Read the book: «Stimmen gegen das Schweigen»
Joumana Seif · Wijdan Nassif
Stimmen gegen das Schweigen
Übersetzt aus dem Arabischen von Leslie Tramontini und Kerstin Wilsch
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Originalausgabe
© 2020 Hirnkost KG, Lahnstraße 25, 12055 Berlin
Alle Rechte vorbehalten
1. Auflage November 2020
Vertrieb für den Buchhandel:
Runge Verlagsauslieferung
Privatkunden und Mailorder:
Übersetzung aus dem Arabischen:
Leslie Tramontini und Kerstin Wilsch
Layout: Conny Agel
Lektorat: Klaus Farin
ISBN:
PRINT: 978-3-948675-62-2
PDF: 978-3-948675-64-6
EPUB: 978-3-948675-63-9
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All den eingekerkerten Frauen und Männern, die noch immer in den Folterkellern des syrischen Regimes und den Folterkellern der Diktatoren und Unterdrücker überall auf der Welt ausharren.
All den mutigen Frauen und Männern, die für diesen Bericht Zeugnis ablegten.
Unserem Freund Akram al-Safadi, der einige Zeit nach seiner Zeugenaussage starb.
All den aus den Gefängnissen der Unterdrückung und Ungerechtigkeit entkommenen Frauen und Männern – und vor allem jenen Frauen, die wegen der Unterdrückung durch die Machthaber und die Gesellschaft geschwiegen haben und noch immer auf eine Gelegenheit warten, zu sprechen und ihre Stimme zu erheben,
ist dieses Buch gewidmet.
Joumana Seif und Wijdan Nassif
Inhalt
Katrin Langensiepen: Nur ein Wimpernschlag. Geleitwort
Anwar al-Bunni: Vorwort
Einleitung
Methodik des Berichts
Historischer Hintergrund
TEIL 1: Politische Haft
Verhaftungsmethoden und Haftdauer
Mehrfaches Leid
Frauen als Geiseln und Mittel der Rache
Besondere Bedürfnisse von Frauen im Gefängnis
Diskriminierung und Sonderbehandlung
TEIL 2: Folter
Folter in den syrischen Geheimdienstgefängnissen
„Woher nimmt er das Recht, mich zu foltern?“
Sexuelle Gewalt
„30 Jahre versuche ich schon, dies alles zu vergessen.“
Psychische Gewalt
Androhung von Vergewaltigung
Stigmatisierung
Androhung von Rufmord
Verletzung der physischen und psychischen Intimsphäre
TEIL 3: Die Entlassung aus dem Gefängnis
Fortgesetzte Schikanen durch die Geheimdienste
Angst vor erneuter Inhaftierung
Sozialer Druck und Isolierung
Die bittere Frage
Die Familie: Gefängnis oder Rückhalt?
Schuldgefühle
Psychische Folgen der Haft bei den Frauen
Wir machen weiter – trotz alledem!
Schlussbemerkung
Anmerkungen
Die Autor*innen
Katrin Langensiepen
Nur ein Wimpernschlag. Geleitwort
Gerade jetzt, zu einer Zeit, in der die Lage in Syrien kaum aussichtsloser erscheinen kann und der Blick nach vorne schwerer fällt denn je und die Hoffnung auf Frieden, Versöhnung und Gerechtigkeit ins Farblose kippt, bleibt es umso wichtiger, die Stimmen und Erinnerungen derjenigen festzuhalten, die das Undenkbare, das Unsagbare durchlebt haben, um die schwarz und blutrot funkelnden Mosaiksteine zu dem hinzuzufügen, was rückblickend gemeinsame Vergangenheit sein wird.
Dieser Vergangenheit der Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit werden sich alle Syrer*innen und die internationale Gemeinschaft fortwährend stellen müssen, denn sie wird Schatten werfen auf das, was Zukunft für dieses Land und die Region sein kann.
Und wie so oft wird Zukunft über das eigene Wohlbefinden hinaus, sei es für die Familie oder ein Land, von denen gemacht, die oftmals an den Rand und in den Schatten gedrängt werden: den Frauen. Umso wichtiger ist es, ihren Stimmen Gehör zu verschaffen und Unrecht als solches zu benennen, dieses zu dokumentieren und mit aller Vehemenz für Gerechtigkeit und Wiedergutmachung zu streiten. Auch wenn dies bedeutet, Vergangenes erneut zu durchleben, und die Gefahr bestehen bleibt, innerlich (erneut) zu zerbrechen, bleibt am Ende die zeitlebens bestehende und weithin sichtbare Anklage gegen ein Regime, das alle Scham gegenüber jeglichen Gräueltaten verloren hat, diese wohl nie besessen hat.
Die unglaubliche Stärke aus dem hier Dokumentierten soll Mut geben für diejenigen, die verzweifeln, Kraft für die, die laut aussprechen, und Durchhaltevermögen für die, die erste Schritte auf dem Weg zur Gerechtigkeit gehen. Strafprozesse wie der in Koblenz und andere Verfahren auf der Basis universeller Gerichtsbarkeit werden hier den Weg weisen, konsequent aufarbeiten und Täter zur Rechenschaft ziehen, auch dann, wenn ihre Taten schon lange zurückliegen.
Und somit bleibt es zu hoffen, dass die Stimmen und Erinnerungen mahnend über die Zeit getragen werden und die Zeit der Folter, des Krieges, der Unterdrückung und der Erniedrigungen zusammenschrumpft auf einen geschichtlichen Wimpernschlag, der so viel mehr Raum für anderes, für mehr Gutes lässt – ohne jemals die Stimmen der zunächst Ungehörten und die Geschichten der zunächst Unsichtbaren zu vergessen.
Katrin Langensiepen ist Abgeordnete des Europäischen Parlaments für Die Grünen.
Anwar al-Bunni
Vorwort
Ist es zu hart, Sie als Leser*innen mit dieser massiven Gewalt zu konfrontieren, wie sie in den folgenden Seiten sichtbar wird; ist es fair Ihnen gegenüber?
Vielleicht nicht, aber lassen Sie uns doch etwas mehr über die Frauen nachdenken, die über Jahre hinweg diese ganze Gewalt erlebt haben; lassen Sie uns nachdenken über diese wunderbaren Syrerinnen, die uns hier mit so viel Stärke und Mut berichten, was sie erfahren und erleiden mussten.
Diese Frauen waren vor der Verhaftung mit der Gewalt des Regimes und der Gesellschaft konfrontiert, während der Inhaftierung mit endlosen Gewaltexzessen des Regimes und nach ihrer Freilassung wieder mit der Gewalt von sowohl Regime als auch Gesellschaft. Wie viel Kraft müssen sie haben, um all dies zu überstehen und nun mit ihren Erzählungen ans Licht zu bringen, was inhaftierte Frauen bis zum jetzigen Zeitpunkt in syrischen Haftanstalten erdulden müssen, und ihre Stimmen und ihre Schreie hörbar zu machen. Wir haben ihre Schreie vernommen und werden sie weiter hören, denn in diesem Buch hallt ihr Echo wider: Die Schreie dieser Frauen, die auf Freiheit und Rettung hoffen, dringen durch die Wände der Gefängnisse und Gefängniszellen.
Mit diesem Bericht gedenken wir nicht nur dieser Frauen, sondern aller Häftlinge, die in Syrien immer noch den abscheulichsten Arten von körperlicher, sexueller und psychischer Gewalt ausgesetzt sind und sogar dem Tod. Wir wollen zum Nachdenken darüber anregen, wie wir dem syrischen Volk beistehen können, den Männern, Frauen und Kindern, die auf Rettung hoffen, auf Freiheit und Erlösung von all dieser Gewalt, Unterdrückung und Willkür.
Die Täter müssen verfolgt und vor Gericht gestellt werden, damit sie ihrer gerechten Strafe nicht entkommen. Das ist eine der wichtigsten Voraussetzungen dafür, zu verhindern, dass sich derartige Verbrechen wiederholen. Den überlebenden Frauen muss Gerechtigkeit widerfahren. Nur so können sie seelisch und körperlich heilen, die Achtung der Gesellschaft zurückgewinnen und vollständige Rettung erfahren, indem sie auch von der Gewalt der sie umgebenden Gesellschaft befreit werden.
Einleitung
„Im Gefängnis wird dir deine Identität genommen; du bist ein Niemand, deshalb ist alles möglich: Erniedrigung, Folter, Demütigung, Vergewaltigung, all das ist unausweichlich.“ NADA
„Vergewaltigung hinterlässt tiefe psychische Spuren … In meiner langen Zeit im Gefängnis haben sich nur zwei Frauen getraut, mir von ihrer Vergewaltigung zu erzählen. Ich habe niemandem davon erzählt … All die Einzelheiten des Leids im Gefängnis hinterlassen Narben, die auch nach vielen Jahren nicht wirklich verheilen.“ LAMA
Nada, die während der Revolution inhaftiert war, und Lama, die in den 1980er Jahren im Gefängnis war, sind zwei Beispiele dafür, was Frauen im Gefängnis erleben. Ihre Aussagen beschreiben nicht nur ihr eigenes Leid, sondern die Erfahrungen und das Leid aller Frauen, die wir für diesen Bericht getroffen haben.
Die Zitate, die wir wiedergeben, wurden aus den Zeugenaussagen von Frauen ausgewählt, die zwischen 1980 und 2017 im Gefängnis waren und Widerstand geleistet haben. Es ist eine Gelegenheit, sich mit diesen wichtigen Erfahrungen zu befassen, auch wenn sie noch so grausam sind. Im ersten Teil beschäftigen wir uns mit den Methoden und der Dauer der Verhaftung und den Bedingungen, die diese Frauen erlebten. Wir berichten auch darüber, wie die Geheimdienste mit den besonderen Bedürfnissen von Frauen umgehen.
Im zweiten Teil beleuchten wir die Formen von Gewalt, denen sie ausgesetzt waren, angefangen von Folter über sexuelle und psychische Gewalt bis hin zur Stigmatisierung.
Im dritten Teil beantworten die Frauen unsere Fragen danach, wie ihre Familien und die Menschen in ihrem sozialen Umfeld mit ihnen umgingen. Sie haben dort die Gelegenheit, über die bitteren psychischen und körperlichen Folgen ihrer Erfahrungen zu sprechen, aber auch über ihre unterschiedlichen Fähigkeiten, das Geschehene zu verarbeiten, sich zu widersetzen und den Kampf gegen alle Formen von Unterdrückung und Ungerechtigkeit fortzuführen, um zu erreichen, dass Gerechtigkeit siegt und die Verbrecher zur Rechenschaft gezogen werden.
Dieser Bericht hat nicht zum Ziel, die systematische und umfassende Anwendung von Gewalt gegen Frauen, darunter sexuelle Gewalt, durch das Regime seit 2011 nachzuweisen. Das wurde bereits mehrfach in anderen Berichten getan, die vom UNHRC1 und der IICI Syria2 herausgegeben wurden, sowie in den Berichten syrischer3 und internationaler4 Organisationen für Menschenrechte. Er zeigt jedoch, dass die Verhaftung von Frauen und die Ausübung aller Formen von Gewalt gegen sie in der Geschichte der diktatorischen Herrschaft in Syrien nichts Neues ist; bereits seit den 1980er Jahren hat das Assad-Regime diese Methoden verwendet, um Oppositionelle zu brechen und die syrische Gesellschaft zu bestrafen und politisch zum Schweigen zu bringen.
Zu den wichtigsten Zielen dieses Berichts gehört, für Frauen, die Verhaftung, Gewalt und Folter durch das syrische Regime ausgesetzt waren, eine Möglichkeit zu schaffen, ihre Stimmen zu erheben und über ihre Erfahrungen zu sprechen. Wir betrachten das als echten Widerstand gegen die Politik des „Mundtotmachens“, die das Assad-Regime über viele Jahrzehnte verfolgt hat. Der Bericht veröffentlicht Erfahrungen couragierter Frauen, die in verschiedenen Zeiten des Kampfes in Syrien mutig der Willkürherrschaft trotzten, und unternimmt damit den Versuch, diese Erfahrungen und alles, was mit ihnen verbunden ist, aufzuschreiben – die Träume von Veränderung und einer hoffnungsvollen und sicheren Zukunft, die Schmerzen und das Gefühl von Ungerechtigkeit und Verzweiflung, die Augenblicke der Hoffnungslosigkeit und des Rückzugs, dann erneutes Aufstehen und Fortsetzung des Widerstands trotz der Vernichtung durch die Machthaber und der Unbarmherzigkeit der Gesellschaft. So können wir sagen, dass es über die Jahrzehnte der Unterdrückung hinweg immer wieder weibliche Don Quijotes gab, die sich weigerten aufzugeben. Sie glaubten daran, dass es wichtig war, immer wieder neu, über Generationen hinweg, den Kampf zu führen – trotz des großen Preises, den sie zu zahlen hatten und haben.
Ihnen zuzuhören war keine einfache Sache. Einige brachen in Tränen aus und die Worte blieben ihnen in der Kehle stecken, selbst wenn seit ihren Erfahrungen schon Jahre und manchmal sogar Jahrzehnte vergangen waren. Das hat uns gezeigt, wie tief sich das große Leid und die Schmerzen in ihr Gedächtnis eingegraben haben.
Einige der Frauen, die in den 1980er und 1990er Jahren inhaftiert waren, sagten uns, dies sei das erste Mal gewesen, dass sie so offen über ihre Erfahrungen geredet hätten. Sie hätten sich geschämt zu erzählen, was ihnen widerfahren war. Einige der Frauen, die während der Revolution verhaftet wurden, äußerten, dass sie zwar nicht zum ersten Mal von ihren Erfahrungen berichteten, ihr Schmerz aber nicht nachgelassen habe.
Es muss erwähnt werden, dass einige Frauen von sexueller Gewalt berichteten, uns jedoch später baten, diese Passagen wieder zu streichen. Selbstverständlich sind wir ihren Bitten gefolgt und haben verstanden, warum sie das wollten. Manche von ihnen leiden noch immer an den Folgen des Schocks, und die meisten werden nicht psychologisch betreut. Ein wichtiger Grund ist auch, dass sich die Bedingungen bzw. das politische Klima, in denen sie inhaftiert worden sind, noch nicht verändert haben. Ihre Hoffnung, dass die Verbrecher zur Rechenschaft gezogen werden, verringert sich täglich. Mit dem Andauern des Kampfes und dem Scheitern der Bemühungen, eine politische Lösung zu erreichen, die auf Gerechtigkeit und Wiedergutmachung beruht und bei der die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden, wächst die Angst bei allen, die die Gewalt des Regimes und die schlimmen Zustände in den Gefängnissen erlebt haben. Das ist eine ernsthafte Herausforderung, die die Menschenrechtsorganisationen, die Gewaltverbrechen gegen Frauen dokumentieren und sich mit der Problematik von Gerechtigkeit und Verantwortung befassen, berücksichtigen müssen. Zum Zeitpunkt der Erstellung dieses Berichts befinden sich noch immer Tausende von syrischen Frauen unter unmenschlichen Bedingungen in den Gefängnissen und Haftanstalten des Regimes. Das Schicksal vieler von ihnen ist unbekannt.5 Es gibt ebenso Tausende von Frauen, die dem Gefängnis entkommen und ihrem Schicksal überlassen worden sind und sich der Ablehnung und Gewalt der Gesellschaft gegenübersehen, ohne Gelegenheit zur Heilung zu haben. Sie akzeptieren die Situation gezwungenermaßen, isolieren sich und ziehen sich aus dem aktiven Leben zurück. Dieser Bericht ist eine Einladung an die Frauen, die der Haft entronnen sind, ihre Stimmen zu erheben und dem Schweigen zu begegnen. Vor allem aber ist er ein Aufruf dazu, Druck auszuüben, damit die Tausenden von immer noch inhaftierten Frauen freigelassen werden, ein Aufruf an Frauenorganisationen, Zentren und Programme einzurichten, die den freigelassenen Frauen psychologische Unterstützung bieten und dabei die Traumata und Schrecken berücksichtigen, die sie erlebt haben und noch erleben. Es ist auch ein Aufruf an alle Schichten der syrischen Gesellschaft, diese Frauen mit anderen Augen zu sehen, mit ihnen solidarisch zu sein und sie zu unterstützen in ihrer Forderung, Gerechtigkeit walten zu lassen, die Verbrecher zur Verantwortung zu ziehen und Wiedergutmachung zu leisten.
Es ist gut, dass wir – sie und wir – uns am Ende unserer Treffen einig waren, dass zu reden im Wesentlichen bedeutet, Widerstand gegen die Stille, die Unterwerfung und das Schweigen zu leisten, dass es Auflehnung dagegen bedeutet, marginalisiert und daran gehindert zu werden, die Zukunft in unsere eigenen Hände zu nehmen. Und das Wichtigste ist, dass es für uns alle eine Gelegenheit ist zu sagen: Wir sind immer noch da!
Methodik des Berichts
Dieser Bericht beschäftigt sich mit der Gewalt gegen syrische Frauen, die seit den 1980er Jahren bis 2017 zu verschiedenen Zeiten in Haftanstalten des syrischen Geheimdienstes inhaftiert waren. Er umfasst die Aussagen von 23 Frauen und vier Männern. Durch ihre Analyse wollen wir die Formen, Gründe und Ziele der gegen sie angewendeten Gewalt und ihre psychischen, sozialen und politischen Folgen für die Frauen und allgemein für die syrische Gesellschaft aufzeigen. Die Interviews wurden von Mitte Juli bis Ende 2018 durchgeführt, entweder über Skype oder in persönlichen Treffen mit unseren Zeuginnen und Zeugen in der Türkei, Schweden, Deutschland und Frankreich.
Mit ihrer Einwilligung wurden alle Aussagen aufgenommen und später Zitate aus ihnen verwendet. Wir transkribierten und analysierten die Aufnahmen, um den Bericht inhaltlich zu strukturieren.
Die Interviews dauerten zwischen anderthalb und drei Stunden. In manchen Fällen entschlossen wir uns, das Gespräch zu unterbrechen, um die Zeugin ihr Trauma nicht erneut durchleben zu lassen. Wir boten ihr dann an, entweder einen neuen Termin festzulegen, um ihre Aussage fortzusetzen, oder sich mit dem zu begnügen, was sie uns bereits erzählt hatte.
Wir hatten eine Reihe grundlegender Fragen vorbereitet, auf die die Befragten antworteten, aber wir gaben ihnen auch die Gelegenheit, spontan von ihren Erfahrungen zu berichten.
Viele der Befragten gaben an, dass sie zum ersten Mal Zeugnis über ihre Haft und die syrischen Gefängnisse ablegten.
Der Bericht verbindet die Hafterfahrungen während der Zeiten der Herrschaft von Hafiz al-Assad und Baschar al-Assad, Vater und Sohn, durch die Befragung von 15 vor der Revolution und zwölf während der Revolution Inhaftierten. Bei der Auswahl der Zeuginnen und Zeugen wurde auf kulturelle und regionale Vielfalt geachtet.
Wir versuchten außerdem, verschiedene Haftanstalten zu berücksichtigen – mehrere Abteilungen6 der Geheimdienste, Zivilgefängnisse, das Militärgefängnis in Saidnaya und das Gefängnis von Tadmur.
Auch der politische Hintergrund spielte eine Rolle. Unter den Gefangenen aus den 1980er Jahren waren solche, die aufgrund der Zugehörigkeit zu einer politischen Organisation, wie der Revolutionären Arbeiterpartei, der Kommunistischen Arbeitspartei und anderen linken Gruppierungen sowie den Muslimbrüdern, inhaftiert worden waren. Die Gründe für die Festnahme der Frauen während der Revolution reichen von politischen Aktivitäten in Koordinationskomitees und der Teilnahme an Demonstrationen und Sit-ins bis hin zur Arbeit in Hilfsorganisationen und medizinischer Versorgung.
Die Haftzeit unserer Zeuginnen betrug vor der Revolution zwischen zwei und 16 Jahren, einige wurden unter der Regierung von Hafiz al-Assad auch mehrfach verhaftet, dann erneut unter der Herrschaft von Baschar al-Assad vor und während der Revolution. Während der Revolution betrug die Haftzeit zwischen 15 Tagen und zwei Jahren, auch hier wurden viele unserer Zeuginnen mehrfach verhaftet.
Der Bericht konzentriert sich vor allem auf die Zeugenaussagen der Frauen, aber es wurden auch vier Männer befragt, deren Aussagen den Bericht ergänzen, indem sie darüber berichteten, wie sie Zeuge von Gewaltanwendung gegenüber Frauen wurden, oder weil weibliche Angehörige Opfer von Gewalt oder damit bedroht wurden, um von ihnen Informationen zu erpressen oder um sie zu erniedrigen und zu demütigen.
Alle persönlichen Informationen der Zeug*innen wurden gespeichert, wobei jedoch ihre Namen geändert wurden. Meist wählten wir einen Namen bzw. die Zeug*innen baten uns, einen Namen auszusuchen, andere wollten, dass wir ihren Vornamen benutzen. Wir waren sehr darauf bedacht, die Beschreibung der Personen so kurz wie nur möglich zu halten, um zu vermeiden, dass man sie identifizieren kann.
Historischer Hintergrund
Seit der Machtübernahme von Hafiz al-Assad im Jahr 1970 durch einen Militärputsch7 und nachdem er sich seiner Gefährten entledigt hatte,8 griff er zur Politik der Verhaftung seiner Gegner.9 Damit wollte er seine Macht festigen und ihren Erhalt sichern und nutzte dazu auch den Ausnahmezustand,10 der nach der Erringung der Macht durch den Putsch der Arabischen Sozialistischen Baath-Partei am 8. März 1963 ausgerufen worden war.
Der Ausnahmezustand und eine Reihe anderer repressiver Maßnahmen11 boten den verschiedenen Geheimdiensten,12 die während der drei Jahrzehnte seiner Herrschaft expandierten und deren Einfluss sich ständig verstärkte, einen Deckmantel dafür, viele Jahre lang willkürlich Menschen zu verhaften und verschwinden zu lassen, sie unmenschlich zu foltern, zu demütigen und ihre Menschenwürde zu missachten, ihnen sämtliche Grundrechte sowie medizinische Versorgung im Gefängnis zu verwehren, sie nach der Entlassung ständig zu verfolgen und ihnen oft auch ihre Bürgerrechte zu verwehren.13 Nachdem die Macht gefestigt war, zeigte das Regime seine Krallen und ging zu scharfen repressiven Maßnahmen über, um die syrische Gesellschaft und ihre Institutionen im Zaum zu halten, jedmögliche organisierte Opposition im Keim zu ersticken14 und damit zu verhindern, dass sich das syrische Volk erneut am politischen Leben und der Verwaltung der öffentlichen Angelegenheiten beteiligt.15 Das Regime zögerte dabei nicht, immer mehr zu Gewalt, Erniedrigungen, Verhaftungen und kollektiver Bestrafung zu greifen. Der deutlichste Beweis dafür ist vielleicht das kaltblütige Massaker im Gefängnis Tadmur16 im Juni 1980, dem hunderte Isolationshäftlinge zum Opfer fielen,17 der schlimmste Beweis jedoch ist das Massaker von Hama18 im Februar 1982. Damals begnügten sich die bewaffneten Kräfte des Regimes nicht nur mit Beschuss und Zerstörung19 ganzer Stadtviertel, die sie dem Erdboden gleichmachten, sondern sie töteten, folterten und verhafteten tausende junge Männer in verschiedenen Teilen der Stadt,20 während die Frauen und Mädchen Misshandlungen, Erniedrigungen und selbst Vergewaltigungen21 ereilten. Danach erlebte das Land eine lange Zeit von Unterwerfung und Unterdrückung, durch die die Menschen zum Schweigen gebracht werden sollten. Die Geheimdienste begnügten sich während der Herrschaft Hafiz al-Assads nicht damit, die Frauen zu verhaften und zu erniedrigen, die sich mutig gegen das Regime stellten.22 Sie nutzten auch die herrschende patriarchalische Mentalität der Gesellschaft aus, die die Frauen verurteilt und für ihr Handeln verantwortlich macht, wenn sie es wagen, in für sie verbotene Bereiche vorzudringen, wie zum Beispiel das Engagement für die Angelegenheiten von öffentlichem Interesse. Die syrische Gesellschaft ist allgemein konservativ und Frauen spielen eine marginale Rolle. Frauen, die sich engagieren und eine eigene Meinung besitzen, sehen sich nicht nur der Unterdrückung durch die Herrscher gegenüber, die Frauen und Männer gleichermaßen betrifft, sondern auch einer Reihe weiterer Herausforderungen, wie den überholten Traditionen und Normen, die die Gesellschaft durchdringen,23 und den diskriminierenden Vorschriften24 in der Verfassung und den Gesetzen, insbesondere im Zivilrecht.
Auch wenn die syrischen Frauen durch ihren anhaltenden Kampf schon früh einige Rechte erringen konnten, wie zum Beispiel das Wahlrecht,25 behandelt sie die syrische Gesellschaft noch immer von oben herab. Ihre Jungfräulichkeit ist weiterhin ein Symbol und Beweis für ihre Ehre und die Ehre der Familie, und die Frau zahlt unter Umständen mit ihrem Leben, wenn diese Ehre verletzt wird.26 Das wissen die Machthaber sehr genau und richten all ihre Anstrengungen darauf, diesen absoluten Schwachpunkt27 in der syrischen Gesellschaft auszunutzen. Hier kann man die gesamte Gesellschaft treffen, disziplinieren und terrorisieren und damit zum Schweigen bringen.
Von 1977 an, wenige Jahre nach Festigung der Macht durch Hafiz al-Assad, verhaftete man Mitglieder der Liga für Kommunistische Aktion (später Kommunistische Arbeitspartei) wegen ihrer kritischen Haltung zu Unterdrückung und Korruption und ihrer Verurteilung der militärischen Intervention im Libanon, darunter zwölf Frauen, zumeist Studentinnen.28
Anfang der 1980er Jahre wurden Dutzende Frauen mit der Anschuldigung festgenommen, den Muslimbrüdern oder dem irakischen Flügel der Baath-Partei anzugehören, und verschiedensten Arten von Folter ausgesetzt. Unter ihnen befanden sich auch Schwangere und Minderjährige.
Nachdem das Regime Anfang der 1980er Jahre den Krieg gegen die Muslimbrüder gewonnen hatte,29 richtete es seine Repressalien gegen oppositionelle30 linke und säkulare Kräfte, Teile der gebildeten Elite sowie verschiedene Gruppierungen der Zivilgesellschaft. Niemand entkam seiner Brutalität, von Schülern bis zu den Alten, Männer wie Frauen.
Das herausragendste Ereignis war die Verhaftungskampagne von 1987, während der mehr als 100 Frauen wegen ihrer Zugehörigkeit oder Nähe zur Kommunistischen Arbeitspartei verhaftet wurden. Viele von ihnen blieben mehrere Jahre im Gefängnis, ohne je vor ein Gericht gestellt zu werden.
Nachdem Baschar al-Assad nach dem Tod seines Vaters im Jahr 2000 die Macht übernommen hatte, versprach er in seiner Antrittsrede31 den Syrer*innen Demokratie und Meinungsfreiheit. Das war eine gute Nachricht für die Menschen und ermutigte Persönlichkeiten aus der syrischen demokratischen Opposition, politische Foren zu gründen,32 den Dialog aufzunehmen und Initiativen anzustoßen. Diese Zeit erhielt den Namen „Damaszener Frühling“33, auch wenn der Ausnahmezustand nicht aufgehoben wurde. Doch schon bald wurde diese Bewegung unterdrückt,34 ihre Anführer wurden verhaftet und zu Haftstrafen zwischen 5 und 10 Jahren verurteilt. Die Frauen und Männer, die an diesem „Frühling“ teilgenommen und ihn unterstützt hatten, wurden mit Verhaftung bedroht. In den Folgejahren gingen die Verhaftungen weiter und betrafen jede oppositionelle Stimme, jede*n Verteidiger*in der Menschenrechte und der Demokratie und selbst Blogger*innen35 und Aktivist*innen der Zivilgesellschaft.36
Doch die systematische Politik der Gewaltanwendung, der Verhaftungen und der Einschüchterung hinderte das syrische Volk nicht daran, sich aufzulehnen und den Status quo abzulehnen. Im März 2011 begann die syrische Revolution37, die Demokratie und Gerechtigkeit, Freiheit und Würde einforderte. Das Regime begegnete ihr mit scharfer Munition, Einkerkerung und erzwungenem Verschwinden. Die Verhaftungen erfolgten mit äußerster Gewalt vor den Augen und Ohren aller Syrer*innen und vor den Augen der gesamten Welt,38 aufgezeichnet von Handykameras von Aktivist*innen. Es gab Verhaftungskampagnen, die zehntausende syrische Frauen betrafen,39 die sich an der Revolution beteiligten, in den aufständischen Gebieten lebten oder an der Revolution teilnehmenden Familien angehörten.40
Als Reaktion auf die internationale Ablehnung des andauernden Ausnahmezustands, der nun schon Jahrzehnte bestand, tat Assad nach außen hin, als würde er ihn aufheben, und beendete die Praxis, politische Verbrechen an das Gericht für Staatssicherheit zu verweisen.41 Er setzte jedoch an seine Stelle etwas noch Schlimmeres, nämlich ein außerordentliches Gericht, das den Namen „Terrorgericht“ erhielt. Das wurde gestützt vom Antiterrorgesetz42 Nr. 19 von 2012, das ihm als Gesetzestext die rechtliche Deckung dafür bot, sich zehntausender Oppositioneller zu entledigen, die des Terrors bezichtigt43 und auf den Plätzen der Militärgerichte und in den dafür eingerichteten Gefängnissen hingerichtet wurden.44
Als das syrische Volk seinen Weg fortsetzte und der Aufstand anhielt – obwohl die Zahlen der Getöteten und Deportierten anstiegen, die Städte und die Infrastruktur zerstört wurden45 und alle Arten international geächteter Waffen zum Einsatz kamen46 –, setzte auch das Regime seine Politik der willkürlichen Verhaftungen und des erzwungenen Verschwindens fort. Es ist dokumentiert, dass die verschiedenen syrischen Geheimdienste Verbrechen der Folter und des Mordens an gefangenen Frauen und Männern begangen haben, die als Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen eingestuft werden.47 Wie durch die Bilder des unbekannten syrischen Fotografen unter dem Decknamen „Caesar“48 belegt wurde, starben seit 2011 Tausende durch Folter, vor Gram, an Krankheiten oder durch Vernachlässigung oder sie verhungerten.49