Read the book: «Drei sind keiner zu viel»

Font:

Jörn Holtz

Drei sind keiner zu viel

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Vorwort

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Epilog

Impressum neobooks

Vorwort


Wenn einem immer seine Liebsten abhandenkommen,

dann ist ein fester Partner einfach nicht genug,

um sich wirklich sicher und geborgen zu fühlen.

Ein Road-Trip zurück zu den Wurzeln des Miteinanders

und der wirklich befreiten Liebe.“

Prolog

Ende Januar 2008

Der Zusammenbruch

Alles im Leben hat seinen Preis, hatte Ole schon oft gehört oder gelesen, und heute schien wohl Zahltag zu sein. Denn alles was er sich teilweise maßlos, über Jahrzehnte hinweg abverlangt hatte, forderte nun einen weiteren Tribut von ihm.

Einen weiteren Tribut deshalb, da die körperliche und geistige Erschöpfung, die er gerade ebenfalls verspürte, zumeist seinem normalen Zustand entsprach. Dass sein Puls jedoch wie wild raste und sein Blutdruck jenseits von Gut und Böse war, war selbst für seine Verhältnisse nicht normal.

Daher war er am frühen Morgen statt zur Arbeit, besorgt zu seinem Hausarzt gefahren, um sich untersuchen und mal wieder krankschreiben zu lassen.

Nach einem kurzen, prüfenden Blick und Blutdruckmessen hat sein Hausarzt ihn auch problemlos für eine Woche krankgeschrieben. Zuvor jedoch hat er ihm unmissverständlich klargemacht, dass wenn er diese Auszeit nicht nutzt, indem er sie am besten in Bett verbringt, er Ole als nächstes ein eigenes Bett im Krankenhaus spendieren wird.

Also saß Ole nun auf seiner Couch im Wohnzimmer seines geerbten Elternhauses und zwang sich dazu, nichts zu tun. Dieses gelang ihm aber schon seit Jahren nicht mehr, denn irgendetwas machte er immer. So glitten auch jetzt seine Hände mechanisch über die Saiten einer Bassgitarre und übten irgendwelche Akkordfolgen. Dabei sah er zum Hoffenster hinaus in den Garten, während er versuchte an das zu denken, was ihn hierhergebracht hatte und nicht an das, was dort vor seinem Fenster noch alles zu erledigen war. Nur war beides gar nicht so einfach. Denn zum einen konnte er nur zu deutlich den Druck spüren, den das Blut in seinem Adern erzeugte und das von unten aus in seinem Kopf zu münden schien, wobei es seine Gedanken lähmte. Zum anderen war da dieser permanente Druck in seinem rechten Unterleib, der ihn nachts wachhielt und der ihn jetzt dazu zwang, seine Bassgitarre zur Seite zu legen, da die davon ausgehenden Schwingungen nicht mehr zu ertragen waren.

Wütend auf seine immer mehr außer Kontrolle geratenen Körperfunktionen stand er auf, wobei er das empfindliche Instrument schwungvoll in seinen Halter zurückstellte. Kurz erschrak er daraufhin, dann schleppte er sich mit unsicheren Schritten zu seinem Lieblingsplatz hinüber, ein bequemer Schaukelstuhl, der im Wintergarten stand, und ließ sich dort nieder.

Während er sich dort sitzend sanft hin und her wiegte, starrte er mit nun leerem Blick erneut aus dem Fenster und fragte sich nicht zum ersten Mal, warum all diese ignoranten Ärzte die Ursache für seine fortwährende Pein nicht fanden. Denn selbst der Proktologe und die anderen Spezialisten, die er in den letzten 2 Jahren aufgesucht hatte, hatten nichts Ungewöhnliches bei ihm entdecken können.

Dabei plagte ihn regelmäßig die Angst, dass es ihm ebenso ergehen würde, wie es dem größten Teil seiner Familie ergangen war. Und die Tatsache, dass dieser verdammte Fluch bis jetzt ausnahmslos nur weibliche Verwandte mütterlicherseits getroffen hatte, beruhigte ihn keineswegs.

Als dann auch noch das Bild seiner Ex-Freundin Marion in seinen Gedanken auftauchte und ihr vorwurfvolles Gesicht nicht mehr verschwinden wollte, entschloss er sich genervt aufzustehen, um sich eine Tasse Fencheltee zu machen.

Der neue Mitbewohner

Ole stand gerade etwas unsicher da, weil sein Kreislauf noch gefühlt im Schaukelstuhl saß, während sich sein Wintergarten um ihn herumbewegte, ohne dass er sich selbst bewegte. Da klopfte sein alter Schulfreund Peter an die gläserne Wintergartentür.

‚Man, der sieht ja noch schlechter aus als ich‘, stellte Ole auf den ersten Blick amüsiert fest, bevor er sich leicht schwankend auf den Weg zur Tür machte.

Peter, ein dunkelhaariger Bär, der mit seinen einhundertsechsundachtzig cm locker einhundertdreißig Kilo auf die Waage brachte, hatte sich währenddessen schon selbst rein gelassen und schaute ihn ebenfalls fragend an.

„Verdammt, siehst du Scheiße aus!“, begrüßte er Ole auf seine direkte Art.

„Danke altes Haus, du siehst aber auch nicht viel besser aus!“, lächelte Ole gequält zurück.

„Ja, da magst du wohl Recht haben!“, brummte Peter betrübt, während er sich die Schuhe auszog. „Man so ein Zufall, ich hatte eigentlich gar nicht damit gerechnet, dass du zu Hause bist. Doch als ich hier vorbeilief, sah ich, dass dein Camper im Carport steht. Du bist doch nicht schon wieder krank, oder?“

„Ämh doch, irgendwie schon!“, kratzte Ole sich verlegen am Kopf, da ihm das Thema Kranksein, ohne wirklichen Befund, immer unangenehm war. „Na ja, mein Blutdruck war heute Morgen bei zweihundert zu einhundertfünfzig und ich fühl mich noch immer so, als wäre ich volle Pulle gegen eine Wand gelaufen!“, sagte er schließlich, wobei er seinem Freund zur Begrüßung auf die Schulter klopfte. „Und du, wer hat dir den Tag versaut?“, sah er ihn dann fragend an.

„Ach, ich mir selbst! Anke hat mich eben rausgeschmissen, nachdem sie das mit Maya herausgefunden hat“, rang Peter sich ein falsches, schiefes Lächeln ab.

„Oh, das ist aber blöd!“, sah Ole seinen Freund zuerst überrascht an. Dann konnte er sich ein hämisches Grinsen nicht verkneifen. „Na ja, aber so ist es wohl, wenn man den Hals nicht voll bekommt! Apropos, möchtest du vielleicht etwas trinken, einen Kaffee oder etwas Stärkeres?“

„Hey, sag Mal!“, empörte Peter sich kurz, bevor er schulterzuckend hinzufügte: „Danke, aber Kaffee reicht erst einmal.“

„Und nun?“, sah Ole ihn kritisch an, nachdem er in der Küche den Kaffeevollautomaten eingeschaltet hatte.

„Ehrlich gesagt, weiß ich es gerade nicht“, zuckte Peter sichtlich ratlos mit den Schultern. „Oder wärst du vielleicht so nett, mir dein Gästezimmer unterzuvermieten?“, fügte er nach einer gewollten Pause vorsichtig hinzu, bevor er selbstbewusst: „Natürlich nur so lange bis ich was Neues habe“, anfügte.

„Oh, du meinst Marions altes Zimmer“, hielt Ole kurz überrascht inne, wobei sich sein Bauch einen Moment lang noch unangenehmer bemerkbar machte. „Häm, na okay, geht klar!“, sagte er dann jedoch, da er seinen ältesten Freund nicht hängen lassen wollte.

Kapitel 1


Der gelebte Albtraum

Als Ole erst den zweiten Tag wieder auf Arbeit war, rief ihn kurz nach der Mittagspause seine älteste Schwester Doro an. Kurz starrte er überrascht und ungläubig das Display seines Handys an. Denn dies war, abgesehen von der frühen Uhrzeit, schon sehr ungewöhnlich, weshalb er sich auch vorsichtig, sowie mit gespielter Überschwänglichkeit meldete: „Moin Schwesterherz, das ist ja schön, dass du mich mal anrufst!“

„Hallo Ole, nein eigentlich nicht!“, erklang ihre Stimme daraufhin schluchzend in der Ohrmuschel seines Handys. „Denn das was ich dir mitteilen möchte, ist alles andere als schön. Petra geht es seit gestern sehr schlecht, und zwar so schlecht, dass die Ärzte sie vorhin ins künstliche Koma versetzt haben, nachdem sie einen weiteren Schlaganfall hatte“, kam sie wie immer direkt und ohne weitere Formalitäten zur Sache, wenn auch dieses Mal etwas stockend. „Würdest du daher bitte umgehend ins Städtische kommen?“

„Äh ja, geht klar!“, starrte er verwirrt aus dem Fenster. „Doch sag mal, was ist denn bloß passiert?“

„Das wissen die Ärzte noch nicht. Aber es sieht gerade gar nicht gut für sie aus. Daher solltest du dich auch ein wenig beeilen. Vielleicht ergibt sich dann noch einmal die Möglichkeit, dass du mit ihr reden kannst.“

„Sicher, dass wäre toll!“, stammelte er daraufhin mechanisch, auch wenn er es seit Jahren vermieden hatte, mit seinen Schwestern zu sprechen. Dennoch ließ er alles stehen und liegen und raste über die Autobahn zurück nach Kiel.

Im Krankenhaus angekommen, fragte er sich bis zur Intensivstation durch. Dort angekommen, streifte er sich schnell einen weißblauen Kittel über, sowie jeweils hellblaue Papierhauben über die Haare und Schuhe, bevor er das sterile Krankenzimmer betrat, wo einer seiner schlimmsten Albträume ad-hoc Realität wurde. Zuerst meinte er noch, sich im Raum geirrt zu haben, denn die nackte Frau, die dort in der Shavasana Stellung rücklings auf einem metallenen Bett lag, war so immens aufgedunsen, dass er seine zweit älteste Schwester erst auf den zweiten Blick erkannte. Dabei stellte aber auch erschrocken fest, dass ihr Körper überall mit irgendwelchen Geräten verbunden war, wobei nur ihre Genitalien notdürftig mit jeweils einem Handtuch abgedeckt waren. Als sein Kopf diese Information entsetzt verarbeitet hatte, entdeckte er Doro. Sie saß derweilen in sich zusammengefallen am Kopfende des Bettes und hielt die Hand ihrer Schwester, wobei sie unaufhörlich: „Du bist nicht allein, hörst du. Wir sind bei dir!“, murmelte. Als sie Ole durch ihre verquollenen Augen wahrnahm, fügte sie: „Und Ole nun auch!“, hinzu.

Michael, Doros und Petras Halbbruder, war ebenfalls anwesend und hockte mit seiner Frau zusammengekauert am anderen Ende des Raumes auf zwei Stühlen. Freundlich nickte Ole zu ihnen hinüber, während er sich, von der skurrilen Umgebung und der vorherrschenden trüben Stimmung paralysiert, hinter Doro aufbaute und seine Hände auf ihren Rücken legte. Dabei wurde ihm wieder einmal bewusst, dass seine Schwestern eigentlich nur seine Halbschwestern waren, weil sie aus der ersten Ehe seiner Mutter stammten. Aber auf solche Feinheiten hatte er als Kind nie Wert gelegt, trotz allem was mittlerweile zwischen ihnen stand. Dann stimmte er in den mechanischen Sing-Sang von Doro mit ein, wobei sein Blick unruhig im Raum umherschweifte. Dabei verweilte er immer wieder kurz bei den Instrumenten, die die verschiedenen Körperfunktionen von Petra visualisierten. So bemerkte er mit der Zeit, wie ihr Blutdruck und ihre Herzfrequenz langsam sanken, bis ein lautes, durchgehendes Piepen, gefolgt von einer grell blinkenden, orangefarbenen Lampe am Fußende des Bettes, ihn aus dieser Litanei riss.

Ein gedrungener Arzt und eine hochgewachsene Krankenschwester erschienen daraufhin und machten sich ohne Umschweife an ein paar medizinischen Geräten zu schaffen, ohne die Anwesenden eines Blickes zu würdigen. Erst als sie damit fertig waren und eine vermeintliche Ruhe im Krankenzimmer zurückgekehrt war, wandte sich der Arzt mit besorgter Miene und räuspernd an Doro: „Ähm, ihre Schwester hatte gerade ein Nierenversagen und ehrlich gesagt,“, stutzte er kurz, während seine Hände rastlos ineinander rieben, „verstehe ich es immer noch nicht, was hier vor sich geht!“ Dann schwieg er eine Zeitlang nachdenklich, bevor er behutsam fortfuhr: „Denn ehrlich gesagt, bin ich mit meinem Latein gerade so ziemlich am Ende, was ihre Schwester betrifft. Ähm,“, räusperte er sich erneut, „wünschen sie dennoch, dass ich weitere lebensverlängernde Maßnahmen ergreife? Ich meine ja nur, in Anbetracht der beiden Schlaganfälle von heute Mittag. Denn diese sind bestimmt auch nicht spurlos an ihrer Schwester vorbeigegangen, auch wenn ich zurzeit noch nichts Näheres dazu sagen kann“, sah er sie ratlos, aber mitfühlend an.

„Was soll ich?“, schluchzte Doro ungläubig, nach einer Zeit des bedrückenden Schweigens, so als ob sie meinte sich verhört zu haben. „Nein,“, riss sie dann plötzlich entsetzt ihre Augen weit auf, als ihr die Bedeutung der Frage klar wurde, „das kann und will ich nicht allein entscheiden, dass müssen ihre Brüder mitentscheiden!“

Woraufhin Oles gesenkter Kopf erschrocken hochfuhr und er sie entsetzt anstarrte. Doch, ehe er protestieren konnte, ergriff Michael das Wort: „Okay, da wir gerade alle ganz ehrlich zueinander sind“, sah er kurz kopfschüttelnd und mit feuchten, roten Augen erst zu Petra und dann zu den ganzen Maschinen hinüber, die sie am Leben erhielten, bevor er stockend fortfuhr: „Auch ich verstehe nicht,“ stockte er erneut, wobei er hörbarmit seiner Fassung rang, „was hier gerade vor sich geht, wie auch! Jedoch glaube ich, dass es besser für sie ist, wenn sie nicht noch länger leiden muss!“, wobei seine Stimme immer brüchiger und leiser wurde, so dass man ihn am Ende kaum noch verstand. Trotzdem hallten seine Worte einen Moment in Oles Kopf nach, weil er wusste, was nun von ihm erwartet wurde. Doch erst als Doro zustimmend nickte, fand er den Mut: „Dem habe ich nichts hinzuzufügen!“, zu stammeln.

„Okay“, nickte der Arzt milde in Oles Richtung, bevor er langsam und nacheinander in alle Gesichter blickte und ruhig anfügte: „Na, dann wollen wir mal dafür sorgen, dass ihre Schwester schmerzfrei und friedlich von uns gehen kann!“ Daraufhin wandte er sich von ihnen ab und machte sich erneut an den Gerätschaften zu schaffen. Mit dem Satz: „So, nun wird es nicht mehr lange dauern und sie wird bestimmt keine Schmerzen haben“, schloss er seine Arbeiten ab und verließ das Zimmer.

Während Ole kurze Zeit später erneut in den Sing-Sang von Doro mit einstimmte, die den Text in: „Alles ist gut, du darfst gehen. Wir sind bei dir!“, geändert hatte, schweifte sein Blick erneut unruhig im Raum umher. Dabei kam ihm hier alles so surreal vor, dass er sich über sich selbst wunderte, weshalb er nicht schreiend davonlief. Doch aus irgendeinem Grund und trotzt der ganzen schrägen Ereignisse in der Vergangenheit, fühlte es sich für ihn richtig an, hier zu sein, weil er sich zugehörig fühlte. Ja er, der sich seit seiner frühesten Jugend nicht mehr zu irgendjemandem zugehörig fühlte, fühlte sich in diesem surrealen Moment wieder zu jemandem zugehörig, und zwar zu seinen Schwestern. Dabei fühlte es sich für einen kurzen Moment so wie früher an, bevor sie ihn von einem auf den anderen Tag und ohne einen ersichtlichen Grund verlassen hatten.

Während er diesem verloren geglaubten Gefühl nachhing, verstrich die Zeit um ihn herum wie in Zeitlupe. Wobei er sehr genau verfolgte wie der Puls und der Blutdruck seiner Schwester langsam, ganz langsam immer weiter sanken.

Als dann irgendwann keine Vitalfunktionen mehr angezeigt wurden, erschien die Krankenschwester erneut. „Mein herzliches Beileid!“, wandte sie sich kurz an alle Anwesenden. „Und ich möchte auch gar nicht weiter stören. Ich sorge nur mal kurz dafür, dass sie sich ungestört verabschieden können“, schaltete sie erst alle Geräte aus, bevor sie Petras Leichnam von der künstlichen Beatmung befreite. Dann breitete sie ein Laken über ihr aus, so dass Petra mit einem Mal so aussah, als ob sie schlief. Mit den Worten: „Der Arzt schaut gleich noch einmal vorbei“, verließ sie diskret den Raum wieder.

Wie versteinert und mit einem Mal innerlich leer, betrachtete Ole eine Zeitlang seine tote Schwester. Dann wanderte sein Blick abwechselnd zwischen ihr und dem mittlerweile dunklen Nachthimmel im Fenster hin und her. Und der, der bei der Frage: Warum Gott seine Mutter so früh zu sich genommen hatte, seinen Glauben an einen gütigen Gott und alles andere verloren hatte, sah nun zum Himmel hinauf, so als ob er der Seele seiner Schwester hinterher schauen konnte. Dabei stellte er sich vor, dass seine Mutter milde lächelnd auf ihn hinabsah, während sie die Seele seiner verstorbenen Schwester in Empfang nahm. So gelang es ihm, weiterhin allen Schmerz um sich herum auszublenden, während ein warmes Kribbeln an seinen Beinen hinunterlief. Erst das Erscheinen des Arztes holte ihn in die traurige Realität zurück.

Nachdenklich und mit vor dem Bauch gefalteten Händen sah der Arzt eine Weile schweigend auf Petra hinab, bevor auch er: „Mein herzliches Beileid!“, sagte. Dann erst sah er auf und blickte in die Runde: „Wie schon erwähnt, ist es mir immer noch ein echtes Rätsel, was hier gerade geschehen ist und ich weiß natürlich, dass der Zeitpunkt nicht gerade passend ist. Dennoch möchte ich fragen, ob wir nachschauen dürfen, wieso es so unglücklich gekommen ist. Denn damit könnten sie vielleicht zukünftigen Patienten helfen, die sich in der gleichen Situation befinden.“

Herztumor, und zwar ein ganz besonders fieser, da sich dieser im gesunden Gewebe versteckt gehalten hatte, war die Diagnose, die ihm Doro am darauffolgenden Montag telefonisch mitteilte. Da die Chance an dieser Krankheit zu erkranken, einen Sechser in Lotto gleichkam und weil man außerdem ein paar Tage zuvor eine Probe aus Petras Herzen entnommen hatte, hatte der Arzt und seine Kollegen diese Möglichkeit ausgeschlossen. Und so hatte die Seltenheit dieser Krankheit ihm die Schwester geraubt, die er kurz zuvor erst wieder wahrgenommen hatte.

Die Trauer und Wut, die er darüber empfand, raubten ihm ad-hoc das letzte bisschen Kraft, welches er sich bisher noch erhalten hatte. Außerdem sorgten die bizarren Bilder aus dem Krankenhaus, die immer wieder vor seinem geistigen Auge auftauchten, für eine weitere durchwachte Nacht. Weshalb er sich völlig übermüdet und mit Kopfschmerzen am nächsten Morgen erneut auf den Weg zu seinem Hausarzt machte, um sich für den Rest der Woche krankschreiben zu lassen.

Am frühen Nachmittag des darauffolgenden Freitages betrat Ole mit gemischten Gefühlen das Friedhofsgelände in Elmschenhagen. War es doch der Ort, den er seit 25 Jahren mied wie der Teufel das Weihwasser, weil neben den Rest seiner Verwandtschaft auch seine Mutter hier begraben war. Das heißt, die Reste ihrer Gebeine werden hier vielleicht noch irgendwo in der Erde ruhen. Denn sein Vater hatte vor 5 Jahren ihre Grabstelle gekündigt, so dass jetzt wohl ein anderer Grabstein ihre letzte Ruhestätte zierte.

Als Kind wollte er die Erinnerung an seine Mutter unverfälscht in seinen Herzen behalten, weshalb er sich weigerte ihr Grab zu besuchen. Doch dann waren seine Erinnerung an sie, zusammen mit dem Rest seiner Kindheit irgendwann in sein Unterbewusstsein abgerutscht und erst mit Petras Tod wieder etwas an die Oberfläche zurückgekommen.

Als er seine Verwandten begrüßte, die überraschend zahlreich zu Petras Beerdigung erschienen waren, schob er den Gedanken an seine Mutter zur Seite und ging dann in die kleine Kapelle hinein. Dort wählte er einen Platz weiter hinten aus. Zum einen mied er Doros direkte Gegenwart, die in der ersten Reihe lautstark und für jedermann sichtbar um ihre Schwester trauerte. Denn er konnte ihren Schmerz, selbst aus dieser Entfernung noch, körperlich spüren und dieser zerrte an seinen noch nicht wiedererlangten Kraftreserven. Zum anderen fand er, stand ihm ein Platz dort vorne auch nicht zu. Denn er hatte in den vergangenen 23 Jahren, von einigen zufälligen Begegnungen mal abgesehen, gar keinen Kontakt mehr zu Petra gehabt.

Deshalb wartete er in diesem selbst gewählten Exil gespannt darauf, wie sich die Beerdigungszeremonie entwickeln würde. So wurde er gleich zum Anfang von der Trauerrednerin angenehm überrascht. Denn sie fand großartige Worte für Petra und ihren Lebensweg, was ihm jedoch überaus komisch vorkam. Zuerst wollte er dies damit abtun, dass es wohl ihr Job ist. Wusste er doch von Hörensagen, dass ihr erworbenes Handicap ihr das Leben nicht einfach gemacht hatte und dass ihr das langfristige Glück bei den Männern auch verwehrt blieb. Nachdenklich verfolgte er daraufhin sehr genau jeden einzelnen Wortbeitrag und hörte so heraus, dass die Aussagen der Trauerrednerin nicht beschönigt waren. Weshalb er immer betrübter wurde, weil er sich mit einem Mal um die Zeit mit ihr betrogen fühlte.

Zum Ende des ersten Teils der Zeremonie dröhnte auf einmal, auf ihren Wunsch hin: Hells bells von AC/DC, durch die Kapelle, was ihn zuerst entsetzte. Doch während sich im Mittelgang der kleinen Kapelle eine Prozession formierte, an dessen Spitze die Urne seiner Schwester feierlich aus der Kapelle getragen wurde, musste er lächeln. Denn den Gedanken: Auf den Weg in die Gruft, noch einmal dem Mittelfinger zu zeigen; fand er gut. Als er dann eigentlich an der Reihe war, sich in die Prozession einzureihen, blieb er jedoch einfach sitzen und starrte stattdessen auf die vielen Kränze und Gestecke, die er nun barrierefrei betrachten konnte. Dabei haderte er erneut mit seinem Schicksal und den Absichten, die vielleicht irgendeine höhere Macht dabei verfolgte.

Deshalb verließ er die Kapelle erst, als der Rest der Trauergäste schon lange bei dem Urnenfeld angekommen war, welches Petras letzte Ruhestätte bilden sollte. Jedoch entschied er sich spontan dagegen, sich dazu zu stellen. Stattdessen streifte er planlos übers Friedhofsgelände, da er den ganzen neuen Eindrücken einen Raum geben musste. Außerdem hoffte er dabei die Energie seiner hier begrabenen Verwandtschaft zu erspüren, um eine neue Inspiration oder irgendetwas anderes zu erhaschen, was sich jedoch nicht ergab.

Erst als es schon dämmerte suchte er ihre frische Grabstätte auf, wo er sich in der Habach Haltung vor ihren Kränzen aufbaute und diese eine Zeitlang erneut anstarrte. Dabei versuchte er sich an ihre gemeinsame Kindheit zu erinnern, wobei ihm zum ersten Mal nachhaltig bewusstwurde, dass diese, wie viele andere Dinge auch, in den Schatten seines Unterbewusstseins gefallen war.