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Jules Verne
Die Abenteuer des Kapitän Hatteras
Band 1 und 2
Jules Verne
Die Abenteuer des Kapitän Hatteras
Band 1 und 2
Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2020
Übersetzung: Jürgen Schulze, Karl Lanz
Illustrationen: Édouard Riou, Henri de Montaut
EV: Hartleben’s Verlag, Wien-Pest-Leipzig, 1875
1. Auflage, ISBN 978-3-962817-75-6
null-papier.de/694
null-papier.de/katalog
Inhaltsverzeichnis
Jules Verne – Leben und Werk
Band 1 – Die Engländer am Nordpol
Erstes Kapitel – Der Forward
Zweites Kapitel – Ein unerwarteter Brief
Drittes Kapitel – Der Doktor Clawbonny
Viertes Kapitel – Kapitän Hund
Fünftes Kapitel – Auf hoher See
Sechstes Kapitel – Die große Polarströmung
Siebtes Kapitel – Die Davis-Straße
Achtes Kapitel – Gespräche der Mannschaft
Neuntes Kapitel – Eine Neuigkeit
Zehntes Kapitel – Gefährliche Fahrt
Elftes Kapitel – Der Teufelsdaumen
Zwölftes Kapitel – Der Kapitän Hatteras
Dreizehntes Kapitel – Des Kapitän Hatteras Pläne
Vierzehntes Kapitel – Zur Auffindung Franklins
Fünfzehntes Kapitel – Der Forward südwärts zurückgetrieben
Sechzehntes Kapitel – Der magnetische Pol
Siebzehntes Kapitel – Katastrophe des Sir John Franklin
Achtzehntes Kapitel – Nordwärts
Neunzehntes Kapitel – Ein Walfisch in Sicht
Zwanzigstes Kapitel – Die Insel Beechey
Einundzwanzigstes Kapitel – Bellots Tod
Zweiundzwanzigstes Kapitel – Anfang des Aufruhrs
Dreiundzwanzigstes Kapitel – Erstürmung der Eisblöcke
Vierundzwanzigstes Kapitel – Vorbereitungen für Überwinterung
Fünfundzwanzigstes Kapitel – Ein alter Fuchs von James Ross
Sechsundzwanzigstes Kapitel – Das letzte Bröcklein Kohle
Siebenundzwanzigstes Kapitel – Die große Weihnachtskälte
Achtundzwanzigstes Kapitel – Vorbereitungen zur Abreise
Neunundzwanzigstes Kapitel – Über das Eisfeld
Dreißigstes Kapitel – Ein Cairn
Einunddreißigstes Kapitel – Simpsons Tod
Zweiunddreißigstes Kapitel – Rückkehr zum Forward
Band 2 – Die Eiswüste
Erstes Kapitel – Die Inventur des Doktors
Zweites Kapitel – Altamonts erste Worte
Drittes Kapitel – Siebzehn Tage unterwegs
Viertes Kapitel – Der letzte Schuss Pulver
Fünftes Kapitel – Robbe und Bär
Sechstes Kapitel – Der Porpoise
Siebtes Kapitel – Eine kartologische Unterhaltung
Achtes Kapitel – Ein Ausflug nach dem Norden der Victoria-Bai
Neuntes Kapitel – Kälte und Wärme
Zehntes Kapitel – Wintervergnügungen
Elftes Kapitel – Beunruhigende Spuren
Zwölftes Kapitel – Im Eisgefängnis
Dreizehntes Kapitel – Die Mine
Vierzehntes Kapitel – Arktischer Frühling
Fünfzehntes Kapitel – Die nordwestliche Durchfahrt
Sechzehntes Kapitel – Arkadien des Nordens
Siebzehntes Kapitel – Altamonts Vergeltung
Achtzehntes Kapitel – Die letzten Vorbereitungen
Neunzehntes Kapitel – Die Reise nach Norden
Zwanzigstes Kapitel – Abdrücke im Schnee
Einundzwanzigstes Kapitel – Das offene Meer
Zweiundzwanzigstes Kapitel – Annäherung an den Pol
Dreiundzwanzigstes Kapitel – Die englische Flagge
Vierundzwanzigstes Kapitel – Eine Lektion in der polaren Kosmografie
Fünfundzwanzigstes Kapitel – Der Berg Hatteras
Sechsundzwanzigstes Kapitel – Rückkehr nach dem Süden
Siebenundzwanzigstes Kapitel – Schluss
Ein Nachwort
Danke
Danke, dass Sie dieses E-Book aus meinem Verlag erworben haben.
Jules Verne gehört zu den Autoren, die jeder schon einmal gelesen hat. Eine Behauptung, die man nicht über viele Schriftsteller aufstellen kann. Die Geschichten von Verne sind unterhaltend, lehrreich und immer sehr atmosphärisch.
In unregelmäßiger Folge wird mein Verlag die Werke von Verne veröffentlichen – die bekannten wie die unbekannten. Immer in der überarbeiteten Erstübersetzung, um den (sprachlichen) Charme der Zeit beizubehalten.
Korrigiert und kommentiert werden Orts- und Personennamen oder offensichtlich falsche Angaben. Sie finden die Erläuterungen in Fußnoten.
Ich habe es mir auch nicht nehmen lassen, die ursprünglichen Namen zu verwenden: Aus dem Johann wird so wieder der ursprüngliche Jean, aus Ludwig wieder Louis und aus Marianne wieder Marie. Ich denke, das tut den Geschichten nur gut.
Sollten Sie Hilfe benötigen oder eine Frage haben, schreiben Sie mir.
Ihr
Jürgen Schulze
Jules Verne bei Null Papier
Jules Verne – Leben und Werk
Beinahe wäre Klein-Jules als Schiffsjunge nach Indien gefahren, hätte eine Laufbahn als Seemann eingeschlagen und später unterhaltsames Seemannsgarn gesponnen, das vermutlich nie die Druckerpresse erreicht hätte.
Jules Verne
Verliebt in die abenteuerliche Literatur
Glücklicherweise für uns Leser hindert man ihn daran: Der Elfjährige wird von Bord geholt und verlebt weiterhin eine behütete Kindheit vor bürgerlichem Hintergrund. Geboren am 8. Februar 1828 in Nantes, wächst Jules-Gabriel Verne in gut situierten Verhältnissen auf. Als ältester von fünf Sprösslingen soll er die väterliche Anwaltspraxis übernehmen, weshalb er ab 1846 in Paris Jura studiert.
Viel spannender findet er schon zu dieser Zeit allerdings die Literatur. Verne freundet sich sowohl mit Alexandre Dumas als auch mit seinem gleichnamigen Sohn an. Gemeinsam mit Vater Dumas verfasst er Opernlibretti und erste dramatische Werke. Nach dem Abschluss seines Studiums beschließt er, nicht nach Nantes zurückzukehren, sondern sich völlig der Dramatik zu widmen.
Zwar schreibt er nicht ganz erfolglos – drei seiner Erzählungen erscheinen in einer literarischen Zeitschrift. Doch zum Leben reicht es nicht, weshalb der junge Autor 1852 den Posten eines Intendanz-Sekretärs am Théâtre lyrique annimmt. Immerhin wird diese Arbeit zuverlässig vergütet und Verne darf sich als Dramatiker betätigen. In seiner Freizeit verfasst er weiterhin Erzählungen, wobei ihn abenteuerliche Reisen am meisten interessieren.
Als er 1857 eine Witwe heiratet, die zwei Töchter in die Ehe mitbringt, muss sich der Literat nach einer besser bezahlten Einkommensquelle umsehen. Während der nächsten zwei Jahre schlägt er sich als Börsenmakler durch, wobei er genug Zeit findet, längere Schiffsreisen zu unternehmen, bevor 1861 sein Sohn Michel geboren wird.
Verliebt ins literarische Abenteuer
Letztlich ist es einer besonderen Begegnung im Jahr 1862 geschuldet, dass alles, was der Autor bisher »geistig angesammelt« hat, in seinen künftigen Romanen kulminieren darf: Der Jugendbuch-Verleger Pierre-Jules Hetzel veröffentlicht Vernes utopischen Reiseroman »Fünf Wochen im Ballon«. Dieses von ihm ohnehin bevorzugte Sujet wird den Schriftsteller nie wieder loslassen – die abenteuerlichen Reisen, auf welcher Route auch immer sie absolviert werden. Hetzel verlegt Vernes noch heute beliebteste Schriften: 1864 »Reise zum Mittelpunkt der Erde«, im folgenden Jahr »Von der Erde zum Mond«, 1869 »Reise um den Mond« und »Zwanzigtausend Meilen unter dem Meer«. Mit »Reise um die Erde in 80 Tagen« erscheint 1872 Jules Vernes erfolgreichster Roman überhaupt.
Die Zusammenarbeit mit Hetzel, der gleichzeitig als sein Mentor fungiert, sorgt in den späten 1860er Jahren dafür, dass der höchst produktive Schriftsteller seiner Familie einigen Wohlstand bieten und sich selbst »jugendtraumhafte« Reisewünsche erfüllen kann. Sein Verleger stellt ihn namhaften Wissenschaftlern vor – in Kombination mit den erwähnten Reisen entsteht auf diese Weise ein ungeheurer Fundus der Inspiration: Jules Vernes Zettelkasten enthält angeblich 25.000 Notizen!
Zwar ist er seit »Reise um den Mond« gleichermaßen wohlhabend und geachtet; er engagiert sich seit den späten 1880er Jahren sogar als Stadtrat in Amiens, wohin er 1871 mit seiner Familie übergesiedelt war. Der »Ritterschlag« aber bleibt aus: In der Académie française möchte man den Jugendbuchautor nicht haben, er gilt als nicht seriös genug.
Den Zenit seines Schaffens hat der Literat bereits überschritten, als er 1888 bleibende Verletzungen durch den Schusswaffen-Angriff eines geistesgestörten Verwandten davonträgt. Dennoch arbeitet der Autor ununterbrochen weiter. Als Jules Verne im März 1905 stirbt, hinterlässt er ein gewaltiges Gesamtwerk: 54 zu Lebzeiten erschienene Romane, weitere elf Manuskripte bearbeitet sein Sohn Michel nach dem Tod des Vaters. Ergänzt wird Vernes Œuvre durch Erzählungen, Bühnenstücke und geografische Veröffentlichungen.
Geliebt und missachtet
Jenes zwiespältige Verhältnis, das sich bereits in der Ablehnung der Akademiemitglieder äußert, kennzeichnet die akademische Rezeption bis heute: Jules Verne ist eben »nur ein Jugendbuchautor«. Weniger befangene Rezipienten freilich schreiben ihm eine ganz andere Bedeutung zu, die dem Visionär und leidenschaftlichen Erzähler besser gerecht wird.
Wenngleich der alternde Literat zum Ende seines Schaffens durchaus nicht mehr in gläubiger Technikbegeisterung aufgeht, bleiben uns doch genau jene Werke in liebevoller Erinnerung, in denen technische und menschliche Großtaten die Handlung bestimmen: »Reise um die Erde in 80 Tagen« oder »Zwanzigtausend Meilen unter dem Meer« beispielsweise. Wer als Kind von Nemo und seiner Nautilus liest, wird unweigerlich gefangen von diesem technischen Wunderwerk und dessen Kapitän. Vernes Romane gehören zu jenen Jugendbüchern, die man als Erwachsener gerne nochmals zur Hand nimmt – und man staunt erneut, erinnert sich, lässt sich wiederum einfangen und fragt sich, warum man eigentlich so selten Verne liest…
So wie der Autor sich selbst durch Reisen und Wissenschaft inspirieren lässt, dienen seine Werke seit jeher der Inspiration seiner Leserschaft. Wie präsent dieser exzellente Unterhalter in den Köpfen seiner Leser bleibt, belegen Benennungen in See- und Raumfahrt: Das erste Atom-U-Boot der Geschichte ist die amerikanische USS Nautilus. Ein Raumtransporter der Europäischen Raumfahrtagentur heißt »Jules Verne«, ein Asteroid und ein Mondkrater tragen ebenfalls den Namen des Schriftstellers. Die »Jules Verne Trophy« wird seit 1990 für die schnellste Weltumsegelung verliehen, was dem begeisterten Jachtbesitzer Verne gewiss gefallen hätte.
Der kommerzielle Literaturbetrieb sowie die Filmwirtschaft betrachten den französischen Vater der Science-Fiction-Literatur ebenfalls mit Wohlwollen: Unzählige Neuauflagen der Romanklassiker, Hörbücher und Verfilmungen der rasanten, stets mitreißenden Handlungen sprechen Bände. Mittlerweile gelten die ältesten Verfilmungen selbst als kulturelle Meilensteine, die keineswegs nur ein junges Publikum erfreuen.
Jules Vernes Bedeutung für die Literatur
Der Einfluss Vernes auf nachfolgende Science-Fiction-Autoren ist gar nicht hoch genug einzuschätzen: Aus heutiger Sicht ist er einer der Vorreiter der utopischen Literatur Europas, der noch vor H. G. Wells (»Krieg der Welten«) und Kurd Laßwitz (»Auf zwei Planeten«) das neue Genre begründet. Seinerzeit gibt es diesen Begriff noch nicht, weshalb Hetzel die Romane seines Erfolgsschriftstellers als »Außergewöhnliche Reisen« vermarktet
Der Franzose sieht, anders als Wells und ähnlich wie Laßwitz, im technischen Fortschritt das künftige Wohl der Menschheit begründet. Trotzdem ist Jules Verne vor allem Erzähler: Er will weder warnen wie Wells noch belehren wie Laßwitz, sondern in erster Linie unterhalten. Im Vergleich zum spröden Realismus eines Wells wirken seine Romane für moderne Leser ausufernd, vielleicht sogar geschwätzig. Dennoch sind sie leichter zugänglich als das stilistisch ähnliche Schaffen des Deutschen Laßwitz, weil sie Utopie und Technikbegeisterung nicht zum Zweck ihres Inhalts machen, sondern lediglich zu dessen Träger: Schließlich ist es einfach aufregend, in einem Ballon eine Weltreise anzutreten oder Kapitän Nemo in sein geheimes Reich zu folgen.
Band 1 – Die Engländer am Nordpol
Erstes Kapitel – Der Forward
Morgen bei fallender Flut wird die Brigg Forward, Kapitän K. Z., Lieutenant Richard Shandon, von New-Princes-Docks abfahren. Bestimmung unbekannt.«
So las man im »Liverpool-Herald« am 5. April 1860.
Für einen der ersten Handelshäfen Englands ist die Abfahrt einer Brigg ein unbedeutendes Ereignis, das inmitten der Schiffe jeder Größe und jeder Nationalität kaum bemerkt wird.
Dennoch fand sich am 6. April vom frühen Morgen an eine ansehnliche Volksmenge auf den Kais der New-Princes-Docks ein. Die unzählbare Korporation der Seeleute der Stadt schien sich da ein Rendezvous zu geben. Die Arbeiter der benachbarten Werften verließen ihr Tagewerk, die Kaufleute ihre düsteren Comptoir,1 ihre unbesuchten Gewölbe. Die bunten Omnibusse, welche längs der äußeren Mauer der Bassins fahren, brachten jede Minute eine Ladung Neugieriger; die Stadt schien nur einen einzigen Gedanken zu haben: der Abfahrt des Forward beizuwohnen.
Der Forward war eine Brigg von hundertundsiebzig Tonnen Gehalt, ein Schraubendampfer von hundertundzwanzig Pferdekraft. Bot er auch den Augen des Publikums nichts Außerordentliches dar, so nahmen doch Kenner einige Besonderheiten wahr, welche jeder Seemann verstand.
Daher machte sich auch eine Gruppe Matrosen an Bord des in der Nähe ankernden Nautilus über die Bestimmung des Forward allerhand Vermutungen.
»Was soll man«, sagte einer, »von diesen Masten denken? Es ist doch nicht gebräuchlich, dass Dampfschiffe so viel Segel haben.«
»Das Fahrzeug muss«, erwiderte ein Bootsmann mit breitem, rotem Gesicht, »sich mehr auf seine Masten als seine Maschine verlassen wollen, und wenn es so stark in hohen Segeln ist, so geschah es wohl deshalb, weil die niedrigen oft maskiert sein werden. Darum glaub’ ich sicher, dass der Forward für die Nord- oder Süd-Polarmeere bestimmt ist, wo die Eisberge den Wind mehr hemmen, als es einem tüchtigen Schiffe passt.«
»Sie sollen recht haben, Meister Cornhill«, versetzte ein dritter Matrose, »haben Sie auch bemerkt, wie dieser Vordersteven gerade aufs Meer fällt?«
»Und dazu«, sagte Meister Cornhill, »ist er mit einer Schneide von Gußstahl versehen, die scharf wie ein Rasiermesser ist, und einen Zweidecker entzweischneiden kann, wenn der Forward mit aller Kraft von der Seite her auf ihn eindringt.«
»Sicherlich«, erwiderte ein Lotse der Mersey, »denn diese Brigg fährt mit ihrer Schraube hübsch vierzehn Knoten in der Stunde. Es war zum Staunen, wie sie bei der Probefahrt die Strömung durchschnitt. Glauben Sie mir, ’s ist ein feiner Segler.«
»Und ebenso ist sie mit ihren Segeln nicht in Verlegenheit«, fuhr Meister Cornhill fort; »sie fährt stracks in den Wind und ist leicht mit der Hand zu lenken. Und noch etwas Besonderes! Haben Sie das weite Hennegat seines Steuerruders bemerkt?«
»Wahrhaftig, so ist es«, erwiderten die anderen, »aber was ist daraus abzunehmen?«
»Es beweist dies fürs erste, Ihr lieben Burschen«, versetzte der Meister mit Selbstzufriedenheit, »dass Ihr weder zu sehen, noch zu denken versteht; es ist daraus abzunehmen, dass man dem Kopf des Steuers Spielraum geben wollte, um leichter seine Stelle zu ändern. Sie wissen wohl nicht, dass dies Manöver zwischen den Eisblöcken oft vorkommt?«
»Vortrefflich geurteilt«, erwiderten die Matrosen des Nautilus.
»Und zudem«, fuhr der eine von ihnen fort, »wird die Meinung des Meisters Cornhill durch die Ladung der Brigg bestätigt. Ich weiß es von Clifton, der unerschrocken teilnimmt. Der Forward nimmt für fünf bis sechs Jahre Lebensmittel und dementsprechend Kohlen mit. Die ganze Ladung desselben besteht aus Kohlen und Lebensmitteln, nebst einem Pack wollener Kleidung und Robbenfellen.«
»Ah! Dann ist auch nicht mehr daran zu zweifeln«, sagte Meister Cornhill. »Aber kurz, mein Freund, da du Clifton kennst, hat denn der nichts von seiner Bestimmung gesagt?«
»Er konnte mir nichts sagen, weil er’s nicht weiß; darauf ist die Mannschaft geworben. Wohin es geht, soll man erst erfahren, wenn man an Ort und Stelle ist.«
»Und auch«, erwiderte ein Ungläubiger, »wenn sie zum Teufel gehen, wie es mir ganz den Anschein hat.«
»Aber auch was für ein Sold!« fuhr Cliftons Freund lebhaft fort, »welch’ hoher Sold! Fünfmal höher als der gewöhnliche. Ah! Sonst hätte Richard Shandon niemand gefunden, der unter solchen Bedingungen sich hätte werben lassen! Ein Fahrzeug von auffallendem Bau, das wer weiß wohin fährt und nicht aussieht, als wolle es ernstlich wiederkommen! Ich meinesteils hätte nicht große Lust dazu.«
»Lust oder nicht, Freund«, erwiderte Meister Cornhill, »du wärest nie fähig gewesen, der Bemannung des Forward anzugehören.«
»Und weshalb?«
»Weil dir die nötigen Erfordernisse abgehen. Ich habe mir sagen lassen, Verheiratete würden gar nicht angenommen. Da du nun zu dieser Sorte gehörst, so brauchst du nicht so spröde zu tun; für dich freilich wär’ es eine wahre Zwangspartie.«
Der also angezapfte Matrose lachte mit seinen Kameraden und gab damit zu erkennen, dass Meister Cornill recht hatte.
Cornhill fuhr mit Selbstbefriedigung fort: »Bis auf den Namen ist auch alles an dem Schiff erschrecklich kühn! Der Forward – d. h. Vorwärts, bis wohin? Und dazu kennt man den Kapitän der Brigg nicht.«
»O ja! Man kennt ihn«, erwiderte ein junger Matrose mit etwas naivem Angesicht.
»Wie? Man kennt ihn?«
»Allerdings.«
»Kleiner«, sagte Cornhill, »kannst du glauben, dass Shandon Kapitän des Forward sein werde?«
»Aber«, versetzte der junge Matrose.
»So lass dir sagen, dass Shandon Unterbefehlshaber ist, weiter nichts; ’s ist ein wackerer, kühner Seemann, ein Walfischfahrer, der erprobt ist, ein tüchtiger Kamerad, aber schließlich doch nicht der Befehlshaber. Er ist so wenig Kapitän wie du und ich, unbeschadet meinem Respekt! Den, der nach unserm Herrgott an Bord befehlen wird, kennt er selber auch nicht. Wenn der rechte Zeitpunkt kommt, wird der wahre Kapitän zum Vorschein kommen, man weiß nicht wie und wer weiß von welchem Ufer der beiden Welten; denn Richard Shandon hat nicht gesagt und darf auch nicht sagen, wohin auf der Welt er fahren würde.«
»Dennoch, Meister Cornhill«, fuhr der junge Seemann fort, »versichere ich Sie, dass sich einer an Bord vorgestellt hat, einer in dem Schreiben, worin dem Herrn Shandon seine Stelle übertragen ward, angekündigt worden ist!«
»Wie?« entgegnete Cornhill mit Stirnrunzeln, »du willst behaupten, der Forward habe einen Kapitän an Bord?«
»Jawohl, Meister Cornhill.«
»Du sagst mir das, mir?«
»Allerdings, weil ich es von Johnson habe, dem Rüstmeister.«
»Von Meister Johnson?«
»Allerdings, er hat mir es selbst gesagt.«
»Er hat dir’s gesagt?«
»Er hat mir es nicht allein gesagt, sondern den Kapitän gezeigt.«
»Gezeigt hat er dir ihn!« erwiderte Cornhill betroffen.
»Jawohl, gezeigt.«
»Und du hast ihn gesehen?«
»Mit eigenen Augen.«
»Und wer ist’s?«
»Ein Hund.«
»Ein Hund?«
»Ein vierfüßiger?«
»Ja!«
Die Matrosen des Nautilus waren ganz verdutzt; in jedem anderen Falle würden sie hell aufgelacht haben. Ein Hund Kapitän einer Brigg von hundertundsiebzig Tonnen! Aber der Forward war wirklich ein so außerordentliches Fahrzeug, dass man zweimal es ansehen musste, ehe man lachte, ehe man in Abrede stellte. Übrigens lachte selbst Meister Cornhill nicht.
»Und Johnson hat dir diesen so außerordentlichen Kapitän gezeigt, diesen Hund?« fuhr er fort zu dem jungen Matrosen.
»So wie ich Sie sehe, mit Erlaubnis.«
»Nun, was denken Sie davon?« fragten die Matrosen den Meister Cornhill.
»Ich denke nichts«, erwiderte dieser barsch, »ich denke nichts, als dass der Forward ein Schiff des Teufels ist oder Narren gehört, die für das Irrenhaus reif sind!«
Die Matrosen sahen ferner den Forward schweigend an, und nicht einem einzigen von ihnen fiel es ein, zu behaupten, der Johnson habe den jungen Seemann zum Besten gehabt.
Der Forward zog übrigens seit einigen Monaten die öffentliche Aufmerksamkeit auf sich. Dass er etwas auffallend gebaut, mit Geheimnis umhüllt war; das Inkognito seines Kapitäns; die Art, wie Richard Shandon seine Ausrüstung betrieb; die besondere Auswahl seiner Mannschaft; die unbekannte, von manchen kaum vermutete Bestimmung desselben – alles wirkte zusammen, der Brigg ein mehr als sonderbares Gepräge zu geben.
Für einen Denker, Träumer, Philosophen hat übrigens ein Schiff, das abzufahren im Begriff ist, etwas höchst Anregendes; die Fantasie begleitet es gerne bei seinem Ringen mit den Wogen, seinen Kämpfen mit den Winden, bei der abenteuerlichen Fahrt, die nicht immer im Hafen ihr Ziel findet, und sofern nur der geringste ungewöhnliche Zwischenfall eintritt, erhält das Schiff ein fantastisches Aussehen.
So war es auch mit dem Forward. Und wenn die gewöhnlichen Zuschauer nicht so kundige Bemerkungen wie Meister Cornhill machen konnten, so gab es doch seit drei Monaten Stoff genug zu fortwährendem Gerede für die Unterhaltung in Liverpool.
Die Brigg wurde zu Birkenhead, einer wirklichen Vorstadt von Liverpool am linken Ufer der Mersey, gebaut und durch Dampfbarken in unablässigem Verkehr mit dem Hafen gehalten.
Die Erbauer, Scott & Cie., hatten von Richard Shandon einen Aufriss und detaillierten Plan erhalten, welcher den Tonnengehalt, die Größenverhältnisse, das Modell der Brigg höchst genau angab. Man konnte darin den Scharfsinn eines vollendeten Seemanns erkennen. Da Shandon beträchtliche Mittel zur Verfügung hatte, so wurden die Arbeiten in Angriff genommen und nach der Weisung des unbekannten Eigentümers aufs rascheste betrieben.
Die Bauart der Brigg war von erprobter Solidität; sie war offenbar bestimmt, enormem Druck zu widerstehen, denn sein Fugenwerk aus Teak, einem indischen, durch äußerste Dauerhaftigkeit ausgezeichneten Bauholz, war noch dazu mit dem stärksten Eisenbeschlag versehen. Man fragte sich unter den Seeleuten, weshalb der Rumpf eines mit solchen Widerstandsverhältnissen gebauten Schiffes nicht aus Eisenblech gefertigt wurde, wie bei anderen Dampfbooten. Darauf antwortete man, der geheimnisvolle Ingenieur müsse wohl seine Gründe dafür haben.
Die Brigg nahm auf der Werft allmählich ihre Gestalt an, und ihre Stärke wie Feinheit setzten die Kenner in Erstaunen. Wie die Matrosen des Nautilus bemerkt hatten, bildete sein Vordersteven einen rechten Winkel mit dem Kiel; es war nicht mit einem Schnabel versehen, sondern mit einer Schneide von Gußeisen aus den Werkstätten R. Hawthorns zu Newcastle. Dieses metallene, im Sonnenschein blinkende Vorderteil gab der Brigg, obwohl sie gar nichts Militärisches an sich hatte, ein ganz besonderes Aussehen. Doch wurde auf dem Vorderkastell eine Kanone vom Kaliber eines Sechzehnpfünders aufgestellt; auf einem Zapfen sich drehend, konnte sie leicht nach allen Richtungen gestellt werden.
Am 5. Februar 1860 wurde das seltsame Schiff im Angesicht einer ungeheuren Zuschauermenge vom Stapel gelassen, was vollkommen gelang.
Aber welches war denn die Bestimmung des Schiffes? Es sollte den Erebus und Terror, den Sir John Franklin aufsuchen, nichts weiter. Denn im Jahr zuvor war der Kommandant Mac Clintock mit sicheren Beweisen vom Scheitern dieser unglücklichen Unternehmung aus den Nord-Polarmeeren heimgekehrt.
Wollte denn der Forward nochmals die nordwestliche Durchfahrt machen? Wozu nützte dies? Der Kapitän Mac Clur hatte sie im Jahre 1853 aufgefunden, und sein Lieutenant Creswell hatte zuert die Ehre, um das amerikanische Festland herum von der Behrings- bis zur Davis-Straße zu fahren.
Es war jedoch für Sachverständige unzweifelhaft, dass der Forward den Eisregionen Trotz bieten sollte. Wollte er zum Südpol vordringen, noch weiter als der Walfischfänger Wedell, als der Kapitän Ross? Aber zu welchem Zweck und Nutzen?
Am folgenden Tag, nachdem die Brigg vom Stapel gelaufen, kam ihre Maschine aus den Werkstätten von R. Hawthorn zu Newcastle an.
Diese Maschine von hundertundzwanzig Pferdekraft mit oszillierenden Zylindern nahm wenig Raum ein: für ein Schiff von hundertundsiebzig Tonnen eine bedeutende Kraft. Da es zudem reichlich mit Segeln versehen war, so besaß es außerordentliche Schnelligkeit, wie die Probefahrten bewiesen.
Nachdem die Maschine an Bord war, begann das Einbringen der Vorräte; keine geringe Arbeit, denn das Schiff wurde auf sechs Jahre verproviantiert. Die Lebensmittel bestanden aus gesalzenem und getrocknetem Fleisch, geräuchertem Fisch, Zwieback und Mehl; Kaffee und Tee wurden lawinengleich in die unteren Räume gewälzt. Richard Shandon leitete die kostbare Befrachtung als ein Mann, der sich darauf verstand; alles wurde streng ordnungsgemäß paketiert, etikettiert, nummeriert; auch wurde ein großer Vorrat von dem indischen Präparat, Pemmican2 genannt, welches sehr nahrhafte Bestandteile enthält, mitgenommen.
Diese Gattung von Lebensmitteln ließ keinen Zweifel, dass es auf eine langandauernde Expedition abgesehen war; und ein kundiger Beobachter begriff auf den ersten Blick, dass diese in die Polarmeere gehen sollte, wenn er die Tonnen Lime-juice und Kalkpastillen, Packen von Senf, Sauerampferkörnern und Löffelkraut sah, die Menge von solchen Mitteln gegen den Skorbut, welche man bei den Fahrten in die nördlichen und südlichen Zonen so notwendig braucht. Shandon besorgte diesen Teil der Ladung mit ganz besonderer Sorgfalt.