder zickzackförmige Umschließungen, Fences genannt; rund um die abgegrenzten Flächen stehen Baumgruppen mit Eichen, Ahorn, Buchen, Kastanien- und Zirbelbäumen, Ulmen und Zedern, alle noch jung und von den verschiedensten Vögeln belebt. Das Ganze ist eine richtige englische Anlage mit plätschernden Springbrunnen und Blumenarrangements, die jetzt in frischester Frühlingspracht prangen, mit Strauchwerk der verschiedensten Arten, wie riesige, denen in Monte Carlo gleichenden Geranien, mit Orangen-, Zitronen- und Olivengebüsch, mit Lorbeerrosen, Mastix, Aloes, Kamelie, Dahlien, weißen Alexandrinerrosen, Hortensien, weißen und rosenroten Lotosblumen, mit südamerikanischen Passionsblumen, reichen Sammlungen von Fuchsien, Salbei, Begonien, Hyazinthen, Tulpen, Krokus, Narzissen, persischen Ranunkeln, bärtiger Iris, Zyklamens, Orchideen, Pantoffelblumen, baumartigem Farn, und ferner mit Vertretern der Tropenzone, wie indischem Blumenrohr, Palmen, Datteln, Feigen, Eukalypten, Mimosen, Bananen, Goyaven (indischen Birnen), Flaschenkürbissen, Kokosbäumen – kurz, mit allem, was der Pflanzenfreund in den reichsten botanischen Gärten nur suchen kann.
Bei seiner Vorliebe für die alte Poesie muss sich Yvernes in die bukolischen Gefilde aus der Geschichte der Asträa versetzt wähnen. Wenn freilich auch die Lämmer den frischen Grasflächen nicht fehlen, rötliche Kühe zwischen den Umgrenzungen weiden und Damwild, Hirschkühe und andere graziöse Vierfüßler zwischen den Bäumen sich tummeln, so wird er doch die Schäfer D’Urfés und dessen reizende Schäferinnen vermissen. Was den Lignon angeht, so wird dieser durch einen geschlängelten Flusslauf ersetzt, dessen murmelndes Wasser durch die leichthügelige Landschaft hingleitet.
Das Ganze erscheint nur wie künstlich geschaffen.
Das Ganze erscheint nur wie künstlich geschaffen.
Der ironische Pinchinat sieht sich deshalb zu der Bemerkung veranlasst:
»Ah, das ist wohl alles, was Sie an Flüssen angelegt haben?«
»An Flüssen?… Wozu sollten sie dienen?« antwortet Calistus Munbar.
»Nun, selbstverständlich, um Wasser zu haben.«
»Wasser … das heißt, eine im Allgemeinen ungesunde, mikrobische und den Typhus gebärende Flüssigkeit?«
»Mag sein, man kann sie aber doch reinigen …«
»Wozu sich erst damit bemühen, wenn man imstande ist, ein hygienisches, von jeder Verunreinigung freies, auf Wunsch auch moussierendes oder eisenhaltiges Wasser zu erzeugen?«
»Sie fabrizieren also Ihr Wasser?« erkundigt sich Frascolin.
»Gewiss, und wir liefern es kalt oder warm in die Wohnungen, ebenso wie wir Licht, Töne, Zeit, Wärme, Kälte, motorische Kraft, Antiseptika und Elektrizität durch Selbstleitung verteilen …«
»Dann darf man wohl auch annehmen«, spöttelt Yvernes, »dass Sie sich den nötigen Regen erzeugen, um Ihre Rasenflächen und Blumen zu erfrischen?«
»Wie Sie sagen, Herr erster Geiger«, versichert der Amerikaner, während er mit den von Juwelen glitzernden Fingern durch den dichten Bart streicht.
»Also Regen auf Befehl!« ruft Sébastien Zorn.
»Jawohl, liebe Freunde, Regen, den ein im Erdboden liegendes Röhrennetz in regelmäßig geordneter, vorteilhafter und praktischer Weise zu spenden und zu verteilen gestattet. Ist das nicht weit besser als zu warten, bis es der Natur zu regnen beliebt, sich den Launen der Klimate zu unterwerfen, auf unpassende Witterung zu schimpfen, die einmal eine zu lange andauernde Nässe und dann wieder eine verzehrende Dürre bietet, ohne Abhilfe schaffen zu können?«
»Halt, hier muss ich Sie festnageln, Herr Munbar!« fällt Frascolin ein. »Zugegeben, dass Sie sich Regen zu verschaffen vermögen, so werden Sie doch nicht imstande sein, ihn zu verhindern, vom Himmel zu fallen.«
»Vom Himmel? Was hat denn der damit zu schaffen?«
»Nun, der Himmel oder, wenn Sie das lieber wollen, die Wolken, die sich entleeren, die atmosphärischen Strömungen mit ihrem Gefolge von Zyklonen, Tornados, Windstößen, Stürmen, Orkanen … Wenn z.B. die schlechte Jahreszeit kommt …«
»Die schlechte Jahreszeit …?« wiederholt Calistus Munbar.
»Ja, der Winter …«
»Der Winter?… Was ist denn das?«
»Ich sagte: der Winter mit Frost, Schnee und Eis!« ruft Sébastien Zorn, den die ironischen Antworten des Yankee in Wut bringen.
»Kennen wir nicht!« versichert Calistus Munbar sehr gelassen.
Die vier Pariser sehen einander an. Haben sie hier einen Narren oder einen Menschen vor sich, der sie nur foppen will? Im ersten Falle müsste er eingesperrt, im zweiten durch eine Tracht Prügel kuriert werden.
Inzwischen rollen die Tramwagen mit mäßiger Schnelligkeit durch die bezaubernden Anlagen dahin. Sébastien Zorn und seine Genossen glauben zu bemerken, dass jenseits der Grenzen dieses großen Parks regelrecht angebaute Landstücke liegen, die mit ihren verschiedenen Farben den Stoffmustern ähneln, wie man solche zuweilen an Schneiderläden ausgestellt findet. Jedenfalls sind das Felder mit Gemüsen, Kartoffeln, Kohl, Mohrrüben, Lauch, kurz mit allem, was zur gewöhnlichen Küche gehört.
Gern wären sie schon draußen im freien Lande gewesen, um zu sehen, was dieses eigenartige Gebiet an Korn, Weizen, Hafer, Mais, Gerste, Buchweizen und anderen Körnerfrüchten hervorbrachte.
Dagegen zeigt sich eine große Werksanlage, deren eiserne Schornsteine die niedrigen, mit mattem Glas eingedeckten Dächer daneben überragen. Die von eisernen Stangen gehaltenen Schornsteine gleichen denen eines Dampfers, eines »Great Eastern«, dessen mächtige Schrauben von hunderttausend Pferdekräften bewegt werden, nur mit dem Unterschiede, dass ihnen statt des schwarzen Rauches nur dünne Wölkchen entsteigen, die die Luft nicht im mindesten verunreinigen.
Diese Anlage bedeckt eine Fläche von zehntausend Quadratyards, also fast einen Hektar. Es ist das erste industrielle Etablissement, das dem Quartett, seitdem es unter Führung des Amerikaners seine »Ausflüge macht«, hier vor Augen gekommen ist.
»Ah, was für eine Anlage ist das?« fragt Pinchinat.
»Eine Fabrik mit Petroleum-Verdampfungsapparaten«, antwortet Calistus Munbar, dessen spitziger Blick die Gläser seines Binokels zu durchbohren droht.
»Und was erzeugt man in dieser Fabrik?«
»Elektrische Energie für den Park, das Feld und überhaupt für die ganze Stadt, wo sie in Kraft umgesetzt wird. Diese Werkstätten liefern auch den Strom für unsere Telegrafen, Telautografen, Telefone, Telefote, für die Klingeln und Küchenöfen, die Arbeitsmaschinen, Bogen- und Glühlampen, für unsere Aluminiummonde und unterseeischen Kabel …«
»Ihre unterseeischen Kabel?« fällt Frascolin lebhaft ein.
»Gewiss, für die, die die Stadt mit verschiedenen Stellen der amerikanischen Küste verbinden …«
»Und dazu war es nötig, ein so ungeheures Werk zu errichten?«
»Das will ich meinen, bei unserem großen Verbrauch an elektrischer … und auch an moralischer Energie!« erwidert Calistus Munbar. »Glauben Sie mir, meine Herren, es hat einer unberechenbaren Dosis von letzterer bedurft, um diese unvergleichliche, in der Welt ohne Rivalin dastehende Stadt zu gründen!«
Weithin in der Umgebung hört man das dumpfe Getöse aus dem riesigen Werke, das mächtige Abblasen des Dampfes, das Stoßen der Maschinen, und fühlt man ein Zittern des Erdbodens als Beweis für die ungeheure Kraft, die alles übertrifft, was in der modernen Industrie bisher geleistet worden ist. Wer hätte ahnen können, dass eine solche Kraft zur Bewegung der Dynamos und zur Ladung der Akkumulatoren nötig gewesen wäre?
Der Wagen rollt weiter und hält nach etwa einer Viertelmeile Weges an der Station beim Hafen. Alle steigen aus, und ihr Führer, der wie immer von Lobpreisungen überfließt, geleitet sie nach den Kais, an denen Niederlagen und Docks errichtet sind. Der Hafen bildet ein Oval, geräumig genug, um etwa ein Dutzend Seeschiffe aufzunehmen. Es ist mehr ein Bassin als ein Hafen, das durch zwei auf Eisengerüsten ruhenden Piers gebildet und an jeder Seite mit einem kleinen Leuchtturm ausgestattet ist, um das Einlaufen von Schiffen zu jeder Zeit zu ermöglichen.