Read the book: «Entkommen»

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Joshua Groß

Entkommen


»We need an escapology …«

Richard Seymour

Inhalt

Teil 1

Alles, was hier steht, altert anders als ich

Schräg am Schweben

Dämmmaterial

Ich in REWE

Minztee

Nürnberg, warum machst du diese?

Die Fallen sind überall

Eines Tages kauf ich Mama ein Haus / Aufzeichnungen vom 27. August 2017

Mama told me not to sell work / Aufzeichnungen vom 12. September 2017

Jupitermohn

Zwei Zugfahrten

Ich war schon fast verliebt / Die Waghalsigkeit von Lil Wayne

Die letzten Ruinen

Teil 2

Pfannkuchen

Die Twitter-Erzählungen von Jellyfish P

Eine Walküre im Guccimantel

Teil 3

Entkommen

Desinfektion / Aufzeichnungen vom 27. August 2018

Salzige Sonnenschwärme / Ein anderes Verständnis von Salt and Fire

Von vorn

Bardo-Stroboskop

Refugien des Extranatürlichen

17 000 Jahre weiter in der Zukunft

Entkommen

Textnachweise

TEIL 1

Schräg am Schweben

Vor Kurzem habe ich bei Hans Jürgen von der Wense einen Satz gelesen, der mich beschäftigt: »Wirft man die Schaukel schräg, so schlingert sie. Das ist eine Art, die gesamte Weltordnung aufzulösen.« Wenn ich darüber nachdenke, was ich gerne wäre, weiß ich nur, dass ich mich am liebsten selbst schräg werfen würde. Ich will schlingern. Aber das ist nicht sehr konkret. Außerdem habe ich oft genug das Gefühl, dass ich mich sowieso in einem andauernden Zustand des Schlingerns befinde. Mir fällt die Vorstellung schwer, komplett anders zu sein; eine so kategorische Überschreibung käme mir wie ein Verkennen meiner selbst vor. Ich finde es aber auch kompliziert, konkret zu formulieren, was ich werden will. Gleichzeitig habe ich Angst, dass ich, wenn ich diese Gedanken aufschreibe (und sie also vor mir selbst zulasse), verlerne, mich kategorisch anders zu denken – und nicht mehr damit aufhören kann, von dem wenigen, das ich bin, auszugehen; und mich immer nur weiterdenke auf der Grundlage meiner Unzulänglichkeiten. Womit ich ein weiteres Mal bei meiner Festgefahrenheit angelangt bin.

Aber es gibt auch einen Tweet von Hermann Dose: »Mit gezieltem 14 stündigen Schlaf ein System zum Einsturz bringen«. Ich muss immer lachen, wenn ich über diesen Satz nachdenke; er hat so viel Power und greift direkt die Weltordnung an, wie die schlingernde Schaukel. Vielleicht möchte ich einfach schlafen, andauernd und invasiv, um eines Tages in den Ruinen einer neuen Zeit aufzuwachen. Nein, das stimmt nicht. Ich möchte mich nicht im Schlaf selbst auslöschen. Aus dem gleichen Grund, aus dem ich mir keine Existenz vorstellen möchte, die kategorisch anders ist. Ich will mich der Gegenwart nicht entziehen, auch nicht in Gedankenexperimenten; ich will mich der Gegenwart aussetzen und in ihr durchlässiger werden. Wenn ich aber darüber nachdenke, was ich werden will, ausgehend von mir selbst, dann wäre es fair zuzugeben, dass ich psychokinetische Kräfte entwickeln möchte (in diesem Leben) und später als Kiefer wiederkommen (in einem weiteren Leben). Außerdem wäre es richtig zu sagen, dass ich gerne in einer ganz nahen, aber komplett anderen Zeit leben würde – einer Zeit, ausgelöst von unzähligen schlingernden Schaukeln –, um immer noch ich selbst zu sein, aber vielleicht in einem tieferen Einklang mit meinen Sehnsüchten. Ich frage mich, ob ich in den Jahren zu realistisch geworden bin oder zu feige. Oder ist es gut, nicht kategorisch anders sein zu wollen, ein Zeichen von Akzeptanz? Dann wäre die anschließende Überlegung vielleicht, inwieweit sich Akzeptanz und Verleugnung überlagern. Ich möchte mich nicht komplett überschreiben, sondern ich möchte meine Festgefahrenheit im Schreiben schrittweise auflösen, und damit meine Gebundenheit an meine Ängste.

Manchmal wünsche ich mir aber auch, mich in Tarkowskis Stalker zu befinden; in der letzten Szene, wenn Martiška, die Tochter des Stalkers, ihr Buch weglegt und nach einer Weile damit beginnt, durch ihre psychokinetischen Fähigkeiten mehrere Gläser über den Tisch zu bewegen. Genauso wie sie auf die Gläser schaut, würde ich gerne auf die Welt schauen können: ruhig, furchtlos, fähig, verbunden. Auch hier bricht eine Ordnung auf, beinahe unerkannt. Ich würde gerne neben ihr sitzen; sehen, was sie sieht, und spüren, was sie spürt. Ich würde ihre Erschöpfung erahnen, ausgelöst durch die innere Mühsal, die es bedeutet, die Welt zu verändern. Ich würde ihr erzählen, wie oft ich mich überwinden muss, um die Erschöpfung überhaupt anzuerkennen. Sie würde mir verständlich machen, dass es nie nachlassen wird, das Sich-überwinden-Müssen. Anschließend würde sie mich fragen, ob ich es auch mal ausprobieren wolle, das mit den Gläsern. Ich würde nicken, aber dann würde ich scheitern. Die Gläser würden sich von mir nicht bewegen lassen, obwohl ich voll konzentriert wäre. Aus einem unerklärlichen Grund würden wir beide zu lachen beginnen. Später würden wir rausgehen, vors Haus, und es würde schneien. Wir würden Wintermäntel tragen, Schals, Mützen und Handschuhe. Wir würden empfinden, was die Bäume empfinden, und ahnen, was die gefrorene Erde ahnt. Schweigend würden wir nebeneinanderher laufen, und ich würde trotzdem von ihr lernen. Es wäre still um uns herum; nur unsere Schritte würden sich mit dem Schnee verreiben. In der aufkommenden Dämmerung würden wir am Waldrand ein Gestell erkennen, und Schaukeln. Wir würden uns auf die Schaukeln setzen und wippen, vor und zurück, immer kräftiger. Viel mehr würde gar nicht passieren, aber es wäre genug.

Dämmmaterial

»Wrestling«, sagte Alchemist Teaz in einem Instagram-Video vom 3. August 2016, »das ist pure Gewalt, unsichtbar choreografiert, alles ist bedacht und von vornherein durchgeplant. Alle zwischenmenschlichen Gefühle sind zugelassen, nichts wird ausgegrenzt. Wrestling spiegelt die Realität, das schwöre ich euch. Hass, Eifersucht, Mut, Stolz. Das ist so ungelogen und heftig daran.«

7. November 2017

Seit Monaten hatten sich die Unruhen und Ausschreitungen angekündigt, vor allem in Elektroluchs. Überall sonst, zum Beispiel bei mir in Nürnberg, war die Situation anhaltend angespannt, aber halbwegs unter einer labilen Kontrolle gewesen. Die Gegenwart war zu einflussreich, zu uneindeutig, ihre Streuung zu willkürlich, als dass die Wut und der Wille zum Widerstand wirkliche Ansatzpunkte hätten finden können. Aber überall implodierten nach und nach die Filter zwischen den Blasen, und das führte allmählich die Eskalation herbei.

Alchemist Teaz wurde 1995 als Bryan Shawn Carrow in Houston, Texas, geboren. Angeblich wuchs er zeitweise mit Travis Scott auf. Außerdem war er begabt im Kochen von Crack und ein talentierter Sportler. Seit März 2016 war er bei WWE Monday Night Raw unter Vertrag. Nebenbei, hieß es, promovierte er auf dem Gebiet der Zellbiologie an der University of Houston. Diese Forschungstätigkeit prägte, in kryptowissenschaftlicher Ausprägung, auch seinen Superstar-Charakter. Er trat in goldener Leggins und mit einem blauen Zaubermantel auf; er hatte Cornrows und Glitzer im Gesicht. Alchemist Teaz wurden telekinetische Kräfte zugeschrieben, durch die er als fast unbesiegbar galt. Seine Kontrahenten entzogen sich deshalb persönlichen Duellen und ersannen komplizierte Intrigen, um ihn bei den Fans zu diskreditieren. Wenngleich WWE grundsätzlich wie eine Soap funktioniert, wurden rund um Alchemist Teaz faszinierende Plots erzählt, die weniger auf körperliche Gewalt setzten als auf Suspense und Surrealismen. Die Geschichten wurden meistens über vorproduzierte Kurzfilme fortgeführt, die bei WWE Monday Night Raw eingespielt wurden; oftmals waren sie in einem unterirdischen Labor angesiedelt, das sich vermutlich in der Wüste Nevadas befand und in dem Alchemist Teaz verstörenden Experimenten in der Nachfolge von Cleve Backster nachging.

Scheinbar unabhängig von seinen Storylines rief Alchemist Teaz seine Fans fast täglich dazu auf, sich an den Aufständen zu beteiligen; er nutzte dazu seine Accounts auf Instagram und Twitter, die zusammen über 17,7 Millionen Follower haben. Immer wieder fiel das Stichwort real empowerment. Nachdem sich WWE offiziell von seinen Aussagen distanziert hatte, wurde Alchemist Teaz suspendiert. Das hinderte ihn allerdings nicht daran, backstage einen blutrünstigen Ansturm auf die Führungsriege von WWE zu starten: Immer wieder erklärte er, er habe eine Einladung des Chief Operating Officers erhalten, der Legende Triple H, um über die gesellschaftlichen Verwerfungen und den Stellenwert des Wrestlings zu sprechen. Das wurde angezweifelt. Stets wurde er von unterschiedlichen Zwischenhändlern Triple Hs dazu angehalten, noch einmal neu anzusetzen und es auf einem anderen Weg zu versuchen. Meistens wurde er vertröstet und wartete mehrere Stunden in irgendwelchen Trainingshallen. Zuweilen wurde er auch in Hinterhalte gelockt und verprügelt. Seine Fähigkeiten ermöglichten es ihm trotzdem, verschiedene Flüche in Triple Hs Träume zu telepathieren und den Chief Operating Officer mit einer fragwürdigen Voodoopraktik zu bekämpfen. Nachdem WWE bekannt gab, dass mehrere Superstars unter unerklärlichen Suizidkopfschmerzen leiden würden, wurde Alchemist Teaz durch eine richterliche Verfügung vorsichtshalber dazu verurteilt, Sicherheitsabstand zu den wechselnden Austragungsstätten von WWE Monday Night Raw zu halten.

Alchemist Teaz @alchemistteazy · 2. November 2017 gotta keep distance to raw. fuck these fake ass wwe bosses. it’s a controlled system

Alchemist Teaz @alchemistteazy · 2. November 2017 isn’t it cynical in these political times to treat me like k. surrounding the castle lol

Alchemist Teaz @alchemistteazy · 2. November 2017 ’bout to cook some up which means some special shit for these motherfuckers

Alchemist Teaz @alchemistteazy · 2. November 2017 don’t underestimate my influence real empowerment

Kurz darauf tauchte ein Video auf dem Youtube-Kanal von WWE auf: Alchemist Teaz sitzt an einem Mikroskop und fixiert scheinbar Elektroden an isolierten Zellkörpern. Neben dem Mikroskop stehen mehrere Laptops, auf einem davon läuft ein Interview mit Cleve Backster. Stromausfall. Als Alchemist Teaz aufsteht (seine Leggins hinterlässt einen schlierenden Abdruck in der Dunkelheit), sieht er sich von einer Spezialeinheit umringt. Sie tragen Nachtsichtgeräte und Schlagstöcke. Er wird sofort überwältigt. Mehrere vermummte Militärs prügeln auf ihn ein, während andere sein Labor verwüsten. Der Angriff dauert nicht lange. Plötzlich scheint der Kopf von Triple H als Hologramm im Raum zu leuchten, ein lachender Triple H, unangreifbar und überall. Dann springt der Strom wieder an. Das Sondereinsatzkommando ist bereits abgerückt. Mühsam erhebt sich Alchemist Teaz, er wankt umher, klemmt sich den Drachenbaum, der unversehrt vor einer flackernden Tageslichtlampe steht, unter den Arm und geht die metallene Treppe nach oben, mit verfickt schweren Schritten. Bevor er das Labor verlässt, tippt er einen Code in das Nummernfeld neben der Tür. Er geht in eine Tiefgarage und steigt in seinen gelben Lamborghini; den Drachenbaum stellt er auf den Beifahrersitz. Tränen fließen über sein Gesicht. Er rast über eine staubige Straße, die direkt durch die Wüste führt. Bald wird die Sonne untergehen. Im Rückspiegel sieht er, wie das Labor in die Luft fliegt. Dichter Qualm steigt in den tiefblauen Himmel. Aus dem Off hört man Cleve Backster sprechen: »Das Faszinierende ist: Damals haben wir zwar mit Pflanzen begonnen, aber heute interessieren uns eigentlich hauptsächlich die menschlichen Zellen. Wenn wir eine menschliche Zelle in ein Reagenzglas geben, können wir anhand dieser Zelle Reaktionen auf die Erlebnisse des Spenders messen. Das heißt, dass die Zelle auf den Spender eingestellt ist und telepathisch mit ihm verbunden bleibt, auch wenn beide über mehrere Kilometer voneinander getrennt sind. Wenn der Spender Angst verspürt, verspürt auch die Zelle Angst. Das begeistert mich völlig; meiner Ansicht nach lässt das alle möglichen Schlussfolgerungen zu.«

Danach verschwand Alchemist Teaz.

Alchemist Teaz @alchemistteazy · 6. November 2017 at least i could save backster’s dracaena

11. Dezember 2017

Ich erhielt im Messenger einen Clip, den mir Rainer aus Elektroluchs geschickt hatte. Er schrieb, ich müsse unbedingt für mich behalten, was ich gleich sehen werde. Rainer studierte Ethnologie und Filmwissenschaft. Momentan machte er ein Auslandssemester in Elektroluchs. Mittlerweile waren die Aufstände in vielen Städten in Straßenschlachten übergegangen. Ich saß gerade auf dem Sofa und streamte einen Sonderbericht zu den neuesten Entwicklungen. Ich stellte den Laptop leise und spielte den Clip ab: Er ist verpixelt und verwackelt und dauert 28 Sekunden. Palmen und Autos brennen, über den Straßen liegt Rauch, vom Meer zieht Nebel her, alles schimmert orange von den Flammen, es rauscht und übersteuert. Zwischen Hochhäusern fahren hochgerüstete Wasserwerfer vor. Feuerwehrleute stehen ratlos rum oder sprechen in Funkgeräte. Demonstranten errichten Barrikaden, Plünderer verlassen einen Supermarkt durch das eingeschlagene Schaufenster, maskierte Jugendliche schmeißen Plastikstühle auf die Polizisten. Alchemist Teaz, der am Straßenrand steht, hebt schreiend einen Pick-up an und hievt ihn quer über die Straße. Dann schmeißt er ihn um. Es sieht übernatürlich aus. Seine goldene Leggins invertiert beinahe die düstere und schwermütige Stimmung. Die Alarmanlage des Pick-ups tönt los. Nachdem ich mir den Clip ein paarmal angesehen hatte, legte ich Musik auf. Während die Sanguine-EP von DJ Heroin lief, schaute ich mir das Video wieder und wieder an. Dabei aß ich weiße Schokolade. Irgendwann setzte sich meine Freundin zu mir. Sie wollte eigentlich nur ein Stück abhaben, aber dann sahen wir gemeinsam dabei zu, wie Alchemist Teaz in Elektroluchs wütete. Im Hintergrund setzte der Laptop-Stream aus, während ein Polizist sein Maschinengewehr einhändig in den Himmel richtete. Immer wieder kippte der Pick-up zur Seite. Das Maschinengewehr bufferte. Seltsamerweise fühlte ich mich gelöst. Wir kriegten Lachkrämpfe. Über unserer Wohnung kreiste ein Helikopter.

12. Dezember 2017

Ich flog nach Elektroluchs. Rainer hatte Alchemist Teaz verfolgt und wusste, in welchem Hotel er wohnte; in einem abgeschiedenen Fünf-Sterne-Ressort direkt am Meer.

Beim Einchecken am Nürnberger Flughafen wurde ich ausdrücklich darauf hingewiesen, dass eine Reisewarnung für Elektroluchs rausgegeben worden war. Beim Landeanflug sah ich Rauchsäulen und brennende Häuser. Ich trank Cola aus einem durchsichtigen Plastikbecher. Die Klimaanlage kühlte und ich hatte Druck auf meinen Ohren. Ich war einer von vier Passagieren, die nach Elektroluchs flogen. Während das Flugzeug zum Gate rollte, machte der Pilot eine Durchsage: »Meine Damen und Herren, da draußen herrscht Ausnahmezustand. Wer sich auf den Straßen aufhält, läuft Gefahr, festgenommen zu werden. Nehmen Sie sich unbedingt Taxis. Regeln Sie, was Sie zu regeln haben, und fliegen Sie umgehend zurück. So mache ich das auch. Es ist ungewöhnlich schwül und es hat fast 20 Grad.«

In Rainers WG wurde ich von seiner Mitbewohnerin Lucy empfangen. Sie meinte, Rainer sei gerade unterwegs, würde aber gegen Abend wieder zurückkommen. Sie zeigte mir Rainers Zimmer. An den Wänden hingen Poster von Seth Rollins, Becky Lynch, Alchemist Teaz und Randy Orton. Ich drehte die Heizung auf, legte mich auf den Teppich und verfolgte auf meinem Phone eine Kundgebung im Stadtzentrum von Elektroluchs. Es gab einen Livestream. Eine Philosophin sprach darüber, dass wir alle verloren gehen würden, nur der Geruch von Rauch und die Flucht vor den Einsatzkräften würden uns mit der Wirklichkeit verbinden. Gerade ergebe sich die Chance, das ganze Dämmmaterial aus uns selbst zu entfernen. Es gehe wieder darum, Forderungen zu stellen, sagte die Philosophin, obwohl völlig unklar sei, wer sich dafür zuständig erklären würde, sie zu erfüllen. Dann sprach sie über real empowerment und fügte hinzu, dass der Widerstand nicht kleinzukriegen sei, weil er die Transmutation der Psyche fordere. Auch die unverhoffte Unterstützung von Alchemist Teaz hätte dazu beigetragen, dass die klaustrophobische Gegenwart um psychospirituelle Dimensionen erweitert worden wäre. Angeblich marodiere Alchemist Teaz gerade jetzt um die Blocks. Zumindest habe sie das gehört.

Alchemist Teaz @alchemistteazy · 11. Dezember 2017 it’s primary perception bitches

»Das ist alles nur ein Marketingschachzug«, sagte Lucy, die breitbeinig in der Tür stand. Sie trug eine schwarze Strumpfhose und ein Shirt. Sie lächelte mich an. »Willst du mitrauchen?«, fragte sie und hielt einen Joint hoch.

Wir setzten uns in die Küche. Eine graue Katze kam angelaufen und hüpfte auf meine Oberschenkel. Auf dem Tisch stand eine Lavalampe. Die Fenster waren mit Tüchern verhüllt. Auf dem Kühlschrank befand sich ein digitaler Bilderrahmen, in dem eine Slideshow lief; Urlaubsbilder, Schnappschüsse von unterwegs, Memes.

»Wie meinst du das?«, fragte ich.

»Hier ist Street Credibility zu holen, weißt du, das unterscheidet Elektroluchs von allen anderen Städten, weil das Setting ist die Realität, nichts ist geskriptet und nichts ist abgesichert, richtig roh, verstehst du?«

Die Katze schnurrte, ich kraulte ihren Kopf.

»Es werden Menschen sterben, bald schon«, sagte Lucy.

»Ja«, sagte ich, »niemand tut irgendwas.«

»Wenn du in Elektroluchs als Escort arbeitest, siehst du alles.«

»Arbeitest du als Escort?«, fragte ich.

Lucy schaute mich an, hob langsam die Augenbrauen und kicherte resigniert.

»Rainer arbeitet als Escort, wusstest du das nicht?«

»Nein«, sagte ich. »Ich habe ihn in Nürnberg mal auf einer Party kennengelernt und wir haben nur manchmal gechattet und uns wegen Wrestling ausgetauscht.«

»Dann kannst du dich freuen«, sagte sie.

Wir kochten Tee und sprachen noch eine Weile über Symptome (das Thema ihrer Doktorarbeit in Psychologie). Bevor ich mich zurückzog, passierten zwei Sachen: Zuerst schlief Lucy ein, mitten in einem Satz über ihre Mutter. Und dann fiel die Katze in Ohnmacht. Ich schätze, sie war high. Sie rollte einfach von meinen Knien. Der Aufprall weckte sie wieder. Ich hatte nicht schnell genug reagiert. Sie schaute mich an und gähnte. Ich trug sie aus der Küche und streichelte sie noch ein bisschen.

14. Dezember 2017

Rainer hatte Alchemist Teaz nicht zufällig gesehen; die beiden waren zusammen unterwegs gewesen, hatten sich einen Spaß daraus gemacht, während der Aufstände durch die Stadt zu wildern und Polizisten zusammenzuschlagen. Hauptsächlich hatte sich Alchemist Teaz ausgetobt, während Rainer mit seinem Phone gefilmt hatte. Sie würden einen Propagandafilm gegen die Gegenwart drehen, erzählte mir Rainer. Voraussetzung dafür sei, meinte er, dass Storyline und Realität ineinander kollabieren würden. Alles müsse für die Idiosynkrasie von Alchemist Teaz gehalten werden, alles müsse die Idiosynkrasie von Alchemist Teaz sein. »Aha«, sagte ich.

Sie hatten sich getroffen, weil Alchemist Teaz Rainer beim Escortservice gebucht hatte. Er hatte für einen Monat im Voraus bezahlt. Während ich auf einer Matratze lag, auf dem Boden von Rainers Zimmer, schliefen die beiden im Bett miteinander. Rainer schrie, während Alchemist Teaz in ihn eindrang und mich währenddessen angrinste. Dabei streckte er keuchend seine Zunge raus. Er sagte, ich solle masturbieren, das würde ihn anmachen. Er sagte, ich solle in sein Gesicht kommen. Aber ich tat nichts dergleichen. Mir war schlecht, weil der Geruch von Erdbeergleitgel im Zimmer hing.

»Mach schon«, schrie Rainer, »mach es einfach, bitte.«

Ich war mir nicht sicher, ob er mich meinte. Alchemist Teaz griff nach seinen Hoden und drückte zu. Ich sah, dass Rainer am kompletten Körper Gänsehaut bekam. Kopfschüttelnd verließ ich den Raum. Ich legte mich zu Lucy. Sie schaute gerade eine amerikanische Krimiserie. Räucherstäbchen brannten im Aschenbecher. Die Katze lag auf einem Sessel, in einem Haufen alter Klamotten. Irgendwann nahm Lucy meine Hand und sagte: »So wird es jetzt für immer bleiben.«

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